Um Mitternacht

 

Um Mitternacht

Hab‘ ich gewacht

Und aufgeblickt zum Himmel;

Kein Stern vom Sterngewimmel

Hat mir gelacht

Um Mitternacht.

Um Mitternacht

Hab‘ ich gedacht

Hinaus in dunkle Schranken.

Es hat kein Lichtgedanken

Mir Trost gebracht

Um Mitternacht.

Um Mitternacht

Nahm ich in acht

Die Schläge meines Herzens;

Ein einz’ger Puls des Schmerzes

War angefacht

Um Mitternacht.

Um Mitternacht

Kämpft‘ ich die Schlacht,

O Menschheit, deiner Leiden;

Nicht konnt‘ ich sie entscheiden

Mit meiner Macht

Um Mitternacht.

Um Mitternacht

Hab‘ ich die Macht

In deine Hand gegeben!

Herr! Über Tod und Leben

Du hälst die Wacht

Um Mitternacht!

 

 

 

 

***

Friedrich Rückert, Stahlstich von seinem „lieben Freund und Kupferstecher“ Carl Barth nach einer Vorzeichnung aus dem Jahr 1843

Gustav Mahlers Vertonung der Rückert-Lieder gehört zu seinen persönlichsten und charakteristischsten Vokalwerken. Wie Mathias Hansen beschreibt, war die Aussage des Gedichts, der Welt abhandengekommen zu sein, für Mahler selbst zur bitter gefühlten Wirklichkeit geworden. Er habe die Verse als eigenes Bekenntnis verstanden und entsprechend vertont. Die innige Grundstimmung des Liedes wird aus einem einzigen Motiv heraus erzeugt. Die mit c – d – f – a beginnende Tonfolge wird im ersten Motiv des Adagiettos (c – d – e – e – f) leicht variiert: Der große Sekundschritt der ersten Violinen im zweiten Takt leitet dort über den sehnsüchtigen Vorhalt unmittelbar zum Grundton F der Tonika F-Dur. Dieser Kern kann als ein „Urmotiv“ in Mahlers Musik bezeichnet werden, verbindet einige seiner Werke über analoge Themen bis zu vollständigen Sätzen und färbt zudem den Tonfall der Musik unabhängig von weiteren Elementen des Klanges, Tempos oder der Dynamik

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.