Der Stil

Jürgen Diehl

Die Künstler in dieser Zeit sind nach innen gerichtet. Ihr Leben ist ein Kampf mit dem Irrsinn. Sie sind zerrissen, zerstückt, zerhackt, falls es ihnen nicht glückt, für einen Moment in ihrem Werke das Gleichgewicht, die Balance, die Notwendigkeit und Harmonie zu finden. Die Künstler in dieser Zeit schmücken nicht Jagdzimmer aus wie in der Renaissance. Sie erzählen nicht Märchen wie im Rokoko, es fehlt ihnen sogar der Anlaß zur Vergöttlichung, wie die Gotik und die frühe Renaissance ihn fanden. Die stärkste Verwandtschaft haben ihre Werke noch mit den Angstmasken der primitiven Urvölker, den Pest- und Schreckensmasken der Peruaner, Australier und Neger. Die Künstler in dieser Zeit sind der Welt gegenüber Asketen ihrer Geistigkeit. Sie führen ein tief verschollenes Dasein. Sie sind Vorläufer, Propheten einer neuen Zeit. Ihre Werke tönen in einer nur erst ihnen bekannten Sprache. Sie stehen im Gegensatz zur Gesellschaft wie die Ketzer des Mittelalters. Ihre Werke philosophieren, politisieren, prophezeien zugleich. Sie sind Vorläufer einer ganzen Epoche, einer neuen Gesamtkultur. Man versteht sie schwer und nur dann, wenn man die innere Basis ändert, wenn man bereit ist, zu brechen mit der Tradition eines Jahrtausends. Man versteht sie nicht, wenn man an Gott glaubt statt an das Chaos. Die Künstler in dieser Zeit wendensich gegen sich selbst und gegen die Kunst. Auch die letzte, bisher unerschüttertste Basis wird ihnen Problem. Wie können sie noch nützlich sein, oder versöhnlich, oder beschreibend oder entgegenkommend? Sie lösen sich ab von der Erscheinungswelt, in der sie nur Zufall, Unordnung, Disharmonie wahrnehmen. Sie verzichten freiwillig auf die Darstellung von Naturalien, die ihnen von allem Verzerrten das Verzerrteste scheinen. Sie suchen das Wesentliche, Geistige, noch nicht Profanierte, den Hintergrund der Erscheinungswelt, um dies, ihr neues Thema, in klaren, unmißverständlichen Formen, Flächen und Gewichten abzuwägen, zu ordnen, zu harmonisieren. Sie werden Schöpfer neuer Naturwesen, die kein Gleichnis haben in der bekannten Welt. Sie schaffen Bilder, die keine Naturnachahmung mehr sind, sondern eine Vermehrung der Natur um neue, bisher unbekannte Erscheinungsformen und Geheimnisse. Das ist der sieghafte Jubel dieser Künstler, Existenzen zu schaffen, die man Bilder nennt, die aber neben einer Rose, einem Menschen, einem Abendrot, einem Kristall gleichwertigen Bestand haben.

Das Geheimnis der Kubisten ist der Versuch, die Konvention der Leinwandfläche zu brechen, sie setzten auf die Leinwandfläche eine und mehrere imaginäre Flächen, die sie als Basis nahmen. Das ganze Geheimnis Kandinskys ist, daß er als der Erste und radikaler als die Kubisten alles Gegenständliche als unrein ablehnte und auf die wahre Form, den Klang der Dinge, ihre Essenz, ihre Wesenskurve zurückging. In Picasso, dem Faun, und in Kandinsky, dem Mönch, hat unsere Zeit ihre stärksten künstlerischen Nenner gefunden. Bei Picasso die Finsternis, das Grauen und die Qual der Zeit, ihre Askese, ihre infernalische Fratze, ihr tiefes Leiden, ihr Stöhnen und Grollen, ihre Hölle und namenlose Trauer, ihr Leichengesicht und den schwarzen Schmerz. Bei Kandinsky ihr Jubel, ihr Festtaumel, ihr Himmelssturm, ihre Erzengelfuge, ihre bunten Donquichoterien, ihre blauroten Marseillaisen, ihr Untergang gesegnet, ihr Aufschwung ein Cherubinenflug von gelb-blauen Fanfaren ins Unendliche gerufen.

 

 

 

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Im Mai 1915 emigrierte Hugo Ball gemeinsam mit Emmy Hennings in die Schweiz, wo er zunächst in Zürich wohnte. Er tingelte mit einem Varieté-Ensemble als Klavierspieler und Texter durch das Land. Schließlich kam er in Kontakt mit der Tanzschule von Rudolf von Laban, die als Treffpunkt der Dadaismusbewegung galt. Im Februar 1916 gründete er mit Hans Arp, Tristan Tzara und Marcel Janco in Zürich das Cabaret Voltaire, die als „Wiege des Dadaismus” bezeichnet wird.

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Lesen Sie auch einen Artikel über die Gründung des Cabaret Voltaire.