Suche nach der Übereinstimmung von Form und Inhalt

„endlich sprechen wir / fließend / miteinander“

Was der polnische Lyriker Leszek Szaruga beim ersten Treffen niederländischer, deutscher und polnischer Poeten im Jahr 2004 mit seiner zarten ironischen Anspielung auf den „wortfluss / der ungereimtheiten“ in einem Gedicht aufschrieb, war zu diesem Zeitpunkt Teil eines ambitionierten kulturpolitischen Projekts. Polen war gerade Mitgliedstaat der Europäischen Union geworden. Und nun galt es, das umzusetzen, wie die beiden Förderer des vorliegenden Übersetzungsbandes, Fritz Behrens und Ursula Sinnreich von der Kunststiftung Nordrheinwestfalen notierten, nämlich „zur Begrüßung des neuen Nachbarn ein grenzüberschreitendes künstlerisches Großereignis zur interregionalen und internationalen Begegnung von Kulturen und Sprachräumen zu inszenieren.“ (S.7)

Was damals bei der Begegnung von Künstlerinnen und Künstlern aus den drei Ländern die gemeinsame Schiffsreise auf Oder und Rhein war, das wurde 2011 mit dem bilateralen Kulturaustausch mit Polen in Breslau fortgesetzt. In diesen Austausch wurde die Niederlande einbezogen, wobei nicht nur das Gedicht als die „experimentierfreundlichste Form des sprachlichen Ausdrucks“ im Zentrum stand, sondern auch eine poetische Übersetzungswerkstatt, in der die in drei Sprachen vorliegenden Gedichtfassungen in das andere Idiom übertragen wurde. Beteiligt waren an diesem lobenswerten Unternehmen Julia Fiedorczuk, Dariusz Sośnicki und Adam Wiedemann aus Polen, Hélène Gelèns und René Huigen aus den Niederlanden, Esther Kinsky, Marion Poschmann und Norbert Scheuer aus Deutschland. Außerdem beteiligten sich bei ihrem ersten Treffen im September 2011 in Breslau drei Übersetzer und Dolmetscher (Ela Kalinowska, Jerzy Koch, Grzegorz Zygadło) zur Seite; und bei ihrem zweiten Treffen in Straelen (Mai 2013) am Niederrhein standen ihnen drei weitere, der jeweiligen Sprache kundige ÜbersetzerInnen Erik Lindner, Pauline de Bok, Gregor Seferens) zur Seite. Im Sommer 2013 wurden die Teilnehmer an dem Stiftungsprojekt zum Lyrikfestival „Dichters in de Prinsentuin“ nach Groningen eingeladen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Prosatexte zu einzelnen Gedichten, zu den Reisen in die Nachbarländer und ein Essay zur Funktion von Lyrikübersetzungen entstanden. Sie wurden gemeinsam mit den Gedichten in dem vorliegenden Band veröffentlicht.

Worin bestehen die Ergebnisse dieses Projekts, das im Laufe seiner Entstehung eine Eigendynamik angenommen hat?

In der vergleichenden Lesung und Bewertung  der vorliegenden Gedichte, in der aufmerksamen Lektüre des Essays von Esther Kinsky, die sich mit der Wechselbeziehung von Übersetzung und Poesie beschäftigt, oder vielleicht in Rene Huigens provokanten und traumverlorenen Beobachtungen polnischer Stadtlandschaften und über Dichter als Partisanen des Wortes? Beginnen wir mit den sieben Texten von Esther Kinsky, die Adam Wiedmann ins Polnische und Hélène Gelèns teilweise ins Niederländische übertragen hat. Diese Einschränkung verweist sicherlich auf die angesprochene Eigendynamik des Projekts, in dessen Verlauf da und dort eine Übersetzung nicht druckreif war. Weniger verständlich ist aber z.B. eine semantische Verschiebung in der polnischen  Übertragung des Gedichts „Jetzt“, in der ‚blau’ mit blady (dt.: bleich) übersetzt wird. Zu empfehlen ist in der deutschen Fassung von Kinsky auch der Begriff ‚Korbblütler’ statt der benutzten Bezeichnung ‚zinnien’. Denn weder dem Kind, wie im Text genannt, noch dem Erwachsenen dürfte diese Bezeichnung geläufig sein. Oder ist das „lyrische“ Kind in die botanische Botanik eingeweiht worden?

Unter Marion Poschmanns Gedichten überrascht der Titel „die Dame mit dem Hermelin“. Ein in der polnischen Museumsgeschichte bewanderter Leser denkt sofort an das berühmte gleichnamige Gemälde von Leonardo da Vinci. Es befand sich seit 1880 in der Sammlung des Krakauer Czartoryski-Museums, von wo es der Nazi-Bonze Frank bei der Okkupation Polens zunächst in seine Residenz als Generalgouverneur in Krakau schaffen ließ. Am Ende des Zweiten Weltkriegs fand es ein amerikanisches Kunstteam in einem bayerischen Landhaus und ließ es in das Krakauer Museum zurück transportieren. Marion Poschmann bezieht sich überraschenderweise nicht auf diese skandalöse Kunstraubgeschichte. Sie wählt eine andere, beinahe prosaische Figuration: in der Gestalt eines kleinen Wiesels, der sich im Schoß einer dicken Frau in einem polnischen (?) Urlauberzug befindet und mit einer Leine befestigt ist. Die vielschichtige sensible Beschreibung der Szenerie, die Akzentuierung der Kontraste und die genaue Beschreibung der Bewegungsabläufe des Frettchens (poln.: fretka, niederländisch: Frettchen) vermitteln lyrisch gesättigte Bilder, bis auf die letzte vierzeilige Strophe des Gedichts. Dort ist es eine Bildassoziation, die an „Die Dame mit dem Hermelin“ von Leonardo da Vinci: „ … wir sahen an seiner statt über / die Schulter der Dame auf Bahnreklame und Kopfstütze“ (vgl. S. 43) erinnert. Könnte da nicht die riesige Plakat-Version des Gemäldes mit dem Hermelin durch die visuelle Wahrnehmung eines kollektiven lyrischen Ichs (vgl. das in dem Text verwendete wir)  fliegen? Diese Gemälde-Reproduktion war vor allem zwischen 1995 und 2005 auch auf polnischen Bahnhöfen zu sehen! Schade, dass das Gedicht mit dem bloßen Verweis auf die Rätselhaftigkeit der Szenerie, mit einer Anspielung auf das unbändige und so seltene kleine Tier endet. Der polnische Nachdichter Dariusz Sośnicki oder die Lyrikerin hätte mit einer Fußnote diese Rezeptionsvariante andeuten können!

Auch Adam Wiedemanns „Durchsichtige Ikone“, Warschau, 7.12.2009, übersetzt von Esther Kinsky, bedient sich kraftvoller Bilder. Er spielt mit paradoxen Empfindungen, die zwischen der Innen- und der Außenwelt des Menschen ablaufen: „Der, / wer mich durchschaut, ist einen Moment lang ich. Wer sich umdreht, / hat Angst vor dem eigenen Herz.“ (Übersetzt von Esther Kinsky). So schließt er seine Überlegungen zur Unauslotbarkeit menschlicher Gefühlswelten!

Der aus dem nordholländischen Alkmaar stammende Romancier und Lyriker René Huigen philosophiert in seinem Poem „Brief aan de lezer“ (Brief an die Leser) über die Grenzen der intimen Ausdrucksformen in einem Brief, den Dichter benutzen können, um ihren Lesern in „aller Offenheit“ etwas mitzuteilen, was „Zwischen Sender Empfänger / Hoffen und Bangen“ hängen bleibt.

Solche Beispiele können nur winzige Ausschnitte aus der lyrischen Welt von jüngeren Gegenwartsautoren aus den drei mitteleuropäischen Ländern zeigen. Allerdings verdichten sie beim vergleichenden Studium aller in dem Band publizierten Texte einen Eindruck von einem seit mehr als zwanzig Jahren sich herauskristallisierenden Trend in der Lyrik. Die Unüberschaubarkeit der profanen und sakralen Empfindungen, die andauernde Suche nach einem Ausgleich zwischen Innen- und Außenwelten, die lakonische Resignation angesichts der Vielstimmigkeit von Werten. Und welche Auswirkungen haben diese poetisch verdichteten Aussagen in ihrer Übersetzung in fremde Sprachen? Esther Kinsky reflektiert in ihrem Essay „Übersetzung und Poesie“ über die Auswirkung eines geliebten Gedichts in einer anderen Sprache. „Trakl auf Englisch! Char auf Polnisch! Keats auf Deutsch! Das Gedicht ist unkenntlich geworden. Ein Fremdkörper.“ (S. 167) Im Vergleich zur Prosa, wo diese Entfremdung irgendwie abgebremst werden könne, müsse sich der Übersetzer in der Lyrik, so Kinsky, „mit der Entfernung und auch der Abweichung vom Original auf andere Weise abfinden … als bei der Übersetzung von Prosa. Er weiß, dass er anders in die Tiefe gehen muss, andere Schichten durchbrechen und andre Prioritäten setzen muss als bei den meisten Prosatexten.“ (S. 168) Ihre anschließenden Ratschläge verweisen auf ‚Sich-Einlassen auf die Andersnamigkeit der Welt’, ,Annäherung an die andere Sprachwelt’, ‚Erstellung eines Koordinatensystems für das fremde Gedicht, das es zu übersetzen gilt’, ‚Suche nach der Übereinstimmung von Form und Inhalt’. Solche, und manche andere Empfehlungen für das „Übersetzen“ in die andere Sprache sind allerdings nur Arbeitshypothesen, deren Ergebnisse immer wieder in Frage zu stellen sind. Deshalb bieten die vorliegenden mehrsprachigen Versionen der Gedichte auch den Ausgangspunkt für eingehende Betrachtungen und Bewertungen. Eine Bereicherung für die Wahrnehmung der benachbarten Sprache sind sie allemal. Der Vorteil der Dreisprachigkeit besteht zudem darin, dass beim Überkreuz-Vergleich der einzelnen Versionen da und dort auch eine Dynamisierung des kulturellen Verständnisses gegenüber dem Nachbarn zu beobachten ist. Der deutsch-polnische Übersetzungsvergleich erweist sich in dieser Hinsicht als besonders fruchtbar. Dort treffen  germanische auf westslawische Etymologien und lösen dadurch im kulturellen Diskurs unerwartete Effekte aus. Diese und andere Überlegungen sind im Rahmen von kurzen Besprechungen nicht weiter auszuführen. Umso wichtiger erscheint mir eine tiefer gehende Untersuchung der vorliegenden literarischen Übertragungen. Sie würden manche treffliche Versionen wie auch zahlreiche Ungereimtheiten zu Tage bringen. Der im Titel des Übersetzungsbandes anklingende Nominalismus dürfte dabei der Anlass für manche Anregungen und mehr noch, polemische Feststellungen sein!

 

 

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alles ist! alles ist! alles ist nur was es ist. Lyrik an Oder und Rhein. Ein Übersetzungsprojekt, Mit einem Essay von Esther Kinsky. Herausgegeben von der Kunststiftung NRW. Düsseldorf (Lilienfeld- Verlag) 2013