Der Flügelschlag einer Möwe III

Am Nachmittag geht die Arbeit zügig voran. Milos Hände bedienen die Joysticks halb automatisch, halb im Rhythmus eines Songs, der im Radio gespielt wird. Er kennt den Song nicht, aber die nervöse, klare Frauenstimme funkelt wie Scherben aus Glas und Licht. Die Schaufel gräbt sich in das Erdreich, fasst einen Hub aus, schwenkt am Ende des Aus­legerarms zur Seite, öffnet sich und schüttelt die rotbraunen Erdklumpen und Steineinschlüsse auf den konisch anwach­senden Erdhaufen. Er führt den Auslegerarm zurück in die Ausgangsposition, senkt die Schaufel erneut, klappt sie auf, lädt Erde auf und hievt sie wieder hoch. Aus dem Augenwin­kel sieht er, wie Mahad dem Polier an die Schulter tippt und in die Grube zeigt. Stopp, stopp! Der Polier winkt mit den Armen, macht ihm Zeichen, dass er innehalten soll. Milo kann nicht erkennen, was los ist. Ernesto sieht zu den beiden hinüber und auch der kleine Rumäne macht ein neugieriges Gesicht und legt den Spaten beiseite. Milo hält den Ausleger­ arm an, öffnet die Kabinentür und steckt den Kopf hinaus. Der Polier macht mit der Hand eine Bewegung, als drehe er einen Schlüssel im Zündschloss um. Milo stellt den Motor ab und klettert aus der Kabine. Er sieht es, bevor der Polier es ihm zuruft. Einen dünnen grauen Stecken zwischen den Zähnen der Baggerschaufel.

»Du hast einen Knochen ausgegraben.«

»Und da unten sind noch welche«, fügt Mahad hinzu.

Aus dem Erdreich ragt ein weiterer zwanzig Zentimeter langer Knochen heraus.

»Ist das von einem Tier oder einem Menschen?«, fragt der kleine Rumäne.

»Ich hoffe, es ist von einem Tier«, erwidert der Polier grimmig.

Mahad steigt hinunter in die Grube, geht in die Hocke und wischt mit den Händen die Erde beiseite. Ein dritter grauer Knochen taucht auf, daneben liegen verstreut ein paar kleinere Stücke, die aussehen wie Steinchen oder Figuren aus einem unbekannten Brettspiel. »Das könnten die Knochen von einer Hand sein«, spekuliert er.

»Oder von den Pfoten eines Fuchses«, sagt Ernesto.

Der kleine Rumäne kramt sein Handy aus der Hosen­ tasche und macht Fotos. »Wie kommt ein Fuchs so tief unter die Erde?«, fragt er. Die Männer lachen.

»Vielleicht hat auch jemand seinen Hund beerdigt«, er­widert Mahad und gräbt weiter. Plötzlich streckt er ihnen einen verwitterten braunen Männerschuh entgegen. »Ruf die Polizei, Chef«, sagt er.

Der Polier schiebt den Schutzhelm ein Stück zurück und reibt sich die Stirn. »Das hat uns gerade noch gefehlt!«

Milo kann nicht sagen, wie es passiert, mit einem Mal überkommt es ihn, während er neben dem Bagger steht und Mahad zu ihnen heraufklettert und sich die Erdkrümel von den Händen klopft. Es sind nicht die Knochen dieser frem­den Leiche, die er da unten in der Grube sieht, es sind die Knochen seines Vaters, die irgendwo verscharrt liegen, in ei­nem Wald oder auf einem Feld, in einem Fluss, einem ano­nymen Grab, alleine so wie dieser Tote hier, oder zusammen mit hundert anderen. Es dreht ihm den Magen um und er spürt, wie die Übelkeit in ihm hochsteigt.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt Ernesto und reißt ihn aus seinen Gedanken.

»Ja.« Milo wischt sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich habe an den Krieg gedacht, damals in Jugoslawien, an die Gräber«, erwidert er.

Ernesto deutet mit einem Kopfnicken auf die Grube. »Der da ist aber nicht aus einem Krieg.«

»Nein, vermutlich nicht.«

»Was mit dem wohl passiert ist?«, fragt der kleine Rumä­ne.

»Nichts, was man sich wünscht«, sagt Ernesto.

»Hat man ihn umgebracht?«

»Na, was glaubst du wohl, weshalb man ihn hier vergraben hat?« Ernesto holt eine Zigarettenpackung aus der Jacken­tasche, steckt sich eine Zigarette in den Mund und zündet sie an. »Wir haben jedenfalls jetzt einmal Pause, bis die Polizei alles untersucht und die Knochen abtransportiert hat.«

»Können wir dann früher nach Hause gehen?«, fragt der kleine Rumäne hoffungsvoll, »in einer halben Stunde ist so­wieso Feierabend.«

»Rechne lieber damit, dass wir Überstunden machen«, er­widert Ernesto.

Die blauen Lichtkegel der Polizeiautos rotieren über der Baustelle. Der Polier kommt mit drei Männern in Zivil, ge­folgt von vier Polizisten in Uniform zu der Fundstelle. Die Polizisten vermessen die Baugrube, zwei der Männer in Zi­vil ziehen sich Schutzanzüge, Überschuhe und Handschuhe an. Die Männer von der Baustelle sehen ihnen dabei zu, wie sie die freigelegten Knochen fotografieren, untersuchen, ein­sammeln und beschriften. Sie graben weitere Knochen aus, finden einen zweiten Schuh und drei Knöpfe aus schwarzem Kunststoff.

Der Commissario, der die Mannschaft befragt, ist um die fünfzig, spricht mit leiser, rauchiger Stimme und gibt sich zuvorkommend. Ein junger Polizist macht Notizen. Wann haben sie mit der Arbeit begonnen, wann haben sie Pause gemacht, um wie viel Uhr haben sie den ersten Knochen gefunden, hatten sie davor schon einmal auf dieser Baustel­le Knochen gefunden, oder Dinge, die Knochen ähnlich sehen, haben sie altes Werkzeug ausgegraben, Messer oder sonstige Waffen, mit denen man einen Menschen töten konnte, erinnern sie sich an etwas, das ihnen aufgefallen ist?

Milo fragt sich, wozu all diese Fragen gut sind. Dieses Skelett lag bestimmt seit Ewigkeiten in der Erde, kein Stück Fleisch hängt mehr dran, was spielt es da für eine Rolle, um wie viel Uhr sie es gefunden haben. Wichtiger ist, ob man je herausfinden wird, wer dieser Mann war. Und wie­ der denkt er an seinen Vater und wieder spürt er dabei die hilflose Wut, in die er seine Trauer eingekapselt hat. »Meinst du, dass sie nach so langer Zeit den Mörder noch finden werden?«, raunt Milo Ernesto zu, der neben ihm steht und raucht.

»Scheiß drauf. Wen interessiert das denn noch?«

Der Commissario wirft einen irritierten Blick zu ihnen herüber.

»Nichts für ungut, Commissario«, ruft ihm Ernesto zu.

»Die Familie«, sagt Milo. »Ich wünschte, die Leiche mei­nes Vaters würde gefunden und wir könnten ihn anständigbe graben, und ich wünschte, die Mörder würden zur Re­chenschaft gezogen.«

»Und was hast du davon?«

»Gerechtigkeit.«

»Die gibt es nicht.«

Milo zuckt mit den Schultern. »Ich weiß.«

Nichts würde den Mord an seinem Vater sühnen. Für Mord gibt es keine Gerechtigkeit. Trotzdem wäre es eine kleine Genugtuung, wenn die Täter und ihre Anführer von dem Kriegsgerichtstribunal verurteilt würden.

Ernesto lässt den Stummel seiner Zigarette auf den Bo­den fallen und tritt ihn mit dem Schuh aus. »Wem auch immer der hier im Weg gewesen ist, spielt jetzt auch keine Rolle mehr, außer, dass der Commissario beschäftigt ist und wir nicht schon seit zwei Stunden bequem daheim vor dem Fernseher sitzen.«

Milo spürt das Vibrieren seines Telefons in der Hosen­tasche. Er ist enttäuscht, als er sieht, dass es nicht Antonella ist. Er hat ein schlechtes Gewissen, er hätte ihr Bescheid ge­ben sollen, dass er sich verspätet. Die Nummer am Display kennt er nicht. Er hebt ab.

Die weibliche Stimme am anderen Ende ist fremd und freundlich. »Signore Beganovic?«

»Ja.«

»Ospedale di Cattinara. Sie sind der Ehemann von Signo­ra Antonella Beganovic?«

»Ja.«

»Ihre Frau wurde mit der Rettung bei uns eingeliefert.«

»Was ist mit meiner Frau? Geht es ihr gut?«

»Ihrer Frau geht es den Umständen entsprechend. Sie hat eine schwere Eklampsie.«

Angst erfasst sein Herz und drückt es so fest zusammen, dass er kaum Luft bekommt. »Was heißt das? Was hat sie?«

 »Das sind Krampfanfälle. Wir müssen sofort die Geburt einleiten.«

»Ich komme, so schnell ich kann.«

Er gibt Bescheid, dass er zu seiner Frau ins Krankenhaus muss, hört sich reden, ohne den Sinn seiner eigenen Worte zu verstehen. Er bemerkt nur die mitfühlenden Blicke des Poliers und des Commissarios.

Die Fahrt ins Krankenhaus kommt ihm ewig vor. Er macht sich Vorwürfe, dass er Antonella am Morgen nicht zum Arzt gebracht hat, es ist ihr da schon nicht gut gegan­gen. Und er verwünscht diese Leiche, derentwegen er nicht rechtzeitig zu Hause gewesen ist, um ihr beizustehen. Was ist das nur für ein Tag? Er zwingt sich durchzuatmen, ru­hig zu bleiben, sich vorzusagen, dass alles gut wird. Er wird gleich bei Antonella sein. Antonella wird nicht sterben. Das Kind wird nicht sterben. Sie werden zu dritt eine Familie sein.

Endlich erreicht er das Krankenhaus, stellt das Auto am erstbesten freien Platz ab, läuft hinein, weiß nicht, wonach er an der Rezeption fragen soll. Die Geburtsabteilung, die Notambulanz? Er nennt Antonellas Namen. Und wieder dauert es eine schiere Ewigkeit, bis man ihm sagt, auf wel­cher Station sie untergebracht ist. Ungeduldig beobachtet er im Lift, wie die Stockwerke, eines nach dem anderen, aufleuchten. Die Schwester auf der Station führt ihn in ein Extrazimmer.

»Wie geht es meiner Frau? Und dem Kind?«

***

Leseprobe aus: Der Flügelschlag einer Möwe, Roman von Patricia Brooks. Verlag Wortreich, 2017

Als Tati und Stefan auf der Maturareise in Italien eines Nachts Zeugen einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Männern werden, bei der einer der beiden getötet wird, nimmt ihr Leben – und das sämtlicher direkt oder indirekt daran Beteiligten – einen anderen Verlauf. Während Tati von bösen Träumen verfolgt wird, findet Willi das Fundament für seine Zukunft und die fünfzehnjährige Rosanna begibt sich auf die komplizierte Reise zu sich selbst. Noch 28 Jahre später, als ein Baggerführer bei Arbeiten auf einer Baustelle ein Skelett ausgräbt, streift auch ihn der Flügelschlag der Möwe.

Weiterführend

Wir verleihen Patricia Brooks für ihr erzählerisches Werk in 2016 den KUNO-Prosa-Preis, lesen Sie hier die Begründung. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.