Natascha Wodin ist die Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter und in Deutschland geboren. Ihre Mutter beging Selbstmord, als sie zehn Jahre alt war, über ihre Familie in der Ukraine weiß sie kaum etwas. Nun mit über siebzig Jahren beginnt sie über ihre Mutter zu recherchieren und gerät schnell in einen Strudel von verstörenden Informationen. Sie kann tatsächlich Familienangehörige aufspüren, von denen sie von einer weiteren Selbsttötung und von einem Mord erfährt. Nach diesem Schock, der im ersten Teil des Buches verarbeitet wird, bekommt Natascha Wodin weitere, zwar weniger spektakuläre, dafür aber tiefergehende Informationen zu ihrer Familie.
Durch die unermüdliche Hilfe Konstantins, dem Betreiber von Azov´s Greek, einer osteuropäischen Internetseite gelangt die Autorin u.a. an das Tagebuch ihrer Tante Lidia, der älteren Schwester ihrer Mutter. Auch wenn sich um diese Frau wieder erst einmal ein dunkles Geheimnis, in diesem Fall das eines möglichen Inzests rankt, sind die Aufzeichnungen der Tante aus ihrem Leben in Mariupol und deren Erinnerungen an die russische Revolution von unschätzbarem Wert. Die Autorin lernt ihre Großeltern und Urgroßeltern in diesem Manuskript kennen und sie erlebt die Machtübernahme durch die Sowjets und die Gräuel unter Stalin, die durch dieses Einzelschicksal ein besonderes Gesicht erhalten. Und so erfährt Natascha Wodin nicht nur, wo sie selbst herkommt, sie kann auch das Leben ihrer Mutter weitgehend nachvollziehen. Die ist in Mariupol in eine erbarmungslose Zeit hineingeboren, aus der es eigentlich kein Entrinnen für sie gibt.
… aber wenn die Schuld meiner Mutter bisher darin bestanden hatte, dass sie aus einer Familie von Volksfeinden, Kapitalisten und Konterrevolutionären stammte, so war sie jetzt darüber hinaus als Mitarbeiterin des Arbeitsamtes, als Rädchen in der deutschen Deportationsmaschinerie, zur aktiven, antisowjetischen Täterin geworden, zur Vaterlandsverräterin und Kollaborateurin. Straflager war das mindeste, was ihr drohte. Wäre sie den zurückkehrenden Sowjets in die Hände gefallen, hätte man sie vermutlich auf der Stelle erschossen.
Als einzige Kritik, nicht an der Autorin, sondern am Verlag ist anzumerken, dass die originalen schwarz-weißen Familienfotos im Buch so klein abgedruckt wurden, dass es manchmal schwer fällt, die einzelnen Personen darauf überhaupt zu erkennen.
Im vierten und letzten Teil geht es um die gemeinsame Zeit von Mutter und Tochter in Deutschland, erhält der Wahnsinn ein Gesicht, der dazu führt, dass sich die Mutter elf Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in der Regnitz ertränkt. Ob es die Tragik in ihrem Leben ist, die die Frau, die zum Schluss nicht einmal mehr spricht, in den Selbstmord treibt oder eine bereits vorprogrammierte familiäre Paranoia, wie der Vater der Autorin behauptet, lässt sich nicht klären, ist für die Handlung des Buches auch nicht entscheidend. Bei aller Dramatik, die in der traurigen Familiengeschichte immer wieder zu Tage tritt, geht es nicht darum voyeuristisch spektakuläre Ereignisse zu beschreiben, sondern es geht um Aussichtslosigkeit, um die Schrecken der Zwangsarbeit und die Menschen, die auch nach dem Ende des Kriegs nicht in ihre Heimat zurückkehren können.
Natascha Wodin ist mit ihrem Buch ein einfühlsames Zeitdokument gelungen, das nicht nach Wiedergutmachung lechzt. Es geht um die ungeschönte Geschichte, die letztendlich nicht nur zu ihrer Mutter, sondern auch zu ihr selbst führt. Mit entwaffnender Offenheit lernen wir die Autorin kennen, wofür ich ihr dankbar bin.
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