Die Hungerrolle

Jetzt, wo auch schon Ärzte am Hungertuch nagen, wird es Zeit, dass endlich ein paar Tipps gegeben werden, wie dieser Schmachtlappen zu einem genießbaren Mahl zubereitet werden kann. Für heutige Gaumen ist das muffige, staubtrockene Zeug ziemlich ungenießbar. Der Mensch des Mittelalters nagte noch völlig klaglos am Fastentuch. Er war schon zufrieden, wenn ein Pilger kurz vorher seine schweißnasse Stirn am Velum abgewischt hatte. Dankbar zutschte der Fastende das Salz aus dem Leinen. Als Delikatesse galt ein mit Eitempera bemaltes Laken; Salmonellen waren damals noch unbekannt.

Selbst italienische und französische Hungertücher müssen aus kulinarischer Sicht als ungenießbar gelten. Nicht mal in der Renaissance, einer Blütezeit der Kochkunst,  sind appetitliche Ausnahmen überliefert. Das Hungertuch, ob in Leinen oder Seide, ist ein Dreckslappen. Zumal die Tücher, die während der Passionszeit den Altar verhüllten, nie gewaschen wurden.

Allein von der Loire ist ein Rezept überliefert, das sich „Hungerrolle“ oder auch “falsches Hungertuch“ nennt. M. Poitevin, ein reicher Bankier und Schlossherr, der sich vor dem Fiskus armrechnen wollte, soll dieses Rezept kreiert haben. Poitevin muss einen künstlerisch begabten Koch gehabt haben. Denn die Hungerrolle war mit Miniaturmotiven des alten und des neuen Testaments bemalt. Doch entpuppte sich das Fastentuch beim Annagen als delikater Pfannkuchen, gefüllt mit einer Mischung aus Champignons, gewürfelter Hühnerleber und Hummerkrabben. Anstelle der Krabben wählte der arme Schlossherr auch gerne gedünsteten Schinken und Artischockenherzen. Heute heißt dieses Pharisäermahl Crepes Foureés Gratineés a´la Poitevan. Im französischen Bürgertum ist dieses Fastenrezept gerade vor der Osternacht sehr beliebt; mit der Verspeisung des Hungertuchs soll demonstriert werden, dass Christus wieder unverhüllt in göttlicher Herrlichkeit vor den Menschen steht.

Wenn Ihnen die Poitevan Füllung zu übertrieben erscheint, bestreuen sie die Crepe einfach mit Puderzucker. Oder sie bestreichen das Hungertuch mit Schmand und geben obendrauf einen Klecks Erdbeermarmelade Bonne Maman. Sollten Sie kein Süßer sein, fügen Sie dem Schmand einen Löffel Kaviar hinzu. Sie merken schon, auch wenn Sie das Gefühl haben, am Hungertuch zu nagen, müssen Sie nicht leben wie eine mittelalterliche Nonne. Zumal ja die blöde Idee dieses Fastenbrauches aus den Nonnenklöstern kam. Frauen nehmen ja eh alles viel zu genau. Und deshalb zum Hungertuch unsere Weinempfehlung: Ein Fläschchen Pouilly fume´. Den können Sie aus dem Pappbecher trinken, und trotzdem macht die Armut Spaß.

***

Leseprobe aus: Das vogelfreie Fliegen. Eine Auswahl von Jens Prüss. Edition Virgines, 2019.

Jens Prüss zählt zu den beachtenswertesten Publizisten des Rheinlands. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Leiter des Literaturbüros NW erweist er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich ist Der Kabarettist mit dem Löwensenf, Theaterautor, und ein stilsicherer Prosaist. Seine Sprache umfaßt ein breites stilistisches Spektrum und wirkt dabei besonders in Humor und Ironie stets überaus erfrischend und souverän, auch die Verbindung von rheinischen Schauplätzen mit einem universellem Gehalt ist vollauf gelungen. Das vogelfreie Fliegen ist eine sinnfällig zusammengestellte Auswahl, die ein guter Einstieg in das Werk dieses vielseitigen Autors ist. Zwischen 1991 und 2018 nimmt er uns gleichsam mit auf eine Zeitreise. Prüss beeindruckt in seiner Fabulierlust vor allem mit Texten, denen man die feine Feile anmerkt. Ihm gelingt mit dieser Compilation die überzeugende literarische Spiegelung einer Gesellschaft im Umbruch.

Matthias Hagedorn

Post navigation