»Meinen Glückwunsch zu der lyrischen Biographie«

Einiges zur Wirkungsgeschichte der Lyrik Hans Benders

Heimkehr

»Ich finde Der junge Soldat schlechthin gut«, schrieb Gottfried Benn am 22. Januar 1955 an Hans Bender. Auch Der tote Gefan­gene findet seinen »vollen Beifall«. Der Brief schließt mit den Worten: »Meinen Glückwunsch zu der lyrischen Biographie«. (Nachzulesen in Briefe an Hans Bender, 1984 herausgegeben von Volker Neuhaus.) Benn lag das 81. Heft der Zeitschrift Merkur von 1954 vor, das unter dem Ge­samttitel Lyrische Biographie acht Gedichte Benders enthielt, darunter Heimkehr, das wohl zum po­pulärsten Gedicht Benders geworden ist. (2005 wurde es in das Hausbuch deutscher Dichtung Der ewige Brun­nen aufge­nommen.) Lyrische Biographie, so heißt auch der Band, den Flora Klee-Palyi von der Werkkunstschule Wuppertal in mäzenati­scher Begeiste­rung zu einem bibliophilen Kunstwerk gestaltete. Er erschien 1957, um vier Gedichte erweitert, darunter Im Tabakfeld, Jahrmarkt und Gemeinsam. Die Gedichte dieses Bandes gehören zu den meist­gedruckten Benders, sie finden sich in zahlreichen Antholo­gien und Schullesebüchern und wurden, einige spätere kamen dazu, ins Arabi­sche, Chinesische, Englische, Französische, Italienische, Niederländi­sche, Spanische und Ungarische übersetzt.

Der junge Soldat · Im Tabakfeld

Für Wulf Kirsten verband sich der Name Bender seit je mit dem Ge­dicht Der junge Soldat (Autoren suchen einen Autor: Hans Bender ∙ 1999). Hendrik Liersch brachte es als bibliophile Einzel­ausgabe heraus (Corvinus Presse, Berlin 2006). Michael Busel­meier betont in der Wochen­zeitung Freitag vom 11. August 2000 (erweitert 2009 in Der gelbe Akro­bat. 100 deutsche Gedichte der Gegenwart, kommentiert): »Be­achtung hat vor allem Im Tabakfeld gefunden. Hubert Fichte hat die­ses Gedicht geschätzt, es sei fast dreißig Jahre später »noch so frisch wie damals«. Und für Arnold Stadler (»Das schönste Tabakfeld, das ich kenne, ist dieses Gedicht von Hans Bender« in Erbarmen mit dem Seziermesser ∙ 2000) be­schreibt es zwar ein heimatliches Tabak­feld, aber eines der Erinne­rung […] Auch das Jahrmarkt-Gedicht lebt aus der Erinnerung, da Kirchweih und Herbstmesse älterer Art zu­sammen mit dem Bau­erndorf längst untergegangen sind. All die Dinge und Bilder leuchten farbenreich auf und changieren zugleich seltsam un­wirk­lich wie hinter Glas, unter Wasser […].« Rainer Brambach hatte Im Tabakfeld bereits 1980 in das bei Diogenes erschienene Ta­schen­buch Moderne deut­sche Liebesgedichte aufgenommen.

Hier bleiben wir · O Abendstunde

Jahrzehntelang veröffentlicht Bender nur noch in weiten Abstän­den Gedichte, verstreut in Zeitschriften und Anthologien. Er zögert lange, die neuen Gedichte zu sammeln. Woran lag es? Er wollte kein Erzäh­ler sein, der auch Gedichte schreibt. Erst 1992 ent­schloss er sich, eine Auswahl unter dem Titel Hier bleiben wir vorzulegen. Der Band, in bibliophiler Ausstattung und limitierter Auflage, blieb einem kleinen Kreis von Liebhabern vorbehalten. Erst 2011 gelang es Arnold Stadler (der auch das Nachwort schrieb), Hans Ben­der von einer Publikation ausgewählter Ge­dichten zu überzeugen, Titel: O Abendstunde (erschienen im Verlag Ulrich Keicher · Warmbronn). Martin Walser be­findet im ZEIT-Artikel vom 21. Juni 2012, Bender habe in diesen Gedichten zu »dem ganz und gar irdisch-feierlichen Ton gefunden, den Brecht angestimmt hat in den Buckower Elegien«.

Fremde soll vorüber sein

Mit Lyrik, nicht mit Prosa, hat er einst begonnen. Bald nach der Heimkehr 1949 aus der Kriegsgefangenschaft standen elf Gedichte in der Anthologie Die Dichterbühne (1950). 1951 erschien der erste schmale Lyrikband Fremde soll vorüber sein, ein Jahr später erweitert unter dem Titel Gedichte. Lyrik, gereimt, in klassischen Versmaßen, in bescheidener Auflage in einem Kleinverlag am Rande des literari­schen Geschehens, Gedichte, von denen der Au­tor – längst der freien Form zugewandt – Abstand genommen hat. Als »eindrucksvollstes Beispiel für Benders ›offene Lyrik‹« nannte Karl Foldenauer (in Lite­ratur als Heimat. Hans Bender zu Ehren) das Gedicht Mein Dorf.

Heimkehr · Der Schulkamerad

Bender hat sich einmal, 1995, zu seiner Lyrik geäußert: für die Anthologie Nachkrieg und Unfrieden. Gedichte als Index 1945–1995, in die Heimkehr und Der Schulkamerad aufge­nom­men wur­den und für die die Herausgeber Hilde Domin und Cle­mens Gerke einige erklärende Worte erbaten. Zu Heimkehr merkt er an:

Ich kam erst 1949 aus der russischen Gefangenschaft zurück. Mein kleiner Neffe Rainer zeigte mir ein Gedicht, das er zu meinem Empfang geschrieben hatte: »Sie hängen eine Tafel auf / und Blumen­kränze: Herzlich willkom­men!« Ich bewun­derte diesen kindlichen Zweizeiler. Rainer hatte einfach seine Beo­bachtung auf­geschrieben. Hatte ich die Tafel und die Kränze über­haupt wahr­genommen? Viele Tage später schrieb ich mein Gedicht. Enthielt es tatsächlich die er­lebte Heim­kehr? Oder die Heimkehr, über die ich in den Romanen und in den Gedichten an­derer gelesen hatte? Oder war es jene Heim­kehr, die ich mir in den Jahren der Ge­fangenschaft imaginiert hatte? Ich habe sie – wie jeder Ge­fangene – herbeige­sehnt. Ich habe das Glück und die Ängste voraus erlebt. Das Glück, in eine unzer­störte, ländliche Welt zurück­kehren zu können, die Ängste, diese Welt könne doch nicht mehr so sein, wie ich sie verlassen hatte – und auch ich war ein ande­rer geworden. Ja, ich glaube, ich habe dieses Gedicht schon vorher konzi­piert. Die Heimkehr war nur der Anlass, es aufzuschrei­ben. An diesem Gedicht – auch daran erinnere ich mich – musste ich nicht arbeiten. Ich schrieb lediglich zwei Sätze einer langen Erfahrung auf.

Zu Der Schulkamerad bekennt er:

Manchmal sind meine Ge­dichte wie Geschichten. (Ich erlaube es mir.) Ich habe etwas erlebt und will es fassen; weder transportieren noch stilisieren. Im Gedicht Der Schulkamerad ist es eine Begegnung im Heimatdorf M., wohin ich als Besu­cher gekommen bin. – Auch sonst treffe ich Gleichaltrige. Ihre Vitas ver­liefen ähnlich wie meine. Nach der unbeschwerten Kindheit die Ju­gend im Dritten Reich; im gehorsamen Dienst für dessen Untaten vor und hinter den Fronten; als Soldat, als Befehlsempfänger. Wir begrü­ßen uns. Sprechen mit­einander. Sie ha­ben, höre ich, nur Erfreuliches behalten. Sie ha­ben vergessen. Sie wollen verges­sen. – Die Be­gegnung mit jenem Schulka­meraden – an einem hellen Frühlingstag – hat mir schockartig jene Vergan­genheit heraufgerufen. Von ihm, gerade von ihm und sei­ner Organisation in schwarzer Uniform, weiß ich, welche Verbrechen sie ver­übt haben. Und ich verweigere dennoch nicht die gewohnte Geste? Hebe, wie er, die Hand zum Gruß? Ich schließe mich – so erkläre ich mein Verhalten – in die Schuld mit ein. Ich bin wie gelähmt von der Erinnerung an das, was damals ge­schehen konnte. Nein, mehr Interpretation braucht es nicht, das kunstlose Ge­dicht.

Gedichte in vier Versen

Rausgeschnitten
 
Mitzuwirken in einem Film,
ließ ich mich bitten.
Der Film kam – ohne mich:
Ich war rausgeschnitten.

In den späten Jahren ›erfand‹ sich Bender eine neue lyrische Form: den Vierzeiler. »Vierzeilige Romane« nennt Michael Krüger sie in der Laudatio zum Kölner Kulturpreis 2000 (HB: Ich erzähle, ich erinnere mich ∙ 2001). Dazu befragt, zitiert Bender gerne Czesław Miłosz: »Im Alter sollen Gedichte sich vereinfachen.« Eine erste schmale Samm­lung erschien 2000 unter dem Titel Nachmittag. Ende September. Danach folgten die umfangreicheren Sammlun­gen Ver­weilen, gehen (2003), Wie es kommen wird (2009) und 2012 Auf meine Art.

Wie Zuspruch und positives Echo zeigen: ein gelungener lyrischer Neuanfang. Eine kleine Auswahl ist bereits ins Englische und Spa­ni­sche übertragen worden. Harald Hartung setzt, nach den ersten Vor­veröffentlichungen, 1999 in Au­toren sehen einen Autor: Hans Bender, zu einem ersten Urteil an: »Es sind keine anerkannten lyrischen Kurz­formen, keine Haikus, keine Tankas. Sind es über­haupt Gedichte? Oder sind es Aufzeichnungen, wie sie Bender auch sonst geschrieben hat? Deren Ideal hat Bender in den Satz gefasst: ›Einige Sätze, die etwas komprimieren und konzentrie­ren‹. Hier in den Vierzeilern wird nicht einmal das mehr versucht: Die Substanz, die zu komprimieren und zu konzentrieren wäre, ist Hauch geworden, Duft: etwas, das immer noch Sprache anlockt, Spra­che, die zum Menschen gehört: Nun kommt / ihr summenden Wör­ter!« Theo Breuer zeigt sich in Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000 »von der gebündelten Energie und Genauigkeit der betont einfach gesetzten Wörter« in Verweilen, gehen beeindruckt; Hajo Steinert empfiehlt Wie es kommen wird als seinen ›Bestseller‹ (in Fo­cus Nr. 27 vom 29.6.09) mit den Worten: Gedichte, »wun­derbar feder­leicht, musikalisch, von Le­bensweisheit und Über­mut geprägt – sie machen lächeln.«

Zum Schluss zwei erste Stimmen zum neuen Band Auf meine Art: Volker Neuhaus (aus dem Brief an Hans Bender vom 17.2.2012): »eine Trouvaille neben der anderen, von dem geistreichen mot trouvé des Duns Scotus über Benn, Böll, Der eine Wunsch, Inter­view, Tau­benbrunnen, Tauben, Spatzen, Ha­senbrot bis zu im Grunde allem […] Sie ›können‹ es wirklich, auf Ihre Art«. »Ja, auf seine Art«, so Dieter Hoffmann, »eine leise, men­schenfreundliche, in der Form so locker wie stimmig. Von wunderba­rer Gelassenheit, keine Spur von Larmoy­anz des Alters, das er aber beim Namen zu nennen nicht scheut.« (Gazzetta di Nittardi ∙ 2012).

 

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Hans Georg Schwark, * 1933 in Elbing, lebt in Köln. Von 1965 bis 1994 war er Literaturredakteur im Deutschen Programm der Deutschen Welle. Der Essay zur Wirkungsgeschichte der Lyrik Hans Benders erschien ursprünglich in  Matrix 29. Jeder auf seine Art für Hans Bender.