Mieze Kurken die Erlebnisreiche

  1. Mieze Kurken ist Clownphobikerin.
  2. Mieze Kurken in der Selbstdarstellung: Mieze Kurken ist eine Vielzahl an Hygienevorschriften im Besonderen bei Kosmetika.
  3. Mieze Kurken hört auf dem linken Ohr schlechter als auf dem rechten.
  4. Mieze Kurken sieht auf beiden Augen gleich gut.
  5. Mieze Kurken schwört bei der Organisation auf Post-It-Zettel.
  6. Mieze Kurken hat eine starke Abneigung gegen Marschmusik.
  7. Letztes unspektakuläres Ereignis im Leben von Mieze Kurken: Mieze Kurken wurde zufällig und von ihr unbemerkt für einen schönen Fotoband fotografiert. Mieze Kurken wird dies nie erfahren, da sie sich weder für Fotobücher noch für Fotokunst interessiert.
  8. Mieze Kurken wünscht sich in Europa die Abschaffung von Messer und Gabel und die Einführung von Essstäbchen.
  9. Mieze Kurkens Hobby: in die Oper gehen.
  10. Mieze Kurken ist Mieze Kurken.

Mieze Kurken hat ihren wahren Kern nicht nur gesucht. Sie hat ihn auch noch gefunden. Darüber hinaus, hat sie ihn mehrfach umgepflanzt. Denn Mieze ist empfänglich für die Wahrheit und ihre Versionen. Seit vielen Jahren schon ist ihr Mieze auf der Spur. Auszumachen ist die Wahrheit im Grunde überall, man muss sich vorher lediglich anmelden, weiss Mieze, die über die Jahre eine regelmässige Kursgängerin geworden ist. Durch ein Abonnement eines zwielichtigen Magazins und durch das Studieren von Inseraten, welche vorwiegend in Bioläden ausgehängt sind, gelangt Mieze an faszinierende Kurse und interessierte Anhänger, die ihresgleichen suchen. Fast jedes Wochenende ist Mieze verbucht und auch in ihren Sommerferien fährt sie kaum noch ans Meer, sondern besucht Workshops in zumeist abgelegenen, Warmwasser entsagenden Holzhäusern in die Berge. Mieze ist eine Suchende und Findende, die wiederum alsbald erneut zu suchen aufbricht. Denn zu eindrucksvoll und schön sind jeweils die Erlebnisse, die immer dann ihren Höhepunkt haben, wenn ein Kurs zu Ende geht. Was für viele Frauen ein neues Paar Schuhe bedeutet, ist für Mieze das Erlebnis der Selbsterfahrung und der körperlich erlebbaren Erkenntnis. Mieze ist süchtig danach und ist immer wieder im inneren Dialog darüber, wie weit sie von der Erleuchtung entfernt ist und wann es endlich wieder so weit ist, dass sich Mieze einer Offenbarung hingeben darf. Es ist nicht so, dass Mieze nicht gelegentlich doch ins Schwarze trifft, im Gegenteil. Mieze bringt angesichts der zahlreichen Workshops sehr häufig Offenbarungserlebnisse in Erfahrung. Mieze ist nicht nur sehr rührsam und daher naiv empfänglich für das Neue, sie ist auch bestens vertraut mit den vier Elementen und steht seit geraumer Zeit in medialer Verbindung mit ihrem indischen Guru. Mieze wurde mehrmals wiedergeboren und hört sich daher am liebsten Geschichten über ihre Seelenwanderung von Usbekistan bis Honolulu an. Um sich unkompliziert einer tiefen Meditation hinzugeben, bedarf Mieze lediglich etwas Beistand und jemanden, der Miezes Kniekehlen mit Pfauenfedern kitzelt. Sehr geübt ist Mieze im farbenfrohen Malen ihres Stammbaums, von dem sie mehrere Dutzende Zeichnungen besitzt. Im magnetischen Schlaf vermag Mieze mit dem Göttlichen zu verschmelzen. Transzendente Bereiche lernte Mieze mehrfach und durch verschiedene Techniken kennen, sodass sie mittlerweile in der Lage ist, sich dank solidem Symbolikgrundwissen Eingeweihten gegenüber spirituell auszudrücken. Oft geschieht das ohne Worte und ohne Symbole und nennt sich offiziell die ‚höhere Schule der Kommunikation‘, weniger offiziell ‚unermüdlicher Wille zur Selbsttäuschung‘. Behende schlüpft Mieze des übrigen auch in Tierrollen und robbt entfesselt durch Schulungsräume, beziehungsweise durch leere Fabrikhallen (denn dort finden zahlreiche Kurse statt, wenn diese nicht in den Bergen sind). Ihr übermässiges Leckbedürfnis hat Mieze dadurch erklären lassen, dass sie einst eine Ziege war und dieses Karma noch nicht ganz abgetragen ist. Mieze hat in einigen Kursen gelernt auf Kommando in ungezähmtes Gelächter auszubrechen oder in einer anderen Dimension markerschütternd zu jaulen. Mieze ist zudem eine begnadete Trance-Tänzerin. Die ekstatische Mieze kann jedoch ebenso gekonnt in sich kehren oder als Sprachrohr für andere herhalten. Im inneren Kreis von Eingeweihten scheinen Miezes Selbsterfahrungen besonders angebracht. So werden geheimnisvolle Botschaften immer wieder auch später an der Bar bei ein paar Longdrinks entschlüsselt. Häufig wird die spiritistische Séance auch mal in der Hotellobby im Beisein des Meisters fortgeführt oder bestenfalls privat auf seinem Zimmer. Besonders aufregend findet Mieze Schulungen, wo die Irrationales bedürftigen Menschen auf Skeptiker treffen, die die Existenz von Paraphänomenen belächeln, doch gerade dank Grenzerfahrung und durch einen gruppentechnisch herbeigeführten Weinkrampf sowie durch gelenktes Channeling ihre Zweifel ablegen. Immer wieder ist Mieze in schulmedizinischer Behandlung, weil sich, bedingt durch die Urschrei-Therapie, einerseits Knötchen auf ihren Stimmlippen gebildet haben und andererseits, weil durch das übermässige Klangschalengongen Miezes Ohren rauschen, sodass die einen Ärzte vom klassischen Tinnitus sprechen, andere wiederum Wahrnehmungsstörungen und akustische Halluzinationen diagnostizieren.

„Erfahrung macht bedenklich.“ (Horaz)

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Besonderlinge, Galerie der Existenzen I, von Joanna Lisiak, Wolfbach Die Reihe 2012

Joanna Lisiaks „Besonderlinge“ sind, wie der Titel schon andeutet, bemerkenswerte Figuren mit besonderen Eigenschaften: Sie wünschen sich Spielplätze für Erwachsene, sammeln Senfgläser oder führen Statistiken über Brillenträger. So schräg die einzelnen Charaktere in der Landschaft stehen, so liebenswürdig sind sie auch. Und spätestens auf den zweiten Blick erkennt man, dass diese raffiniert porträtierten „Besonderlinge“, die Joanna Lisiak in ihre „Galerie der Existenzen“ aufgenommen hat, gar nicht so fremd, gar nicht so anders sind.

Weiterführend →

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verleiht der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.