Der Flügelschlag einer Möwe

 

Fünf Uhr dreißig. Milo tastet unter dem Kopfkissen nach dem Handy und bringt das nervöse Piepsen des Weckalarms zum Verstummen. Antonella seufzt im Halbschlaf. Er beugt sich zu ihr hinüber und küsst sie auf die Stirn. »Gut geschlafen?« fragt er.

Antonella schüttelt den Kopf.

»Es wird ja nicht mehr lange dauern«, sagt er aufmun­ternd.

»Ja, zum Glück.« Sie setzt sich auf und streicht sich über den Bauch, der rund und prall ist wie eine Wassermelone. Die geschwollenen graublauen Adern an ihren Händen schimmern durch die Haut. »Freust du dich drauf?«

»Klar.«

»Auch auf die Geburt?« Hinter der Frage liegt ein Lauern, das ihn auf der Hut sein lässt, er darf sich nicht in einem Wort, einem Ton vergreifen. Sie ist empfindlich in diesen Tagen.

»Sicher! Ich kann es gar nicht erwarten«, sagt er und meint es ernst.

Sie verzieht skeptisch den Mund, als glaube sie ihm kein Wort, aber sie scheint zufrieden mit der Antwort.

Milo geht ins Badezimmer und duscht. Eingehüllt in den Duft von Zitrone und Moschus seift er sich ein und spült den Schaum mit einem kräftigen Wasserstrahl ab, der ihn munter macht. Danach rasiert er sich vor dem Spiegel, zieht glatte Streifen, einen nach dem anderen, mit dem Rasierer in den weißen, cremigen Schnee, bis die vertrauten Konturen seines Gesichtes, das breite Kinn, die hohen Backenknochen, frisch und sauber wieder hervortreten. Er sieht gut aus und seinem Vater sehr ähnlich. Das sagt seine Mutter schon seit Jahren, und er hat es immer als Wunschvorstellung abgetan, aber seit Antonella und er das Kind erwarten, sieht er es auch. Oder er erlaubt sich, es zu sehen. Jetzt, da er selbst Va­ter wird, kommt sein Vater, an den zu denken all die Jahre zu schmerzhaft war, zu ihm zurück. Er erkennt in seinem Spie­gelbild den hochgewachsenen Mann mit dem dunklen Haar, der immer ordentlich gekleidet war, wieder. Ein Mann, der die Augen der Frauen auf sich gezogen hat, das ist Milo sogar als Kind aufgefallen, und es hat ihn mit Stolz erfüllt, weil er sich in dieser Bewunderung mit eingeschlossen fühlte.

Als er aus dem Bad kommt, findet er, Antonella sieht blass und müde aus. Sie stemmt die Hände in den Rücken und streckt das Kreuz durch. Er umschlingt ihre Hüften und legt das Ohr an ihren Bauch. »Ist es schon wach?«

»Nein, es schläft noch.«

»Es schläft die ganze Zeit. Das wird ein Faulsack.«

Antonella lacht und schiebt ihn sachte von sich. »Es hat doch keinen Platz mehr, sich viel zu bewegen.« Sie füllt Was­ser und Kaffeepulver in die silberne Schraubkanne und stellt sie auf den Herd. »Mädchen oder Junge«, fragt sie, »was glaubst du?« Es ist ein Ratespiel, sie haben sich bei den Ultra­ schalluntersuchungen nicht sagen lassen, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist, und sie freuen sich auf die Überraschung.

Milo nimmt das Brot aus dem Stoffsack, schneidet es auf und belegt es mit Käse und Tomatenscheiben. »Mädchen«, sagt er, »heute glaube ich ganz fest, es wird ein Mädchen.«

»Hmmm, ja, vielleicht.«

»Wir werden es ja bald erfahren.« Er schlichtet die Brote in eine milchiggrüne Plastikdose, legt auf jedes eine unbeleg­te Brotscheibe drauf und packt die Dose in seinen Rucksack.

Der Kaffee beginnt zu sprudeln. Antonella greift nach einem Geschirrtuch, um die heiße Kanne vom Herd zu nehmen. Milo entwindet ihr das Tuch. »Komm setz dich, ich mach das schon.«

»Du musst mich nicht wie ein rohes Ei behandeln«, sagt sie, »ich bin bloß schwanger.«

»Eben, also setz dich.« Er stellt Milch und Zucker auf den Küchentisch und schenkt den Kaffee in zwei Tassen. »Magst du etwas essen?«, fragt er.

Sie sieht unschlüssig drein. »Später. Mir ist ein bisschen flau im Magen.«

»Du solltest zum Arzt gehen.«

»Der kann mir da auch nicht helfen.«

»Wer sonst?«

Sie winkt ab und löffelt zwei Häubchen Zucker in den Kaffee. »Ich bin nur müde, weil ich schlecht schlafe. Das ist normal, in den letzten Wochen vor der Geburt fühlt man sich nicht mehr so fit. Das hat deine Schwester auch gesagt und sie hat immerhin schon zwei Kinder.«

Milo lacht und küsst sie frech aufs Ohr. »Ich glaube nicht, dass meine Schwester mit mir darüber gesprochen hat.«

»Du kannst das alles auch im Internet nachlesen«, sagt  Antonella. Das Internet ist ihre neutrale Schiedsgerichts­zone, in die sie pilgern, wenn sie unterschiedlicher Meinung sind, um herauszufinden, wer von ihnen recht hat.

»Ich glaub dir, mein Mädchen. Aber jetzt muss ich los.« Milo erhebt sich, stellt seine Kaffeetasse in die Spüle. Im Vorzimmer zieht er sich die Schuhe an und schlüpft in die Lederjacke.

Antonella ist ihm gefolgt. Sie schmiegt sich an ihn, und er spürt die Kugel ihres Bauches, der wie ein harter Fremdkör­per zwischen ihnen steckt.

»Ruh dich noch ein bisschen aus. Ich ruf dich in der Mit­tagspause an.«

***

Leseprobe aus: Der Flügelschlag einer Möwe, Roman von Patricia Brooks. Verlag Wortreich, 2017

Als Tati und Stefan auf der Maturareise in Italien eines Nachts Zeugen einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Männern werden, bei der einer der beiden getötet wird, nimmt ihr Leben – und das sämtlicher direkt oder indirekt daran Beteiligten – einen anderen Verlauf. Während Tati von bösen Träumen verfolgt wird, findet Willi das Fundament für seine Zukunft und die fünfzehnjährige Rosanna begibt sich auf die komplizierte Reise zu sich selbst. Noch 28 Jahre später, als ein Baggerführer bei Arbeiten auf einer Baustelle ein Skelett ausgräbt, streift auch ihn der Flügelschlag der Möwe.

Weiterführend

Wir verleihen Patricia Brooks für ihr erzählerisches Werk in 2017 den KUNO-Prosa-Preis, lesen Sie hier die Begründung. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.

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