Magazintext

Sie legte das Morgenlicht auf ihre Lippen. Die Fensterflecken filterten keinen Tag. Nachrichten von einem verbrennenden Planeten, Schaumgeschichten aus dem schnarrenden Radiowürfel, Jahrmarktslektüre und Wahlgang in English Shoes, sang sie, Stadt groß in mehreren Einstellungen, Schnitte auf Schritte durch Straßen, Blick von oben nach unten und von unten nach oben, sagte sie über den Badewannenrand gebeugt und wusch sich das Haar. Ihr Erdbeerherz, in Großaufnahme und ausgeschnitten, klebte auf den Armaturen, über ihrem getauchten Kopf trockneten die Strümpfe, umschlungen an weißgestrichener Stange, zwei Vögelchen, Unglücksraben wie Boten und Wäsche an Ort und Stelle heimisch gemacht. Unter diesem Sichtpunkt und -strich, vielleicht auch Herzwinkel, trugen ihre Jahre kein Gesicht, der Zeitzucker im Alltagslauf und wieviel kostbares Mehl aus Gottes Mühlen verstreut, fragt sie boshaft, vierzig Schritte zurück, und schon wachsen die Entfernungen über sich selbst hinaus, wie die abgestandene Erinnerung an abgeblühte Tage, glücklich oder glücklos, ein Zufallsgenerator entscheidet, gib mir drei, gib mir fünf, wer zählt und rechnet, hat schon verloren.

In der Spielstadt, sagt sie, und ihre Füße wuchsen aus dem Badezimmerboden, gesprenkelt und kalt, Kinderschritte groß und laut, aus der aufgerissenen Limonadendose herausgesprungen, so ein Trippeln und Stampfen, ein anschwellender Chor kleiner Füße im Schuhgerüst, knöchelhoch und puppenfarben. Alles mähen sie nieder, alles kippen sie um, voll Freude und souverän. Das Aussetzen von Möglichkeit wie Pflanzenreihen im Erdbalken am Fensterbrett, vielleicht, sagte sie, aber einmal nicht gegossen, einmal vergessen, und alles dahin, der Tag verwelkt, verwirkt, lange schon vor Mittag, die Tagscheide, ein Auf und Ab, -wägen und -wiegeln, zu retten, was zu retten ist.

Sie fischte ihr Haar aus dem Ausguß, Wassertropfen spritzten an die Fliesenwand, immer noch trug sie keine Schatten auf, hell so hell ihr nasses Gesicht, im Handtuch weich geschlungen und geknotet. Draußen hing der Stadt der Morgen noch an den Fersen, Kette und Leine um den Hals gelegt. Gehen nach September oder Süden, das Wandern ist kein Verweilen, fliehe Schritt vor dem Fuß, sagte sie, Schritte stechen Muster in den Asphalt, fressen Spuren, glatt und verkehrt, messerscharf das Gehen über die Ränder und Kanten, im Kreis, zum Quadrat, Strecken und Straßen laufen davon, Schritte tragen Entfernungen von einem Ort zum anderen.

Dazwischen die Tage, die Wochen, die Jahre, die Kinofilme und Videoclips, die Betten und Badezimmer an angeeigneten Plätzen zum Zuhause gemacht, nur die Füße vor dem laufenden Auge bleiben gleich, brechen in jeden Morgen ein, Räuber und geraubte Braut zugleich. Sie zog die Strümpfe von der Wäschestange, Rock und Hemd an der langen Hand, Jahrmarktsgarderobe und -geschichten aus dem schnarrenden Radiowürfel zusam­mengelesen, das Haar noch feucht und eingelegt in glänzenden Aspik. Walking in English Shoes, sang sie, über das Binden der Bänder, knöchelfest, der Blick aus dem Fenster geworfen, die Perspektive von außen angefangen und über die Dächer davongetragen, klein so klein die Stadt, zertrampelt das Modell, tanze mit mir, mein Prinz, tanze, tanze auf bemaltem Fuß, in Schuhen aus Glas, der Rhythmus hat kein Blut, süße Venen aus Zuckergespinst, Scherben schneiden Schritte in weiches Fleisch, all die verlorenen Füße, sang sie, Zehen so rosig und zart die Glasur. Sie legte noch ein wenig mehr von dem Morgenlicht auf ihre Lippen, und im grellen Sonnenflackern zersprang ihr Gesicht.

 

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Leseprobe aus: FEUERFAHRT. WINTERSPIEL von Patricia Brooks. Edition Selene, 1996

Weiterführend

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.