„Darf ich dir das Sie anbieten?“

Twitteratur wird von vielen argwöhnisch betrachtet, die nicht immer unberechtigte Kritik entzündet sich an sprachlichen Routinen, erwartbaren Pointen oder – jenseits des Humoristischen – häufig an einer zu offensichtlichen Rhetorik. Auf KUNO haben wir in 2014 versucht, dies mit dem Schwerpunkt Twitteratur ironisch aufzubrechen. Es entstand etwas ganz Eigenes. Nicht der Kontrast zwischen Alt und Neu, auch nicht das intellektuell vergleichbar simple Nachahmen, sondern ein dritter Weg. Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität – was für Roland Barthes Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in der von uns lancierten Kunstform der Twitteratur wieder. Verfremdung bedeutet, die Dinge nicht mehr in ihrer Evidenz darzustellen, sondern die dargestellten Zustände erst zu entdecken, indem man sie unterbricht und so ermöglicht, sich von ihnen zu distanzieren. Die Verfremdung, durch eine solche schockhafte, retardierende Unterbrechung, führt also zu einem Staunen, ob der entdeckten Zustände, das erst die kritische, nämlich nicht mehr in der allgemeinen Evidenz befangene, Stellungnahme des Publikums zu den Vorgängen, wie auch zur Art der Darstellung ermöglicht.

Kritik bedeutet unterscheiden, was sagen die Kritiker des Unterscheidungsvermögens?

Über die Bedeutung der Twitteratur wurde gerätselt: „Miniaturen? Anekdoten? Essays? Witze? Parabeln? Fabeln? Texte? Aphorismen oder gar Denksprüche, Apophthegmen? Gebete, vielleicht Weisheitsliteratur?“ Wir setzen uns davon ab, oft Gehörtes zu wiederholen, dies kann zwar für den Buchmarkt von Vorteil sein, denn Leser bevorzugen bekanntlich Texte, die ihnen noch mal schöner erzählen, was sie eh schon wissen. Deshalb hat auch das Lesen des Lieblingsfeuilletons eher etwas Rituelles, Gottesdienstartiges, als daß es einen auf neue Gedanken stößt. Umso verheissungsvoller ist es, wenn ein die Minutenessays „Darf ich dir das Sie anbieten?“, die kürzeste Prosaform erschliessen. Hier eine Leseprobe aus den Minutenessays von Katharina Hacker:

Mit Evidenz war es nie weit her.
Seit offenkundig unzuverlässig ist, was getreuliches Abbild zu sein schien, Foto- und Filmmaterial, ist es erst recht Zeit, sich auf Beschreibungen zu verlegen.


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Darf ich dir das Sie anbieten? Minutenessays von Katharina Hacker. 120 Seiten . Flexibler Leinenband, fadengeheftet.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur, sowie ein Recap des Hungertuchpreises.