Der Nähkasten

Die Spindel kannten wir nicht mehr, die das Dornröschen stach und es in hundertjährigen Schlaf versenkte. Aber wie Schneewittchens Mutter, die Königin, am Fenster saß, wenn es schneite, so hat auch unsere Mutter mit dem Nähzeug am Fenster gesessen, und nur darum fielen keine drei Tropfen Blut, weil sie einen Fingerhut bei der Arbeit trug. Dafür war dessen Kuppe selbst von blassem Rot, und kleine Vertiefungen wie Spuren früherer Stiche verzierten sie. Hielt man ihn aber gegens Licht, so glühte er am Ende seiner finsteren Höhlung, in der unser Zeigefinger so gut Bescheid wußte. Denn gern bemächtigten wir uns der kleinen Krone, die im Verborgenen uns bekrönen könnte. Wenn ich sie auf den Finger schob, begriff ich, wie meine Mutter für die Dienstmädchen hieß. Sie meinten »gnädige Frau«, verstümmelten jedoch das erste Wort, so schien mir lange, daß sie Näh-Frau sagten. Man hätte keinen Titel finden können, in welchem sich die Machtvollkommenheit der Mutter einleuchtender für mich bekundet hätte.

Wie alle echten Herrschersitze hatte auch der ihre am Nähtisch seinen Bannkreis. Und bisweilen bekam ich ihn zu spüren. Unbeweglich, mit angehaltenem Atem stand ich drin. Die Mutter aber hatte gerade eben entdeckt, es sei, eh ich sie auf Besuch oder zu Einkäufen begleiten dürfe, an meinem Anzug etwas auszubessern. Und nun hielt sie den Ärmel meiner Matrosenbluse, in welchem ich den Arm schon stecken hatte, in der Hand, um den blauweißen Aufschlag festzunähen oder sie gab mit ein paar schnellen Stichen dem seidenen Schifferknoten seinen »Pli«. Ich aber stand dabei und kaute an dem schweißigen Gummibande meiner Mütze, das mir sauer schmeckte.

In solchen Augenblicken, da das Nähzeug am strengsten über mich gebot, begann Trotz und Empörung sich in mir zu melden. Nicht nur, weil diese Sorge für den Anzug, den ich doch schon am Körper hatte, die Geduld auf eine allzu harte Probe stellte, nein, mehr noch, weil, was mit mir vorgenommen wurde, nicht in dem mindesten Verhältnis stand zu dem vielfarbigen Aufgebot der Seiden, den feinen Nadeln und den Scheren in verschiedenen Größen, welche vor mir lagen. Zweifel beschlichen mich, ob dieser Kasten von Haus aus überhaupt zum Nähen sei – sie waren denen ähnlich, die mich jetzt manchmal auf offener Straße überfallen, wenn ich von weitem nicht entscheiden kann, ob ich vor Augen eine Konfiserie oder eine Friseurauslage habe. Und schwerlich hätte ich mich sehr gewundert, wenn bei den Spulen eine redende, die Spule Odradek, gelegen hätte, die ich fast vierzig Jahre später kennen lernte. Zwar nennt der Dichter diese redende und rätselhafte, welche auf den Treppen und in den Zimmerecken sich herumtreibt, »die Sorge des Hausvaters«. Das wird aber der Vorstand einer jener zweideutigen Familien sein, bei denen sich die Geschlechtsverhältnisse verkehren. Soviel zumindest spürte ich schon damals, daß die Zwirn- und Garnrollen mich mit verrufener Lockung peinigten. Und zwar war deren Sitz in ihrem Hohlraum, in dem früher die Achse kreiste, deren schnelle Drehung den Faden auf die Rolle wickelte. Nachher verschwand dies Loch auf beiden Seiten unter der Oblate, die meistens schwarz war und mit goldenem Aufdruck den Firmennamen und die Nummer trug. Zu groß war die Versuchung, meine Fingerspitzen gegen die Mitte der Oblate anzustemmen, zu innig die Befriedigung, wenn sie riß und ich das Loch darunter tastete.

Neben der oberen Region des Kastens, wo diese Rollen beieinanderlagen, die schwarzen Nadelbücher blinkten, und die Scheren jede in ihrer Lederscheide steckten, gab es den finstern Untergrund, den Wust, in dem der aufgelöste Knäuel regierte, Reste von Gummibändern, Haken, Ösen und Seidenfetzen beieinanderlagen. Auch Knöpfe waren unter diesem Ausschuß; manche von solcher Form, wie man sie nie an irgend einem Kleid gesehen hat. Ähnliche fand ich sehr viel später wieder: da waren es die Räder an dem Wagen des Donnergottes Thor, wie ihn ein kleiner Magister um die Mitte des Jahrhunderts in einem Schulbuch abgebildet hat. Soviele Jahre also brauchte es, bis sich mein Argwohn, dieser ganze Kasten sei anderem vorbestimmt als Näharbeiten, vor einem blassen Bildchen bestätigt hat.

Schneewittchens Mutter näht und draußen schneit es. Je stiller es im Land wird, desto mehr kommt dieses stillste Hausgeschäft zu Ehren. Je früher am Tag es dunkel wurde, desto öfter erbaten wir die Schere. Eine Stunde verbrachten nun auch wir mit unsern Augen der Nadel folgend, von der trag ein dicker, wollener Faden herunterhing. Denn ohne es zu sagen, hatte jedes sich seine Ausnähsachen vorgenommen – Pappteller, Tintenwischer, Futterale –, in die es nach der Zeichnung Blumen nähte. Und während das Papier mit leisem Knacken der Nadel ihre Bahn freimachte, gab ich hin und wieder der Versuchung nach, mich in das Netzwerk auf der Hinterseite zu vergaffen, das mit jedem Stich, mit dem ich vorn dem Ziele näherkam, verworrener wurde.

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Berliner Kindheit um neunzehnhundert ist eine Sammlung autobiografischer Skizzen. Die einzelnen Texte verbinden sich nicht zu einer zusammenhängenden Erzählung, sondern geben eher einzelne Bilder und Erinnerungs-Bruchstücke wieder, etwa das Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Teich oder den Nähkasten seiner Mutter. Dabei versucht Walter Benjamin, sich in die noch unwissende, staunende Haltung des Kindes zurückzuversetzen und dessen Weltsicht in kunstvollen sprachlichen Bildern und Vergleichen wiederzugeben.

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