Das Erlebnis Gott

 

Unser erstes Erlebnis ist, bemerkenswerter Weise, ein Entschwund. Eben noch waren wir alles, unabgeteilt, war unabteilbar von uns irgendwelches Sein – da wurden wir ins Geborenwerden gedrängt, wurden zu einem Restteilchen davon, das fortan bestrebt sein muß, nicht in immer weitergehende Verkürzungen zu geraten, sich zu behaupten an der sich immer breiter vor ihm aufrichtenden Gegenwelt, in die es aus seiner Allfülle fiel wie in – zunächst beraubende – Leere.

So erlebt man zuerst gleichsam etwas schon Vergangenes, eine Abwehr des Gegenwärtigen; die erste »Erinnerung« – so würden wir es ein wenig später heißen – ist gleichzeitig ein Choc, eine Enttäuschung durch Verlust dessen, was nicht mehr ist, und ein Etwas von nachwirkendem Wissen, Gewißsein, daß es noch zu sein hätte.

Dies ist das Problem der Urkindheit. Es ist auch das aller Urmenschheit, daß sich in ihr eine All-eingeborenheit weiterbekundet neben den Erfahrungen des zunehmenden Bewußtwerdens: wie eine gewaltige Mär von unverlierbarer Teilhaberschaft an Allmacht. Und die frühe Menschheit wußte sich den Glauben daran dermaßen zuversichtlich zu erhalten, daß die gesamte Welt des Augenscheins menschlich zugänglicher Magie unterstellt erschien. Dauernd bewahrt das Menschentum etwas von diesem Unglauben an die Allgemeingültigkeit der Außenwelt, die einmal mit ihm ungeschieden Ein-und-dasselbige schien; dauernd überbrückt es den für sein Bewußtsein entstandenen Riß mit Hilfe der Phantasie, wenngleich diese das Modell ihrer göttlichen Korrekturen auch eben dieser mehr und mehr wahrgenommenen Außenwelt angleichen muß. Dies Darüber und Daneben, dies phantasierte Duplikat – berufen zu vertuschen, was sich mit dem Menschentum Fragwürdiges zugetragen hat – nannte der Mensch seine Religion.

Deshalb kann es auch einem heutigen oder gestrigen Kinde geschehen – falls es noch irgendwo ganz selbstverständlich umstellt ist von elterlicher Gläubigkeit, von »Für-wahrhaltungen« –, daß es das religiös Geglaubte ähnlich unwillkürlich einheimst wie die sachlichen Wahrnehmungen. Denn gerade seinen kleinsten Jahren, der kleinsten Unterscheidungsfähigkeit, eignet noch die Urfähigkeit, nichts für unmöglich und das Extremste für das Wahrscheinlichste zu halten; alle Superlative geben sich noch ein magisches Stelldichein im Menschen als natürlichste Voraussetzungen, bevor er sich an den Mittelmäßigkeiten und Unterschiedenheiten des Tatsächlichen gründlich genug gerieben hat.

Man denke nicht, einem religiös unbeeinflußten Kinde werde solche Vorzeit ganz erspart: die kindlichste Reaktion geschieht – infolge noch ungenügender Unterscheidungskraft und um so fragloserer Wunschkraft – immer zunächst aus dem Superlativischen heraus. Denn zu Beginn entschwindet unsere »All-eingeborenheit« unserm Urteil nicht ohne diese Hinterlassenschaft, die sich über die Gegenstände unserer ersten Anhänglichkeiten oder ersten Empörungen legt wie Verklärung oder wie Verzerrung ins Überdimensionale – wie ein noch restloses Allumfangen selber. Ja, man darf sagen: wo etwa zeitliche Umstände – beispielsweise die heutigen oder die von morgen – einem Kinde allzuviel davon und von den sich ganz unvermeidlich daran anschliessenden Enttäuschungen ersparen möchten, wo seine Nüchternheit allzufrüh kritisch einsetzen muß: da wäre eher zu fürchten, ob der natürliche Phantasietrieb, der unserer Verstandeswachheit so sehr lange vorangeht, sich nicht unnatürlich aufstauen könnte, um sich dermaleinst am nüchtern Realen in gespenstischen Übertreibungen zu rächen, und ob er nicht eben damit, unter solchem nachträglichen Drang, gerade die sachlichen Maßstäbe ausließe.

Wohl aber muß man hinzufügen: beim normalen Kinde weicht ein allzu »religiöses« Erzogensein von selbst vor zunehmender Kritik am Wahrgenommenen – ähnlich wie die ausschließliche Bevorzugung des Märchenglaubens vor dem brennenden Interesse an der Realität. Geschieht dies nicht, so wird meistens eine Entwicklungshemmung vorliegen, eine Unstimmigkeit zwischen dem, was dem Leben entgegentreibt, und dem, was zögert, sich mit dessen Bedingtheiten zu befreunden. –

Daß mit unserm Geborenwerden ein Riß – zwischen Welt und Welt – zwei Existenzarten fortan trennt, das läßt das Vorhandensein einer vermittelnden Instanz sehr begehrenswert werden. In meinem Fall mögen die überall einsetzenden Kleinkindkonflikte einen gewissen Zurückrutsch gezeitigt haben – aus bereits angepaßterer Urteilsweise in eine rein phantasierende, wobei sozusagen die Eltern und die elterlichen Standpunkte verlassen (fast verraten) wurden für ein totaleres Umfangen- und Aufgenommensein, für eins, worin man sowohl hingegeben war an noch größere Übermacht als auch in ihr teilhaftig jeder Selbstherrlichkeit, ja Allmächtigkeit.

Man stelle sich das etwa im Bilde vor: als habe man sich vom Elternschoß, von dem man auch manchmal niedergleiten muß, mitten auf den Gottesschoß gesetzt, wie auf den eines noch viel verwöhnendem, alles billigenden Großvaters, der so schenkfroh ist, als habe er alle Taschen voll und als würde man dadurch fast ebenso allmächtig wie er, wenn auch wohl nicht so »gut«; er bedeutet eigentlich: beide Eltern ineinandergestülpt: mütterliche Schoßwärme und väterliche Machtvollkommenheit. (Sie beide scheiden und unterscheiden, als Macht- und als Liebessphäre, ist schon ein gewaltiger Bruch im sozusagen wunschlos-vorweltlichen Wohlsein.)

Was aber bewirkt im Menschen überhaupt eine solche Fähigkeit, ein Phantasiertes für schlechthin Wirkliches zu nehmen? Doch nur die weiterwirkende Unfähigkeit, sich auf die Außenwelt, auf dieses Außerhalb Unser (groß geschrieben!), das wir gar nicht voraussetzen konnten, zu beschränken – als real voll anzuerkennen, was uns nicht mit-in-sich enthält.

Sicherlich wird dies ein Hauptgrund gewesen sein, warum mich die gänzliche Unsichtbarkeit dieser dritten Macht, der Übermacht auch noch über den Eltern, die letztlich ja doch auch nur durch diese alles empfingen, erstaunlich wenig störte. Es ergeht ja allen für-wahr-haltenden wachechten Gläubigen so. In meinem Fall kam noch ein Nebengrund hinzu: das war eine sonderbare Angelegenheit mit unsern Spiegeln. Wenn ich da hineinzuschauen hatte, dann verdutzte mich gewissermaßen, so deutlich zu erschauen, daß ich nur das war, was ich da sah: so abgegrenzt, eingeklaftert: so gezwungen, beim Übrigen, sogar Nächstliegenden einfach aufzuhören. Blickte ich nicht hinein, drängte sich mir dies nicht ganz so auf, doch irgendwie leugnete mein eignes Empfinden den Umstand, nicht in und mit Jeglichem vorhanden zu sein, sondern ohne Aufnahme darein, gleichsam daran obdachlos geworden. Es erscheint reichlich anormal, denn mir kommt vor, als wenn ich mich auch später noch zeitweise daran gestoßen hätte, wo längst das Spiegelbild eine interessierte Bezugnahme zum eignen Bilde ausdrückt. Jedenfalls aber haben solch frühe Vorstellungen dazu beigetragen, mir sowohl Allgegenwart wie Unsichtbarkeit des Lieben Gottes zu etwas absolut nicht Anstößigem werden zu lassen.

Freilich ist klar, inwiefern ein Gottesgebilde, aus so frühen Sensationen zusammengebastelt, nicht sehr lange vorhalten kann; weniger lange als verständiger, verständlicher bewerkstelligte – wie uns ja auch Großväter vor den lebensfähigem Eltern zu sterben pflegen.

An einer kleinen Erinnerung wird mir die Methode, womit ich Zweifel abgehalten haben mag, plausibel: In einem prachtvollen Knallbonbon, mir von meinem Vater anläßlich eines Hoffestes mitgebracht, mutmaßte ich goldene Kleider; als man mich jedoch belehrte, es enthielte nur Kleider aus dünnem Seidenpapier mit goldenen Rändchen – da ließ ich es ungeknallt. So blieben darin gewissermaßen dennoch goldene Kleider.

Auch die gottgroßväterlichen Geschenke bedurften keiner Sichtbarkeit für mich, gerade weil sie maßlos an Wert und Fülle und mir so absolut sicher waren und insbesondere bedingungslos sicher: nicht etwa, wie sonstige Geschenke, an Bravheit gebunden. Prangten doch sogar die auf Geburtstagstischen eigentlich nur da, weil man brav gewesen war oder es hoffentlich sein würde. Nun war ich häufig ein »schlimmes« Kind, mußte deshalb sogar peinliche Bekanntschaft mit einem Birkenreisig machen – was ich auch nie verfehlte, dem Lieben Gott ostentativ zu klagen. Er erwies sich hierin völlig meiner Meinung, ja er schien mir so zu ergrimmen, daß ich manchesmal, wenn ich just in edelmütiger Stimmung mich befand (was keineswegs oft der Fall war), ihm gut zuredete, die Anwendung dieses Birkenreisigs durch meine Eltern auf sich beruhen zu lassen.

Natürlich wird dieses Phantasietreiben es auch meiner täglichen Umgebung gegenüber nicht selten zu allerhand phantastischen Beigaben zu den Wirklichkeitsvorgängen gebracht haben, die man meistens wohl lächelnd überging. Bis eines Sommertages, als eine um ein wenig ältere kleine Verwandte und ich von unserm Spaziergang heimkamen und gefragt wurden: »Nun ihr Ausflügler, was habt ihr denn alles erlebt ?« – ich ungekürzt ein ganzes Drama von mir gab. Meine kleine Begleiterin, in ihrer kindlichen Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit aufgestört, starrte mich fassungslos an und warf lauten und schrecklichen Tones dazwischen: »Aber du lügst ja!«

Mir scheint, es wird wohl seitdem gewesen sein, daß ich mich bemühte, meine Aussagen genau zu machen – das hieß für mich aber: auch nicht das kleinste Stückchen hinzuzuschenken, obschon dieser erzwungene Geiz mich arg betrübte.

Dem Lieben Gott berichtete ich übrigens, nachts im Dunklen, nicht nur von mir: ihm erzählte ich – freigebig und unaufgefordert – ganze Geschichten. Mit diesen Geschichten hatte es eine eigene Bewandtnis. Sie erscheinen mir herausgeboren aus der Notwendigkeit, zum Gott auch noch die ganze Welt hinzuzufügen, die in aller Breite ja vorhanden war neben unserer insgeheimen, und von deren Wirklichkeit mich dieses Extraverhältnis sonst eher ablenkte, als daß es mich in ihr voll beheimatet hätte. Nicht zufällig also entnahm ich den Stoff der Geschichten wirklichen Begebenheiten oder Begegnungen mit Menschen, Tieren oder Gegenständen; fürs Märchenartige war ja durch den Gott-Zuhörer schon genügend gesorgt, es brauchte nicht betont zu werden; im Gegenteil handelte es sich einzig darum, sich von der Wirklichkeit, sozusagen exakt, zu überzeugen. Freilich konnte nichts erzählt werden, was der ebenso allwissende wie allmächtige Gott nicht bereits gewußt hätte; doch gerade dies verbürgte mir ja die unbezweifelbare Tatsächlichkeit des Erzählten, weshalb ich auch, nicht ohne Genugtuung, jedem Beginn das Wörtchen hinzufügte:

»wie Du weißt«.

Des jähen Endes, welches dies etwas bedenkliche Phantasieverhältnis fand, hab‘ ich mich erst ganz spät, bereits gegen ’s Alter, in seinen Einzelheiten wiedererinnert; es findet sich aufgezeichnet in einer kleinen Erzählung »Die Stunde ohne Gott«, die indessen entwertet ist durch den Umstand, daß das Kind darin in fremdes Milieu, in abweichende Verhältnisse hineingesetzt ist – vielleicht, weil ich zur Gestaltung des Intimsten daran noch immer einer geringen äußerlichen Distanz bedurfte. Das Tatsächliche war folgendes:

Ein Knecht, der winters aus unserm Landhaus in unsere Stadtwohnung frische Eier brachte, tat mir kund, daß vor dem Miniaturhäuschen, welches ich inmitten des Gartens ganz allein zu eigen besaß, einlaßbegehrend »ein Paar« gestanden habe, das von ihm jedoch abgewiesen worden sei. Als er das nächste Mal wiederkam, fragte ich sofort nach dem Paar, wohl weil es mich beunruhigte, daß es inzwischen gefroren und gehungert haben mußte; wohin mochte es sich gewendet haben? – Ja, entfernt habe es sich gar nicht, meldete er. – Also dann stehe es immer noch vor dem Häuschen ? – Nun, das doch auch nicht: es habe sich nämlich allmählich ganz verändert, immer dünner und kleiner sei es geworden: dermaßen heruntergekommen sei es, und endlich vollends zusammengesunken; denn als er eines Morgens vor dem Häuschen gefegt, da habe er nur noch die schwarzen Knöpfe vom weißen Mantel der Frau vorgefunden und vom ganzen Mann nur noch einen zerbeulten Hut, den Platz aber, wo das gelegen, noch bedeckt von beider vereisten Tränen.

Das Unbegreifliche an dieser Schauermär enthielt für mich nun seinen schärfsten Stachel nicht mehr im Mitleid mit den Beiden, sondern am Rätsel der Vergänglichkeit, Zerschmelzbarkeit von so fraglos Vorhandenem: als hielte irgend etwas die naheliegende Lösung als eine allzu harmlose von mir fern, während doch alles in mir in steigender Leidenschaft Antwort heischte. Wahrscheinlich noch in derselben Nacht focht ich dieses Antwortheischen mit dem Lieben Gott aus. Für gewöhnlich hatte er sich ja nicht damit zu befassen, er hatte bei mir sozusagen nur Ohr zu sein für das, was er selber bereits wußte. Auch diesmal mutete ich ihm nicht viel zu: seinem stummen Munde brauchten ja nur ein paar kurze Worte über die unsichtbaren Lippen zu gehen: »Herr und Frau Schnee.« Daß er sich dazu nicht verstand, bedeutete jedoch eine Katastrophe. Und es war nicht nur eine persönliche Katastrophe: sie riß den Vorhang auseinander vor einer unaussprechlichen Unheimlichkeit, die dahinter gelauert hatte. Denn nicht nur von mir hinweg entschwand ja der Gott, der auf den Vorhang draufgemalt gewesen war, sondern überhaupt – dem ganzen Universum entschwand er damit.

Wo uns Analoges an einem lebenden Menschenkinde zustößt, an dem wir uns etwa enttäuschten und umlernen mußten, von dem wir uns verlassen und preisgegeben fühlten, da bleibt die Möglichkeit, uns innerhalb der gleichen Realität irgendwann zurechtzufinden, den Augenfehler, womit wir sie ansahen, zu korrigieren. Etwas dergleichen geschieht jedem Menschen, jedem Kinde, später oder früher, ein Bruch geschieht zwischen Erwartetem und Vorgefundenem – ob ärger oder heilbarer, das erscheint in der Erfahrung als Gradesunterschied. Aber im Fall Gottes erscheint es als Wesensunterschied, zum Beispiel auch in der Tatsache, daß mit dem Schwinden der Gläubigkeit an Gott keineswegs die von ihm herrührende Glaubensfähigkeit als solche – die an irreale Mächte überhaupt – hinfällig wird. So entsinne ich mich eines Augenblicks während der bei uns üblichen Hausandachten, wo der Name des Teufels oder teuflischer Gewalten vorgelesen wurde und mich dies förmlich aus meiner Lethargie weckte: gab es den noch?!, war am Ende er es, der mich vom Gottesschoß hatte fallen lassen, auf dem ich es mir so hold-bequem gemacht ?! Und wenn er es gewesen, warum hatte ich mich gar nicht gewehrt? Hatte ich ihm dadurch nicht geradezu Vorschub geleistet?

Wenn ich mit solchen Worten versuche, mir den vorüberfliegenden und dennoch sich mir so gedächtnisfest eingegrabenen Augenblick anzudeuten, so will ich damit insbesondere einen Ton darin zum Nachklingen bringen: nicht etwa den eines Mitschuldigseins am Gottesverlust – aber den einer Art von Mitwisserschaft: einer schon vorhergehenden Witterung davon. Denn die erstaunliche Belanglosigkeit des Anlasses, bei dem ich meinen Herrgott auf die Probe gestellt, machte es dermaßen unglaubhaft, daß ich nicht selber auf die Lösung gekommen war – nicht selber Herrn und Frau Schnee entlarvt hatte, denen gerade Kinderhände doch so gern zu Existenz verhelfen.

Die Vorstellung vom Unheimlichen, das sich mir aufgetan, spielte keine weitere Rolle in meiner Kindheit: es tat nur auch mit bei der Schwierigkeit, im Realen – im »Gottlosen« heimisch zu werden. Wunderlich genug ergab sich aus dem Gottverlust zunächst jedoch eine unerwartete Wirkung: innerhalb des Moralischen – ich wurde nämlich davon um ein ganzes Stück braver, artiger (das Gottlose verteufelte mich also nicht): vermutlich, weil Niedergeschlagenheit dämpfend auf alle Ungebärdigkeiten wirken mochte. Aber auch aus einem positivern Grunde: aus einer Art unabweislichen Mitgefühls mit meinen Eltern, denen nun nicht auch ich zum Ärgernis werden durfte, nachdem sie doch geschlagen worden waren gleich mir – denn auch ihnen war ja Gott verlorengegangen, – sie wußten es nur nicht –.

Freilich gab es eine Zeitlang Versuche, diese Situation umzukehren: es den glaubenden Eltern nachzutun, wie ich ja von ihnen alles Bisherige empfangen, erlernt, mich von ihnen aus des Vorhandenen vergewissert hatte. Es ergab ein zaghaftes Händefalten des Abends, verzweifelt und bescheiden, wie eine kleine Fremde hinüberruft vom äußersten Rand einer großen Einsamkeit ins unglaubhaft Entfernte. Doch es mißlang, diesen angeblich Entfernten zusammenzutun mit der unmittelbar erfahrenen vertrauten alten Gottesnähe; es blieb bei all der Bescheidenheit ein gewalttätiges Sichannähern an einen ganz Andern, Unbeteiligten, Fremden, und diese Verwechslung vermehrte alle Einsamkeit noch durch die Scham, sich geirrt zu haben, einen Unorientierten belästigt zu haben.

Inzwischen war ich damit fortgefahren, mir beim Einschlafen meine Geschichten zu erzählen. Nach wie vor entnahm ich sie dem ganz Unproblematischen: Begegnungen und Begebnissen des täglichen Lebens, wenngleich auch an ihnen die entscheidende Umwälzung stattgefunden hatte, indem der Zuhörer ausblieb. Wie sehr ich mich auch bemühte, sie auf das prächtigste auszustaffieren oder ihre Schicksale überlegen zum besten zu wenden: auch sie gerieten unter den Schatten. Man sah ihnen an, daß sie beim Erzähltwerden nicht vorerst einen Augenblick lang in Gottes sanften Händen geruht, nicht aus diesen mir überlassen wurden als eines der Geschenke aus seinen großen Taschen –: sanktioniert und legitimiert. Ja, wußte ich sie denn überhaupt auch nur wahr, seit ich sie nicht mehr empfing und anfing in dieser Gewißheit des: »wie Du weißt«? Sie wurden eine uneingestanden sorgenvolle Angelegenheit, wie wenn ich sie hineinwürfe, unbehütet, in des Lebens Unberechenbarkeiten, deren Eindrücken ich sie ja entnahm. Ich entsinne mich – und man erzählte mir noch öfters davon –, wie während einer sehr heftigen Masernerkrankung mich im Fieber ein Alptraum befiel, der die vielen, vielen Leute aus meinen Erzählungen als obdach- und brotlos und von mir preisgegeben darstellte. Kannte doch außer mir sich niemand zwischen ihnen aus, konnte doch nichts sie von irgendwoher aus ihrem ratlosen Unterwegs heimbringen in jene Obhut, in der ich sie alle ruhend gedacht: alle – in ihren tausend Vereinzelungen, die sich immer noch vervielfachen würden, – bis es, sichtlich und wirklich, kein Stückchen Welt mehr gäbe, das anders als zu Gott hätte nach Hause geraten können. Wahrscheinlich hatte dies mich auch so leichtsinnig gemacht, daß ich oftmals gleichzeitig an ganz verschiedene Außeneindrücke anknüpfte; so konnten ein mir begegnender Schuljunge und auch ein mir begegnender Greis, ein Keimling und auch ein breiter Baum, Altersklassen der nämlichen Person darstellen – als gehörten sie ohnehin ineinander. Das verblieb auch so, obgleich diese summierte Materialfülle allmählich das Gedächtnis bedenklich zu belasten begann, so daß ich anfing, mich mit Strichen, Knoten, Stichworten in diesem immer dichtem Netzwerk ineinandergewirkter Fäden zu orientieren. (Möglicherweise hat im spätem Leben noch, als ein Niederschreiben von Erzählbüchern, etwas von solcher Gewöhnung sich nur wiederholt: als eine Aushilfe für ein im Grunde weit darüber Zusammenhängendes, nicht mehr darin Verlautbares, und demnach tatsächlich nur Notbehelf.)

Die Sorgeneinstellung zu den Leuten meiner Geschichten darf keinesfalls so aufgefaßt werden, als entspräche sie mütterlicher Fürsorge, wie es sich für ein kleines Mädchen gut geschickt haben würde. Schon beim Puppenspielen war nicht ich es gewesen, sondern mein um drei Jahre älterer Bruder, der hinterdrein die Puppen zu Bett brachte und die beim Spiel benötigten Tiere in ihre Ställe führte. Mir hatten sie dann offenbar ausgedient, als Spiel anlässe: wodurch, wunderlich genug, mein Bruder mir bei seinem Tun als der weitaus Phantastischere erschien.

Über meine »Gotteserlebnisse« pflegte ich auch mit meinen kleinen gleichaltrigen Freundinnen (zu denen insbesondere eine Anverwandte gehörte, die auch gleich uns, nur mütterlicherseits, französisch-deutscher Familie war, ihre Schwester hat sich später meinem zweiten Bruder vermählt) nicht deutlich zu sprechen, als sei es nicht sicher genug, ob sie sich an Ähnliches erinnerten. Aber auch mir entschwand es mit den Jahren. Deshalb wohl entsinne ich mich, wie betroffen es mich machte, als ich später einmal beim Kramen auf ein rissiges altes Papier stieß, das ehemals in Finnland während der weißen Mittsommernächte, in deren magischer Helle, von mir mit Versen bekritzelt worden war:

Du heller Himmel über mir,
Dir will ich mich vertrauen:
Laß nicht von Lust und Leiden hier
Den Aufblick mir verbauen!

Du, der sich über alles dehnt,
Durch Weiten und durch Winde,
Zeig mir den Weg, so heiß ersehnt,
Wo ich Dich wiederfinde.

Von Lust will ich ein Endchen kaum
Und will kein Leiden fliehen;
Ich will nur eins: nur Raum – nur Raum,
Um unter Dir zu knieen.

 

Beim Durchlesen erschien mir das fremd, ja ich besah es mir mit eitler Sachlichkeit sogar auf seinen Verswert hin! Aber dennoch schwang ja seither der gleiche Grundton hinter all meinem Erlebten und Verhalten, wie wenn er keineswegs aus einem allmählichen Gewordensein heraustöne, das ja in normalen frohem oder trübern Erfahrungen vor sich ging: es war, als entstamme er einem frühesten unkindlichen Wissen, einem Wiedererfahrenhaben jener Ur-choks aller Menschen beim bewußten Erwachen zum Leben, wovon das Leben nicht aufhören konnte, sein bleibendes Gepräge zu erhalten.

Plausibel machen läßt sich derlei mit aller autobiographischen Redlichkeit nur schwer. Vielleicht nützt dazu irgendeine konkrete Einzelheit ein wenig besser. Ich hatte übers Bett einen biblischen Spruchkasten bekommen, worin 52 Sprüche jahrüber zu wechseln waren, und als mit der Zeit 1. Thess. 4, 11 an den Ausguck gelangte, hielt ich diesen Spruch dauernd darin fest: »Ringet darnach, daß ihr stille seid, und das Eure schaffet, und arbeitet mit euren eigenen Händen.« Einen Grund hätte ich damals wohl nicht dafür angeben können. Aber es ist irgendwie ein Nacherleben aus jenem frühen Verwaisungsgefühl und dessen absoluter Resignation, wenn dieser Kasten um dieses Spruches willen auch heute noch bei mir hängt. Der so unkindlich lautende Spruchtext überdauerte all die Jahre meiner Gottentfremdung nicht bloß, weil ich mich des Kastens meiner Eltern halber nicht entledigen konnte, sondern weil er mir mit diesem Wort ins Herz wuchs. Der letzte Beweis dafür fand noch nach meiner Übersiedlung ins Ausland statt, wohin man mir mit allerlei andern Sachen auch das Spruchkästchen wieder zugeschickt hatte; da schlug er auch die Umänderung aus dem Felde, die Nietzsche mit ihm vornahm, als er davon hörte: ihn zu ersetzen durch das Goethesche: »Uns des Halben zu entwöhnen, um im Ganzen, Vollen, Schönen resolut zu leben.«

Das befindet sich noch heute handschriftlich hinter dem vergilbten Druck.

Das allzu Frühe der geschilderten Kindheitseindrücke könnte mit Recht als ein zu ausnahmsweiser, verwunderlicher Fall erscheinen, denn es hing ja, wie schon erwähnt, vermutlich mit einem Zurückrutsch ins Infantilste oder einem Sichverzögern darin zusammen; die dadurch allzu früh angesetzte Gottesfassung stand ihrer eigenen Vergeistigung so entgegen, daß sie drastischer und sinnstörender zerfiel, als es sonst zu geschehen pflegt – gleichsam als sei man nochmals in die Welt gesetzt worden und erführe daran nüchterne Wirklichkeit fortan und ein für allemal.

Als ich 17 Jahre alt war, geschah mir die erste unmittelbare Erinnerung an meine frühen, alten Glaubenskämpfe ganz von außen her: im Konfirmationsunterricht bei Hermann Dalton von der reformiert-evangelischen Kirche. Bei diesem Anlaß nahm etwas in mir Partei für den so lang verblichenen Kindergott gegenüber den Nachweisen und Belehrungen, deren er damals nicht bedurft hatte. Eine Art heimlicher pietätvoller Empörung lehnte gleichsam diese Belege für seine Vorhandenheit, seine Rechte, seine unvergleichliche Macht und Güte ab; ich schämte mich gewissermaßen, als müsse er, aus den Tiefen meiner Kindheit noch, diesem allem erstaunt und befremdet zuhören; ich vertrat ihn dadurch gewissermaßen.

Sachlich erledigte sich die Konfirmationsfrage daneben folgendermaßen: Nachdem ich, weil mein Vater leidend geworden war, auf Überredung Daltons noch ein zweites Jahr des Einsegnungsunterrichts begonnen hatte, um keine Aufregungen durch meinen Austritt aus der Kirche hervorzurufen, vollzog ich diesen Austritt dann doch. Und zwar tat ich das trotz meiner eigenen Vernunft-Ansicht, damit etwas weit Übleres zu tun, als durch eine Proforma-Handlung geschehen wäre, die keinen Gram und keinen Kummer über unser frommes Haus gebracht haben würde. Was da entschied, war auch nicht etwa ein Wahrheitsfanatismus, es war ein triebartiges, nicht zu überredendes Muß. –

Im Verlauf meines Lebens führten Studien und sonstige Anlässe mich vielfach an philosophische, sogar theologische Fachgebiete heran als an solche, die mich von mir selber aus anzogen. Dennoch stand das in gar keinem Zusammenhang mit meiner »frommen« ursprünglichen Wesensart oder umgekehrt mit der nachmaligen Abkehr von ihr. Nie ist in mir vom Gedanklichen her die alte, ehemalige Gläubigkeit aufgerührt worden – als hätte sie sich in ein »erwachsenes Denken« nicht mit-hineintrauen können. Infolgedessen verharrten für mich alle Denkgebiete, auch die theologischen, auf der gleichen Ebene bloßen Denkinteresses; eine Berührung oder gar Vermischung mit dem, was einstmals die Gemütssphäre damit zu tun gehabt, kam gar nicht in Frage; fast möchte ich sagen: es würde sich für mich flugs ausgenommen haben wie der – Konfirmationsunterricht. Zwar billigte, ja bewunderte ich nicht selten, wie andere es machten, die auf solchen Denkwegen zu einer Art von Ersatz – sehr, sehr abgeklärtem, durchgeistigtem – ihrer ehemaligen frommen Vergangenheit kamen und sie so in eins zu binden wußten mit ihrer Gedankenreife. Es war gewiß oft ihr schönstes Mittel, denkend auch mit sich weiterzugelangen, die gesamte Lebenslektion besser zu lernen, als mir wohl gelang, die ich sie nie herzusagen wußte ohne vielerlei Stocken. Aber mir blieb das so fremd und unmöglich, als handle sich’s zwischen uns überhaupt nicht um die gleichen Fächer oder Stoffe.

Was mir trotzdem zu stärkster Anziehung an Menschen wurde – toten oder lebendigen –, die sich derartigen Denkstoffen am totalsten gewidmet, das waren diese Menschen selbst. Mochten sie es noch so philosophisch zurückhaltend äußern, es blieb an ihnen abzulesen, daß in irgendeinem treibenden Sinne Gott ihnen erstes und letztes Erlebnis geworden in allem zu Erlebenden. Was sonst konnte sich damit als Lebensinhalt vergleichen? Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben: mit der Liebe, die in des Menschen Herz zu dringen sucht, wo unser Aller eigentliches Schicksalhafte sich entscheidet.

Wollte nun aber jemand mich fragen: Wenn es solchergestalt zu keinem Ausgleich bei mir kam, wie er sich doch im Lauf der Entwicklung als ganz selbstverständlich zwischen Wunsch und Wahrheit, zwischen Gefühlserwartungen und Geisteserkenntnissen allmählich einstellt – wie und worin wirkten dann jene ältesten, frühesten Glaubensvorstellungen bei mir wohl nach? Ich könnte auf diese Frage ehrlicherweise nur antworten: wohl in nichts anderem als in jenem Gott-Entschwund selber. Denn was zuunterst davon blieb, wie alle Oberfläche von Welt und Leben sich auch wandeln mochte, war ja der unabänderliche Tatbestand der Gott-Verlassenheit des Universums selber. Und eben am allzu Kindischen der vorangegangenen Gottesgestaltung mag es in solchem Falle liegen, daß sie nicht durch spätere Formungen ersetzbar, redressierbar erscheint.

Aber neben diesem negativen Ergebnis behielt gerade das Kindische am Gott-Entschwund auch das Positive: mich mit ebensolcher Unwiderruflichkeit ins Leben des Wirklichen um mich gewiesen zu haben. Ich weiß gewiß, daß für mich – autobiographisch nach bestem Wissen und Vermögen geurteilt – mir ins Gefühl hineingewirrte Gott-Ersatzbildungen dies nur hätten schmälern können, abbiegen, beeinträchtigen –. Unbeschadet des gern von mir zugegebenen Umstandes, daß so viele davon einen ganz andern Gebrauch machen, einen Gebrauch, der sie weiter bringt, als ich jemals kam.

Was für mich nun vor allem daraus bewirkt wurde, ist das Positivste, davon mein Leben weiß: eine damals dunkel erwachende, nie mehr ablassende durchschlagende Grundempfindung unermeßlicher Schicksalsgenossenschaft mit allem, was ist. Darum auch besser »Empfindung« zu nennen als objektbezogenes »Gefühl«: sinnlich-überzeugende Gleichheit der Schicksalslage; und nicht einmal menschenbezogen allein, sondern in diese Bereitschaft miteinbeziehend gleichsam noch den kosmischen Staub. Gerade infolgedessen kaum veränderbar durch menschlich-gegebene Maßstäbe oder Wertmaßstäbe im Lebensverlauf: als gebe es nichts, was extra zu rechtfertigen, zu erhöhen oder zu entwerten sei neben dem Umstand seiner Existenz als Vorhandenheit wie auch dieser Bedeutsamkeit von Jeglichem nichts angetan werden könnte gleichwie Mord, gleichwie Vernichtung, es sei denn, ihm diese letzte Ehrfurcht zu versagen vor der Wucht seiner Existenz selbst, die es mit uns teilt, indem es gleich uns »ist«.

Damit ist mir das Wort entschlüpft, woran man, wenn man will, leicht einen seelischen Restbestand aus dem alten Gottverhältnis festlegen kann. Denn wirklich ist mir lebenslang kein Verlangen unwillkürlicher gewesen als das, Ehrfurcht zu erweisen – als käme erst in einigem Abstand davon alles übrige Verhalten-zu-etwas oder -zu-wem. So daß mir dies Wort gleichsam nur wie eine andere Benennung, ein zweites Wort erscheint für jene Verbundenheit unseres Allgeschickes, wovon das Größte noch unterschiedslos mitbetroffen und worin auch das Kleinste noch bedeutsam gemacht ist. Oder so ausgedrückt: Daß etwas »ist«, trägt jedesmal die Wucht aller Existenz in sich, als sei es alles. Ist Inbrunst der Zugehörigkeit denkbar, ohne daß Ehrfurcht ihr innewohnte – und wär’s im uns unsichtbarsten, unerkanntesten Urboden unserer Regungen?

Auch in demjenigen, was ich hier zu erzählen unternehme, ist Ehrfurcht bereits miterzählt. Ja vielleicht ist nur davon erzählt, trotz der vielen andern Wörter, die sich an das Vielerlei halten müssen, das sich drum herum begibt, während das eine und schlichteste unverlautbar darunter wartet.

Ich muß unlogischerweise gestehen: müßte Ehrfurcht der Menschheit verlorengehn, so wäre jede Art von Gläubigkeit, sogar absurdeste, noch dem vorzuziehn.

 

 

***

Lou Andreas-Salomés oft gerühmte persönliche Ausstrahlung, ihre Bildung und intellektuelle Beweglichkeit, die Freundschaft mit namhaften Zeitgenossen und ihre unkonventionelle Lebensführung sicherten ihr einen Platz in der deutschen Kulturgeschichte. Ihr Leben war und ist Gegenstand von Biographien, Romanliteratur, Musiktheater (der Oper Lou Salomé von Giuseppe Sinopoli (Libretto: Karl Dietrich Gräwe) zum Beispiel, die 1981 in München uraufgeführt wurde) und anderen Texten, in denen ihre Kontakte zu Berühmtheiten der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte erörtert werden.

Verglichen damit fand ihr eigenes schriftstellerisches Werk seither wenig Beachtung – es verschwand hinter der außergewöhnlichen Geschichte ihres Lebens, dem will KUNO abhelfen. Als renommierte Autorin hatte sie an der Entwicklung der Positionen der Moderne um 1900 lebhaft mitgewirkt. In Romanen, Erzählungen, Essays, Theaterkritiken, zahlreichen Texten über Philosophie und Psychoanalyse, einem weitläufigen Briefwechsel beteiligte sie sich an den Diskussionen über grundlegende Fragen der Zeit.

Weiterführend → Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.

 

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