Vom Altwerden

 

 

Bruchstücke

gesammelt unterwegs,

gestammelt,

weiterhin unterwegs,

wie alle in die selbe Richtung

 

(…)

 

Und dann kommt ein Gott namens Angst und krallt sich in dich rein, spuckt dir Müll ins Gesicht, vielleicht sind es ja die schönsten Exkremente des Universums, was wissen wir schon, ein Nirwana weit wie die See, Farbe egal, oder die Hängenden Gärten von wo du noch nie warst, und wir wissen auch nicht, wozu die Natur – werden, vergehn – undsoweiter, atmen atmen, eine klare einsame Luft zwischen dir und dem Spiegelbild morgens um acht beim Zähneputzen, mit dir zusammen wird die Natur praktisch nie untergehn so gesehn, dies alles liegt in der Natur der Natur, ein Königreich aus Dunkelheit.

Mein Nachbar Arne bleibt stehn im Treppenhaus, reißt Augen und Mund auf, breitet die Arme aus, Ah, ruft er, da kommt mein Traum, wieder so energiegeladen! Ich will lachen, weinen, er hat mich noch nie nackt erblickt, ungeschminkt, unter der Ultraschallsonde von Doktor W.. Herr Ebers von Berolina sagt: Da haben Sie ja auf der Seite geschlafen – die eingedrückten Streifen in meiner Wange, die bis abends halten werden, Meine Generation, denke ich, alle sind jetzt meine Generation, ich bin siebzehn, oder zwanzig, eventuell noch fündundzwanzig, dann hört es auf, und Herr Ebers kann nicht viel älter sein, selbst an meinem fünfzigsten Geburtstag war ich noch unsterblich, danach plötzlich nicht mehr.

Die Katastrophe, die nie mehr weg geht. Zartgliedrig, mit ihrem faulen Auge: meine Krankheit, die zum Tode führt. Wann genau ich sterben werde, läßt sich per durchschnittliche Überlebensrate darstellen, nein das heißt „Lebenserwartung“, manche fliegen weit darüber hinaus, andere werden unmittelbar neben mir zerknickt, mindestens 20% der europäischen Bevölkerung plagt DAS, die meisten wissen um ihr Schicksal, sprachlos. Bezeichnung der milden Verlaufsform oder des Frühstadiums: „Leben“, danach schon bedenklicher: „Altern“, Endstadium: „Altsein“, man sieht sich mit unausweichlichen Grausamkeiten konfrontiert, heißt plötzlich Fünfzig-plus, denkt, ach so, das ist was für Alte, faßt sich kurze Zeit später ungläubig an den eigenen Kopf.

Die Alten, das sind immer die anderen.

Mama mit sechsundsiebzig starr und aufgequollen im Pflegebett, kleine Löcher im Schweizer Käs, wie meine Schwester Bine das nennt und sich dabei an die Stirn tippt, dazu die Schwarze Substanz die ihr jemand Unsichtbares da oben drin einfach so auffrißt, und ein verirrter Herr aus einem der Nachbarzimmer kommt zu uns hereingestolpert, den findet Mama aber sehr sympathisch, schon zweimal hat er sich zu ihr verirrt, sie lächelt vielsagend trotz zerfressener Substantia Nigra, Na soll er dich doch öfter mal besuchen! ermuntern wir sie unisono, da winkt sie ab, Nee der ist mir doch viel zu alt!!

Mama mit ihrem schönen sturen Gesicht, sie nimmt Bine und mich mit ins Bad, Hallenbad, feines Hotel im Vorort, dessen Besitzer mit meinem Vater irgendein Privat-Abkommen hat dessentwegen wir so privat da schwimmen dürfen – beim Hineinbeißen in mein Käsebrot mit Tomaten sind wir plötzlich auferstanden: Mama, Bine und ich. Sitzen nach dem Schwimmen oben im feinen Hotel, bei Käsebrot mit Tomate, der Geschmack so süß so salzig frisch so besonders nur bei diesem besonderen Brot in diesem besonderen Hotel nach dem besonderen Bad, leise und artig kauen wir das Wunder, Mama sehr bemüht, eine feine Dame zu sein mit feinen Kindern, keine umwerfende Erinnerung, denke ich während ich kaue und das Wunder schmecke vierzig Jahre später, und gleichzeitig an meinen Tränen schlucke und mir alles zurück wünsche, alles wiederhaben will, diese blöde Kindheit voller Zukunft, die unbegrenzte, die immerwährende Hoffnung auf dieses „eines Tages“, Verheißungen auf ein „dann!“, Ewigkeit Unendlichkeit. Unsterblichkeit.

Das Dann ist lange da. Schon abgelaufen. Fast vorbei. Will aber immer Hoffnung haben, auf noch ein Dann und noch ein Dann, vergebliches Hämmern gegen die Wand, kein Durchkommen mehr, diesmal bin ich keine komische wirre Angst, sagt die Wand, sondern bloß dein Ende.

Kornfelder, die verdorrt sind, Moskitos und Wespen und eine schwarzblaue Libelle, der See zu dunkler Schlacke geronnen, ich kann nicht sagen, daß ich je glücklich war, war ich also unglücklich (was für eine Bilanz), doch ja, ich erinnere mich an Glück, großartige Momente, ich weiß es genau, der Sommer, in dem ich ohne anzuhalten riesige Fresken gemalt die schmerzenden Beine erst nachts gespürt, der Winter, in dem ich mein erstes Buch geschrieben mit vor Müdigkeit geschlossenen Augen oh der Hunger der mir aus dem Text entgegenschlug, ich wache in den heißen Nächten, in denen will ich verzweifeln, weil ich vergessen habe, wie das geht, dieses Glück, und vergesse irgendwann zu verzweifeln und schlafe darüber ein… Früher nannte ich mich frei, kann ich das noch ahnen, an manchen Gesten, Bewegungen, Blicken vielleicht oder einem Gefühl oder wenn ich den Kopf senke und dann hebe, tagelang herumlaufe, in die Ferne schaue stundenlang, aber wird man es mir glauben, kaum, das war, als ich ein Schmetterling war, jetzt bin ich eine Raupe. Umgekehrte Entwicklung. Oder Bitterling, grüngrau, in schmetternder Stille.

Ein Königreich aus Dunkelheit. Schon mein Vater, als er noch lebte, sagte, als ich erst fünfzehn war: So ein junges Mädchen und denkt immer an den Tod, was soll dir das bringen. Was hat es mir gebracht: aus dem Alptraum wurde nur ein wahrgewordener.

Stiche auf der Stirn. Alt, aus Brot gebacken, aus Leder gestückelt, gegerbt, darunter das Nervengeflecht reiner Tüll, vor mir die süß und muffig duftenden Felder, der Geruch ein Flüstern, längst kann ich ihm nicht mehr glauben, auf Augenhöhe mit dem Verfall. Tränenlos, tiefstumm, ich wünsche mir Tränen, sehe alles überscharf, wünsche mir den Vorhang aus Wasser und Salz, Atemflügel, aber Atemterror, weil mich plötzlich die Panik durchkreuzt. Mama. Neulich rief sie es aus, in meine Richtung: Mama! Die eigene Mutter, die nach ihrer Mama ruft, also doch, ja: es kommt alles zurück, nämlich daß man eine Mama braucht, Mama, in der Todesstunde (wenn die Soldaten nach ihr schrien), Leben Leben, und dann dieser Schrecken, zum Schluß kommt er, für jeden, er kommt, unausweichlich, was soll dir das bringen, die Wahrheit, und dann Mama oder Gott, Gott: immerwährende Mutter, schreien sich die Seele wund, die Hilflosen der Erde, also alle, ein jedermans Ende, Gott mein Gott, warum hast du mich verlassen.

Der Schleier aus Salz und Glas, der Schleier aus Wasser und, Da denke ich nicht dran, hat er gesagt, der berühmte Maler, neunzigjährig, gefragt nach seinen Gedanken zum nahgerückten Tod, da denk ich nicht dran. Malt täglich, zu seinem Schemel geführt, seine prächtigen Farbkompositionen, einfach immer weiter, sitzt mit seinem fünfundachtzigjährigen Freund auf der Chaisselongue und sie diskutieren Politik und lachen und alles sanft gedehnt, genüßliche Pausen, bedächtiges Sprechen, lento lento, alles ist gut so, haben alles zum Leben, jeder Tag, ein grenzenloses Jetzt. Ewigkeit.

Der Horizont voll duftender Wolken, knisternder Insekten, erfüllt mit den sehnsüchtigen Geistern aus Amerika, weil das ist Verheißungsland, mit Rauch vom vielen Nachdenken und dem Gekrümel aus allen Hosentaschen, weil es immer was zu verlieren gibt, damit man wieder Grund hat was zu finden zu gewinnen: Kinder am Bahndamm, verbotenerweise, heimlich, sitzen stundenlang in Geheimnissen, geheimnissvoller Ernst, und später wird dem Ernst die Haut abgezogen, Ernst des Lebens, aber die jungen Gesichter, hoffnungsvoll, melancholisch, zart, recken ihre Hälse, endlich volljährig, und später viel später ach, nur ein Hauch später festgekrallt an einer Flasche Schnaps im verfleckten Unterhemd auf dem Sofa, neben der keuchenden Frau, im letzten Leben Dozentin, im jetzigen Brustkrebs, Alzheimer. Punkt.

Mama, mit zerlöchertem Haupt, sagt über ihre frisch niedergekommene Ergotherapeutin, auf den wackelnden Löffel in ihrer Hand mit den wackelnden Blaubeeren blickend: Als sie das Baby gekriegt hat war es ja voller Blaubeeren!

Das ist auch was Schönes und wir lachen.

Und dann haben sie es mir gezeigt, sagt sie und zieht den Lippenstift mehrfach nach und malt sich mit dem Lippenstift auch die Nägel rot. Es sind viele Löcher, sagt sie, nicht sehr viele, nicht so auffällige, die Uhr kann ich doch, bei dem Test und überhaupt war der Test nicht gefällig und wieso wollen Sie überhaupt in die Röhre, fragt sie da und sieht mich groß an. Kleine Löcher im Schweizer Käs, redet sie weiter und echot Bines Lieblingsspruch, tippt mit dem Knöchel auf die CD mit den Fotos, Das kriegen wir schon hin Mama, sage ich eigentlich stumm, Das weiß ich längst, sagt sie, das ist eine ganze Weile her, ich würde sagen, gestern, das würde mir gut gefallen. Kannst Du mal bitte kurz halten? Sie reicht mir den Lippenstift wie ein Eis, das ich nicht fallenlassen darf, während sie erst ihre Fingernägel pustet, dann in die Luft pustet, eine unsichtbare Kerze auspustet, keine Miene verzieht.

Sitze mit Arne im neuen Café am See, der heute unter grünbraunen Schlieren und weißem Schaum begraben, Arne in dunkelgrüner Plastikjoppe, ein Wind beißt an uns herum, und reden über die Eltern, Meine Mutter, sage ich, kann jetzt nicht mehr laufen und keinen vernünftigen Satz mehr sprechen. Aber ich doch noch, oder? will ich hinzufügen und verschütte ein bißchen Kakao. Das erinnert mich an meinen Vater, sagt Arne, zum Schluß hat er im Rollstuhl gesessen und nur noch „muhmuh“ gesagt, wir durften nicht lachen, aber jedesmal reizte uns das wie verrückt zum Lachen, und wenn wir dann lachen mußten, weinten wir sofort. Arne und ich rühren in unseren Tassen, das feine Klingeln der Teelöffel am Porzellan, übertönt von Hundegebell, Kinderschreien, Gelächter, Autohupen, wir schauen beide gleichzeitig auf und hinaus in die Welt, ein alter Mann mit langem Bart setzt sich an den Nebentisch, packt aus seinem speckigen Rucksack Cellophanschnipsel aus und wieder ein und lächelt voller Geheimnis und er will, daß sein Lächeln auch weise und wissend aussehen soll. Wir sitzen im Wind, der unsere Worte fortreißt, und ist das ein Glück oder kein Glück, daß man nicht mehr sprechen kann wenn man doch sprechen wollte, aber in Wahrheit auch nicht wollte, vielleicht aber doch sollte, wo ja niemand weiß, was er tief im Herzen will und getroffen wird und sich nichts getraut, wegen der unbekannten Erwartungen, der Schicklichkeit, der dünnen Folie überm Schrei, das können wir nicht beurteilen, sollte man diese schwerwiegenden Täler in einem italienischen Café bei Hundegebell überhaupt betreten, oder sind sie überhaupt garnicht schwerwiegend, weil sie sind ja allerweltswiegend täglichkeitswiegend überallwiegend notwendigwiegend und himmelschreiend und schon überwältigt mich Stummheit, obwohl Arne sich gefreut hat im Treppenhaus und immer noch teelöffelklappernd neben mir sitzt und genauso neben mir der Alte mit dem Cellophan und ein zweitesmal überfährt mich die Einsamkeitswelle, aus Cellophan, und wo ist überhaupt das einstige Samaragd des Sees hingeschmolzen?

Schmerzen im Herz Schmerzen daß es beißt Schmerzen tief im Bauch aber auch, ja ich weiß, Kummer und Sorgen, selbst als ich zwanzig war so schlimmer Herzkummer so schlimmer Sorgenbauch, und jetzt mein brennender Bauch nämlich frißt sich in die Matratze rein und macht, daß die Matratze in Flammen steht.  Feuerbett. Der Schmerz er springt in die Sprungfedern, in die kleinen kurzen Beine des Bettes, sogar zieht er in die Fensterrahmen, in die Sukkulenten auf dem Fensterbrett, selbst in die Luft, da ist er am schlimmsten. Wächst über mich hinaus, Mysterium, verwandelt sich, zeigt sein wahres Gesicht, seine unfaßliche Dimension aus Gottheit und Sakrament und Liebe und Vernichtung und ist ein Diamant, ein Traum, eine Zelebration, ein Dogma, und der Körper löst sich hinein in die Gottheit Schmerz, der Körper ein uferloses Magma, und der Geist der Herrscher des Magma, und der wird zugleich vom Magma gefressen und gelöscht, und das Magma ist Anfang und Ende. Als wärs ein Trip, schlechtes Zeug. Oder besonders gutes.

Der erste Augenaufschlag nach einem bleiernen Schlaf. Ich blicke ins Ungefähre. Muß noch nicht. Garnichts muß. Sonnenlicht durch die Ritzen der grüngrauen Vorhänge, feine schlängelnde Lichter im duftigen Wind, der durch die halboffene Balkontür herein, unten auf der Straße das Echo morgendlicher Menschen, Handy-Klingeltöne, laute Zurufe, das Schlagen der Müllcontainer-Deckel, der Hausmeister und der andere, der alte Nachbar, der die Straße kehrt, ist seine persönliche Straße, das ksch ksch seines Besens, das hält ihn am Leben, zuverlässiges Ritual, an dem die Zeit abprallt, und dann meine Erinnerung, an mich selbst und die Finsternis, jetzt schwappt sie heran, wischt die goldenen Lichter aus, die über meiner Bettdecke ausgegossen, nimmt den Zurufen draußen die Unschuld eines trägen luftigen Morgens, beinah hätte er das sein sollen, dieser Morgen, für mich, zum Geschenk, dann schloß er müde seine Augen oder seine Geschenk-Schatulle ab, aus Scham, weil jetzt nur das restliche bißchen Dasein noch drin. Veränderte Zeiten veränderte Zellen, kann ich ein Geheimnis haben, mit mir selbst, ja, und muß mir nichts verraten, weil sonst zu viel Sorgen, okay.

Eines Tages werde ich so aussehen: Kalkweiß oder gelbstichig, mit blauroten, mit schwarzen Flecken am Körper, verschrumpelt, eingefallen, mit Geishaaren auf dem Kinn, schließlich weich, morastig, vermatscht, voller Erde, Schimmel, Würmer, Schnecken, stinkend, schließlich duftend, nach Waldboden, unkenntlich, aufgelöst in den Waldboden hinein. Duftige Erde geworden. Dreck.

Atmen atmen, die klare einsame Luft zwischen mir und dem Spiegelbild morgens um acht nein bitte kein Spiegelbild, nur Dusche, heiß, ganz heiß, unter der Dusche lautes Weinen, weil die Dusche so laut, rasend lautes Dröhnen, Plätschern, Rauschen, daß ich mich selbst nicht hören muß, naß sowieso (merkt man auch seine Tränen nicht), Vereinigung mit dem dröhnenden Wasser, Befreiung, dann kalt, eiskalt, Selbstüberwindung, bereit sein zum Kampf, ein Kristall sein, sich im feuchten Dampf unter dem Handtuch zusammensuchen, zusammenziehen, alles festkleben, am liebsten sich in bunte Tücher hüllen, Federn, Perlen, warum nicht Strümpfe mit Löchern, wilde Schuhe, ein Märchen, Prinzessin sein, Federketten um den Hals, Bänder im Haar, extra kurze Lederröcke mit Fransen dran, ein Wunder soll geschehen, Anti-Todes-Kleidung. Jetzt nicht wieder weinen, unbedingt Prinzessin sein wollen, Königin? jetzt gleich sofort, den Schüler kannst du so nicht empfangen, kriegt er einen Herzinfarkt, kriegen alle einen Schrecken und kommen nie mehr wieder, wollen nicht von einer Schreckschraube auf die Pfoten geguckt, wollen von einer zuverlässigen ernsten liebenswürdigen gediegenen Frau Doktor, die garkeine Frau Doktor, aber hat doch genug Ahnung, kann doch was, oder kann sie aber auch garnix, blättert immer nur in ihren Büchern rum in ihren Skizzen und stellt nicht mal Fragen, wird langsam wunderlich.

Der Schüler: Ob er denn wirklich ein guter Maler sei? Zupft an seinen Locken, zieht die Korkenzieher in die Länge, stellt sich hin und wirft ein paar Striche auf meine Wandtafel. Soll ich es so machen? Oder lieber so? Ist es so richtig? Es gibt kein Richtig, will ich sagen, mir fällt nicht ein, was ich mit ihm machen, was ich ihn fragen kann, verlassen Sie sich auf Ihr Gefühl, könnte ich sagen, oder: Arbeiten Sie an Ihrer Technik, ich bin stumm, Ich kann mich nicht aufraffen, sagt er da, Malen Sie, sage ich bloß, malen Sie doch. Ich kann das alles aber nicht, sagt er, Sie brauchen ein paar Arschtritte, will ich sagen, meine ich mich selbst, meine ich den Jungen, Ach ja wirklich? fragt er und hat meinen Vorschlag vernommen, Sie meinen Arschtritte. Das ist so ein Jargon, sage ich mit wegwerfender Handbewegung, lächele ihn an, bin müde. Manchmal, sagt er, sehe ich alte Leute, wissen Sie. Alte Männer, Frauen, ich seh ihren Arsch, und das sieht manchmal aus, als würden sie Windeln tragen, Pampers. Sowas gibts ja, Inkontinenz. Aber meistens sind das bloß die herunterhängenden Arschbacken. Eben keine Backen mehr, sondern Lappen. Das sieht dann nur so aus, als wären sie gewickelt. Das sind nur die puren alten Ärsche, das Alter eben. So was malen, ja. Ich nicke, ganz wenig, befühle die Hautfalten, die ich neulich unter meinem Kinn entdeckt habe, als sei mein kleines, unauffälliges Doppelkinn ausgeleiert, wie ein Ohrläppchen bei zu schwerem Ohrschmuckgehänge. Darf man das denn? fragt er, kindlich, als sei er mein kleiner Sohn. Man muß sogar, will ich sagen. Spüre eine Träne in meinem linken Auge.

Traumwandeln, die Straße runter. Erinnerung an die frischen Bündel Narzissen in einer roten Wanne wie schlafende hungernde Embryos, Frühjahr, man schmeißt die Bündel trocken da rein, kein Wasser, Riesenschnittlauch, die Blüten fest verkapselt, ich nahm zwei Sträuße. Sie knacken. Platzen. Wenn die Schnittlauchbündel, langsam, über die Tage hin, sich recken, ihr weiches gelbes Gefieder aus den schlanken Kapseln züngeln lassen, hell die Blütenflügel, spannen sich auf im Innern, unnachgiebig, gewaltig – und die Muschel, die sie fest umschloß, muß zerspringen, knack. Knack. Muß einfach zerspringen. Monate her. Jahre her.

Alles vergessen und eine vollkommen neue Welt entsteht, ein neues Leben wie ein Bonbon, das man sich in den Mund steckt, Farbe egal, man schaut nicht hin, schmeckt die Süße und läßt sich überraschen, Karamell, Erdbeer, gestern noch Essig im Mund, ausgetrockneter Mund, mein ganzes Leben habe ich an den Tod gedacht wie an einen irren Geliebten, der einem so nah kommt und einem den Hals umdreht im Liebeswahn, und ständig steht er hinter einem und nie weiß man, wie er aussieht in Wahrheit, aber da ist er, in jedem Ding, jedem Vorgang, in jedem Gedanken, und mitten im Körper, schon als ich ganz klein war, da schwang er sein Szepter und beherrschte mich fortan und ich fürchtete mich: jeden Moment kann es passieren, das Grauen ist immer zugegen, Auslöschung, und immerhin konnte ich mir dies eine sagen: du bist noch nicht alt, er ist eigentlich weit weg, ganz weit weg, er wird also nie kommen, nie, es wird ihn nicht geben, er ist immer nur in deiner Angst, bodenlos, jeden Tag, aber er wird nicht in der Wirklichkeit sein, bitte, Gott, mach, daß sich meine Angst nicht bewahrheitet. Mach, daß ich mich irre.

Mach, daß die Natur sich irrt!

Der Galerist kommt gelaufen, verbeugt sich zum Gruß, blättert rasch, läßt zwei Blätter fallen, schaut nach oben, ich folge seinem Blick, leere weiße Wand, Das ist nett, sagt er, letztes Jahrtausend, okay, sollten Sie bearbeiten, so, wie hier, das hier, sowas, wissen Sie, handmade das bringts jetzt grade nicht die Zwanzigjährigen bestimmen den Markt jetzt ist alles ganz anders ein andermal, sagt er nickend und verbeugt sich zum Abschied, Ich kann nichts versprechen, sagt er, kommen Sie mich mal wieder besuchen, sagt er und sieht wirklich so sanft und freundlich aus, daß es zum Weinen ist, geht rasch durchs postmoderne Flackern, flackert, löscht aus.

Ich weiß du sitzt öfter hier. Er setzt sich neben mich, wir sitzen unter einer dieser Kastanien die seit Jahren von einer bösartigen Mottenart zerfressen werden und deren Blätter wie verrostet an den Zweigen baumeln, im Wind letzte Wassertropfen herunterspuckend, und löffeln eine dieser modernen Suppen-to-go aus albernen Plastikwännchen. Scheiß drauf, sagt er. Aber du wolltest doch etwas, die kleine aufsässige Stimme in meinem Kopf, hast du nicht etwas gewollt? VORHER? während einige der Kastanienblätter zerknülltes braunes Packpapier lautlos auf den Boden taumeln. Vorher. Bevor ich ins Gras oder Grab undsoweiter. Stumm tauche ich den Plastiklöffel in die scharfen Linsen. Versuchst es halt wieder, sagt er. In meinem Alter? will ich rufen, löffele stumm. Ich hatte gedacht, sage ich plötzlich, das Leben könne nicht im Ernst zu Ende gehen. Das glauben alle, sagt er einfach. Naja, du! sage ich und will nicht mehr wissen, was ich rede. Was, ich? fragt er ruhig, jetzt sag nicht, was meine Mutter sagt. Was sagt die denn? Du bist ja noch jung und dieser ganze Mist. Das Leben, fährt er fort, während er munter seine Suppe löffelt, ist eine Zumutung, und zwar genau aufgrund dessen, daß es enden wird. Meine Hoffnung, sage ich leise, war immer gewesen, daß dieser brutale Schrecken der Ausdruck eines bloßen inneren Wahnsinns ist, der kuriert werden und morgen Gott sei Dank vorbei sein könnte – wie kann man es Menschen antun, daß man sie zwingt, in ihr allmähliches Verlöschen, in ihren Tod hineinzuleben? Ausnahmslos? Wer tut so was? Das Universum ist sadistisch! Stimmt, sagt er.

Feuer!

Alles vergessen. Verlieren. Neu machen. Ich bin bloß eine Ader, mäandere herum, mäandere. Dieser ganze Alltags-Anstrengungs-Wahn: vergeblich. Gott! Gott will ich lieben. (Den sadistischen Idioten?) Gott, das ist ja doch alles. Lach nicht. Oder meinetwegen lach doch.

Was ich jetzt machen soll mit dem Inhalt eines Schädels der nicht mehr zeitgemäß telegrafiert und stattdessen die Fäden verzieht der sich selbst nicht mehr heimleuchten kann und erst recht nicht wenn es draußen dunkel ist und regnet im Stich gelassene Synapsen und nun habe ich entschieden mich erstmal nicht drum zu kümmern und das alles hier trotzdem zu schaffen so gut ich kann keine bequeme Autofahrt aber man soll die Hoffnung ja nicht undsoweiter sonst kann man gleich vor dem Fernseher verrecken oder von der Brücke springen seine üblichen Schwimmübungen machen ersaufen das tut aber nicht viel weniger weh nur zwanzig Kilometer bis San Franziskus es wird ein verdammter Sommer werden einer von der Sorte genau der.

(…)

 

 ***

Dieser Text ist erschienen im neuen L. Der Literaturbote, Heft 112, Hrsg. Hessisches Literaturforum im Mousonturm, Frankfurt/M. April 2014