Urtheil

Was mich anbetrifft, so wundere ich mich nie über etwas, und mein Urtheil hat mich mein Lebtag so oft betrogen, daß ich ihm nie traue, mag es nun richtig oder falsch sein: wenigstens vermeide ich Uebereilung, wo ruhige Ueberlegung noth thut. – Die Wahrheit verehre ich trotz Einem, und wenn sie abhanden gekommen ist und Jemand mich ruhig bei der Hand nehmen will, um nach ihr zu forschen, als nach einem Dinge, das wir beide verloren haben und das keiner von uns gut entbehren kann, so gehe ich mit ihm bis ans Ende der Welt. Aber allen Streit hasse ich, und darum will ich lieber (außer in religiösen und gesellschaftlichen Fragen) Alles zugeben, was mir nicht gar zu anstößig ist, ehe ich mich darauf einlasse. – Aber ersticken mag ich mich nicht lassen, – und Gestank ist mir im höchsten Grade zuwider. – Deshalb habe ich mir von Anfang an vorgenommen, meine Hand nicht dabei im Spiel haben zu wollen, weder so, noch so, wenn die Schaar der Märtyrer vermehrt, oder eine neue gebildet werden soll.

 

 

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Laut Friedrich Nietzsche war er Der freieste Schriftsteller. KUNO stellt diesen Meister der Abschweifung in die Ahnenreihe der Twitteratur. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist der Aphorismus in Form des Mikroblogging eine auflebende Form. Bestand die Modernität der lakonischen Notate bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Es ist Twitteratur. Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität – was für Roland Barthes Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in dieser Kunstform wieder.