Freiwillig gebe ich nicht auf

 

Die Temperatur treibt mich in den Mantel. Und Schuhe ziehe ich auch noch an. Es entfernen sich schleunigst die Perioden. Kopf oder Zahl, der Zufall hat kein Gedächtnis. Ein zufälliges Ereignis wird nicht wahrscheinlicher, je länger es zuvor nicht eingetreten ist. Ich balanciere auf spitzen Winkeln, als hätte ich nichts Besseres zu tun. Aber freiwillig gebe ich nicht auf. Ich lebe in Taylorpolynomen, in Annäherungswerten sozusagen, ein ständiger Versuch. Jede Lösung hat ihren Preis. Zufallserwartung oder Erkenntnis. Der Unterschied ist eine Formulierung.

Versäumte Gelegenheit und endlich heimgekehrt. Ich verwechsle die Schlüssel. Eine Zigarettenkippe steckt im Schloss. Kein Essen am Tisch, und die Küche ist leer. Stückchenweise ausgeträumt der Kühlschrank, und wer hat den Herd so abgedreht? Das ist eine Elendsarbeit. Schwester! Das Gewehr ist geladen. Es gibt nichts anderes. Ich schwöre, ich habe überall gesucht. Hinter den Kästen und in der Gemüselade. Nichts.

Nur fassungsloses Rot. Ein Steinchen im Schuh. Die Farbe hat sich vom Leder gelöst, an der Oberfläche und gestrichen voll. Wie soll man da handeln? Ich wünschte(,) der Sinn würde sich isolieren, endlich Ruhe geben, sobald er sich gefunden hat und nicht immer Bedingungen knüpfen. Es dauert so lange, bis man sich mit ihm arrangiert. Und was fängt man in der Zwischenzeit an? Da lungert man herum in überhitzten Wartesälen zwischen Zeitansagen und Verspätungen, das ist kein Ort, an dem (das sind keine Orte, an denen – oder nur: keine Orte, an denen) es sich gut leben lässt. Feucht und modrig riecht es nach nassen Jacken. Enge Welt gesichtet unter dem Horizont. Und der Getränkeautomat ist leer. Ungesund ist das Schöne, wenn man es vergisst. Tagsüber braucht es ein Kleid und nachts Kapitulationen. Ich weiß, wovon ich spreche. Der angeborene Leichtsinn, aufgeschnappt und Glück gehabt. Man muss sich nur daran erinnern. Mit geschlossenen Fingerspitzen. Mund zu und durch die Nase atmen. Diese Unschärfen. Ohne sie sind wir verloren.

 

 

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Reissalon, Erzählungen von Patricia Brooks, edition taschenspiel, 2016

Weiterführend

Wir verleihen Patricia Brooks für ihr erzählerisches Werk in 2017 den KUNO-Prosa-Preis, lesen Sie hier die Begründung. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.

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