Joris Brubel der Eicher

 

– Joris Brubel ist periodischer Misanthrop.

– Joris Brubel in der Selbstdarstellung: Joris Brubel ist ein Frühstück.

– Joris Brubel versucht seit Jahren vergebens eine Tasse zu finden, durch deren Henkel er seine fleischigen Finger stecken kann.

– Joris Brubel hat einen Hang zum Flunkern.

– Joris Brubel träumt von einer eigenen Rückenschule.

– Joris Brubel entspannt erst ab B-Movies.

– Letztes unspektakuläres Ereignis im Leben von Joris Brubel: Joris Brubel hat seine Spaghetti bewusst klebrig gekocht.

– Joris Brubel wünscht sich einen festen Schlafplatz in Universitätsvorlesungen.

– Joris Brubels Hobby: Manschettenknöpfe sammeln.

– Joris Brubel ist Joris Brubel.

Genau genommen ist Joris Brubel Inspektor, obschon er den Beruf eines Inspektors nicht ausübt. Joris geht einer anderen Tätigkeit nach, aber die tut hier wenig zur Sache. Zur Sache hingegen geht Joris sofort, präzise, mit Hingabe und möglichst überall. Richtig wohl fühlt sich Joris erst nach ein paar fachmännischen Handgriffen.

Jedes Gewinde wird kontrolliert, jede Schraube nachgezogen, Lotteriges neu verklebt oder ersetzt. Sollten Bilder schief hängen, stört dies Joris weniger, als wenn er mit seiner Wasserwaage feststellt, dass der ganze Raum schief ist. Historische Räume verbietet sich Joris daher von vornherein. Auch schlecht verlegte Teppiche sind ihm ein Dorn im Auge, denn dagegen kann er mit seinem Schraubenzieher wenig ausrichten. Zu Schrauben hat Joris ein gespaltenes Verhältnis. Denn mit Besorgnis stellt er fest, dass in der Industrie nicht nur zu viele Schrauben gebraucht werden, sondern auch noch an den falschen Stellen angebracht sind. Es geht zwar immer nur um Millimeter, doch Millimeter sind es, die aus einem Design-Objekt eine Missgestalt machen.

Sitzmöbel sind für Joris ebenso problematisch. Denn er kann sich nicht wie normale Menschen hinsetzen, sondern unterzieht jeden Stuhl zunächst einer Prüfung. In neunzig Prozent aller Fälle dreht Joris den Stuhl um und nimmt eine Feinabstimmung vor, bis er glaubt sein Hintern werde mit dem Sitz harmonieren. Möbel erweisen sich im Allgemeinen als heikel: Bevor Joris einen Schrank kauft, kontrolliert er die Schranktüren durch wiederholtes Öffnen und Schließen. Dieses Verfahren dauert bis zu fünf Stunden und erfordert exakt vierhundert Handgriffe, darunter viele repetitive. Wenn Joris abends zu Bett geht, rüttelt und knufft er zuvor die Matratze. Joris’ Frau muss sich dieser Operation insofern unterziehen, als sie zu diesem Zeitpunkt, ohne sich zu rühren, bereits im Bett zu liegen hat. Kleidungsstücke testet Joris aus, indem er in den neuen Kleidern noch in der Umkleidekabine zu turnen beginnt. T-Shirts müssen Ruder- und Crawl- Bewegungen standhalten, die Hosen einer tiefen Hocke und anschliessendem Froschsprung.

Auch in anderen praktischen Dingen des Lebens ist Joris engagiert. Wer in seine Nähe kommt und zuvor mit Knoblauch und Zwiebeln gefuhrwerkt hat, muss seine Hände nach Joris’ klug konzipiertem Verfahren waschen. Jahrzehntelang hat Joris’ Frau ihre Hände völlig falsch gereinigt und das Wichtigste, nämlich die Fingerspitzen, nicht ins Ritual einbezogen. Joris’ Rahmenbedingungen müssen jedoch insbesondere beim Thema Hygiene, beispielsweise in der möglichst keimfreien Küche, eingehalten sein. So hilft Joris seiner Frau beim Anrichten, indem er sich zunächst die Desinfizierung der Küchenoberflächen vornimmt, seiner Frau später Vorgaben für die richtigen Schnittformen macht sowie die Stücke anschliessend nachmisst.

Während die Frau nachfolgend mit der faktischen Kocharbeit beschäftigt ist, kümmert sich Joris um die Konditionen, macht Probeentnahmen zwecks Messung des Säuregehalts, des Salzanteils, der Temperatur, Konsistenz usw. oder macht rechnerische Vergleiche, beispielsweise in welchem zeitlichen Verhältnis das Mis en Place zur Kochzeit oder der Schäl- zum Schneidaufwand stehen. Oder er grübelt darüber nach, in welcher Relation die Kosten der Produkte zu deren Verdauungszeit stehen.

Joris ist aber kein Theoretiker, sondern pragmatisch und künstlerisch begabt: So schwört er auf den Import einer billigen und qualitativ fragwürdigen Zahncreme, die er aus Bangladesch einführt. Die Konstruktion der Tube ist ein Meisterwerk, sodass sie für Joris unverzichtbar geworden ist. Die leeren Tuben hat er auch nicht etwa weggeworfen, sondern hat die rund hundert ausgequetschten Prachtexemplare zu einer künstlerischen Installation – einem Schrein nicht unähnlich – arrangiert, welche seit Jahren grosszügig das Wohnzimmer schmückt. Originelle, praktische Lösungen sind Joris’ Ein und Alles. Seinen Kannen hat er, egal ob für Tee, für Wein oder Blumen neue Schnäbel verpasst, die das Nachtropfen auf ein Minimum reduzieren. Denn ein zu groß geratener Tropfen kann Joris in stundenlanges Grübeln bringen. Joris hat auch errechnet, dass die standardisierten Teebeutel nicht im Verhältnis stehen zu seinen geliebten, übergrossen US-amerikanischen Mugs. So hat er kurzerhand Mutters alte Nylonstrümpfe zu Teefutteralen umfunktioniert, die den präzisen und expliziten Teegenuss garantieren. Man kann über Joris’ ewiges Schmieren, stetes Warten, präzises Messen und seine häufigen Kontrollen schmunzeln, doch was ihn in der heutigen Zeit der Massenanfertigungen zu einem modernen Helden macht, ist die Tatsache, dass Joris ein handwerklich begabter Mann der Prinzipien und Ideale ist, und sich von Alibiübungen distanziert.

„Form ist Grenze.“ (Oswald Spengler)

 

 

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Besonderlinge, Galerie der Existenzen I, von Joanna Lisiak, Wolfbach Die Reihe 2012

Joanna Lisiaks „Besonderlinge“ sind, wie der Titel schon andeutet, bemerkenswerte Figuren mit besonderen Eigenschaften: Sie wünschen sich Spielplätze für Erwachsene, sammeln Senfgläser oder führen Statistiken über Brillenträger. So schräg die einzelnen Charaktere in der Landschaft stehen, so liebenswürdig sind sie auch. Und spätestens auf den zweiten Blick erkennt man, dass diese raffiniert porträtierten „Besonderlinge“, die Joanna Lisiak in ihre „Galerie der Existenzen“ aufgenommen hat, gar nicht so fremd, gar nicht so anders sind.

Weiterführend →

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verleiht der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.