Eine neue gnostische Liebesdichtung

 

Es gibt Bücher, die dem Leser Gewalt antun. Und das sind nicht die sogenannten Tendenzromane, die im ganzen doch nur an denen ihre Wirkung bewähren, die ihnen zu willen sind. Dies neue Buch von Brust aber ließ mich nicht los, trotzdem ich – und ich werde noch sagen warum – ihm ganz und gar nicht zu willen gewesen bin. Ja, es zu lesen hat mich mitgenommen, und doppelt, weil der starke gegründete Widerwille gegen die Welt, mit der der Autor hier wie schon früher sich einließ, durchkreuzt wird von der Bewunderung für die begnadete, episch schlichtende Hand, mit der er sie darstellt.

Man hat in diesem Buch ein jüngstes Zeugnis des alten Ringens zwischen der christlichen und der germanischen Lebenserfahrung und Lebenslehre vor Augen. Ich weiß, es gibt Menschen, die überzeugt sind, daß heute keiner aus Eigenem, Erlebtem und Durchlittenem zu solch altem, verdämmernden Riesenkampf sich zu äußern vermag. Aber dies Ringen, so alt es ist, ist ungeschlichtet geblieben, und wir wissen alle, aus welchen Kräften der bodennähere – der es im Doppelsinn des Wortes ist: dem Unterliegen und der Muttererde Nähere – der heidnisch-germanische Partner sich wieder zu regen beginnt. Die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts stehen im Zeichen der Technik. Gut! Aber das sagt nur denen etwas, die wissen, daß sie auch im Zeichen der wiedererwachenden ritualen und kultischen Traditionen verlaufen. Man kann daher das dichterische Schrifttum von Männern wie Brust, das wissenschaftliche von Männern wie Klages trotz allem nicht als Atavismen abtun. So muß man denn, in der Erwartung auf ein Fundament dieser Dinge zu stoßen, in Kauf nehmen, was zu lesen einen nicht freut. »Wir Germanen brauchen den sich ausbreitenden indischen Geist nicht. Wir haben eine größere Vergangenheit … Die Weisheiten der Schwäche, wollen wir auch den schwächeren Nationen überlassen. Wir haben ja unsere Meister, die wahrlich reineres Wissen verbreiteten, als die schemenhaften Auslegungen jenes Mischmaschs eines rauch-, eß- und fluchlustigen polnischen Mediums. Wir Germanen haben nach Israel die größten Propheten gehabt. Wir haben Paracelsus, Eckehart, Tauler, Seuse, die deutsche Theologie, wir haben den schlesischen Engel und den Schuster Böhme aus Görlitz. Diese Deutschen haben die kommende germanische Religion in schneeiger Reinheit umrissen.« Gewiß hat so etwas einen Nachhall wie aus verräucherten stuckverzierten Versammlungssälen. Seinen Ursprung aber, zum wenigsten seine säuber­lichste Verfassung, erfährt es auf dem Lande, am besten im bittersten Flach­lande, wo die atmosphärischen, topographischen Kräfte seit Jahrhunderten ihre Richtung nicht wandelten. Und es kann keinen erstaunen, zu hören, daß dieser Dichter in Heidekrug, einem einsamen Dorfe bei Memel, siedelt.

Nun aber kennt er diese Erde. Wo er nicht als glückloser Künder germani­scher Wolkenreiche, auf ihr gelagert, »daß der Leib ein Pentagramm« beschreibt, sondern als Landmann, als Spaziergänger, als Gärtner sie antritt, da glückt es ihm. Da kommt ihm der schöne, lebendige Einfall, diese Liebesgeschichte statt auf irgendeinem banalen Gutshof in die Einsamkeit einer großen Kultur von Heil- und Arzneipflanzen zu verlegen, die einzig in ganz Deutschland gedacht ist. Der Leser fühlt: wo immer er sich befindet – und zweifelhaft genug sind die geistigen Ströme, die über diesem Boden kreisen – dieser Boden selber blüht wunderbar unter der beschreibenden Hand. Die unendliche Peinlichkeit aller Heimatkunst ist diesem Buche und seinem Dichter fern. Was aus ihm wird, wenn er sich seinen leicht verschleierten Blicken statt dem ekstatisch aufgerissenen Auge überläßt, das sagt am schönsten ein Kapitelschluß, der seinen Helden auf einem Waldweg mit einmal, grundlos, unerklärlich woher, auf einen Gnomen geraten läßt. Von diesen erstaunlichen dreißig Zeilen mögen die letzten hier folgen: »Und das böse Männchen lief hinweg. Aber es lief behutsam und im Zickzack und in langen Bogen, als verfolge es einen vorgezeichneten Weg und als sei rechts und links von diesem unsichtbaren Wege alles undurchdringlich für den kleinen Geist verbaut.«

Was hilft es? das Buch bliebe sich selber nicht treu, nähme es nicht an seinem Teil alle zerreißenden Spannungen auf, welche die eigentlich christliche Erscheinung der Natur sind. Sie gruppieren sich um die Forderung der Reinheit. Das geschieht nun aber durchaus nicht im kirchlichen, orthodoxen Verstände. Daß vielmehr jeder akute Zusammenstoß der christlichen Welt mit der Welt der Völker, der Heiden, im heftigen Aufflammen gnostischer Spekulationen sich kundtut, dafür ist dieses Autors bisheriges Werk ein neuer Beweis. Und insofern rückt es nahe genug an das Lebenswerk desjenigen Mannes, der in der unvergleichlich umfassendsten, gültigsten und entschiedendsten Form diesen Geisterkampf durchlitt und bestand – das Werk eines in Deutschland noch immer fast Unbekannten, Brusts und meines gemeinsamen Freundes Florens Christian Rang. Dessen Gedankenwelt spricht mich an, wenn in dieser Novelle das Wort vom »Sich-freisündigen« mir begegnet und in eben diesem Wort der entscheidende Einspruch, der gegen die halbheidnischen Begriffe von »Reinheit«, die hier regieren, laut werden muß. Echt religiöses Anliegen ist von jeher, viel mehr als Reinheit bewahren, sie wiedergewinnen. Und die Forderung ihrer Bewahrung ohne die Aussicht, wie die verlorene sich zu erneuern vermöge, führt ebenso tief in ein zweideutiges Sektiererwesen, wie jener ungeheuerliche widermoralische Vorgang der »Prüfung«, in dem Brust die Feuer- und Wasserprobe seiner Liebesleute erblickt. Es hat nämlich der Mann sich dort zu überwinden, die Braut dem Propheten – und auf dessen Geheiß – nackend zu senden, und die Braut dem Geheiß des Geliebten zu folgen. Hier gähnt der Abgrund blutiger Barbarei, in welchem Schemen aller christlichen Walpurgisnächte durcheinander geistern.

Spielarten apokrypher gnostischer Lehren durchziehen die ganze Erzählung. Hier deutet einer durch ein Schweigen an, Christus, der große Liebende, sei wohl zu schwach gewesen, »die Last der Sünde aller Suchenden kommender Gezeiten auf sich zu nehmen, wie es die Kirchen durch sein Wort verkünden«. An anderer Stelle wieder heißt es im Tischgebet: »Der Gott ist gnädig. Seine Güte ist ewig. Alles danken wir ihm!« Oder es tauchen alte Sagen auf, Maria sei das Weib Jesu gewesen. Irren wir? sind hier nicht wirklich uralte beklemmende Kräfte am Werke, denen verwandt, die im ersten christlichen Zeitraum den gnostischen Doketismus entstehen ließen: die Lehre, Gottes Sohn habe zwar auf Erden gewirkt und gewandelt, als aber das vollbracht war und er ans Kreuz geschlagen werden sollte, da habe der Vater einen Scheinleib das Martyrium erdulden lassen, während der echte in die Glorie entrückt ward. Das ist gewiß zunächst nicht mehr als eine theologische Spekulation. Wer aber weiß, ob nicht die überschwengliche Verbindung der höchsten Majestät und tiefsten Leidens, also das Bild des Kruzifixus, von jeher einen Stich ins Unwirkliche, Schein-Heilige hatte? So etwas haftet der gegorenen Nacktheit bayerischer Glasbilder, auch der Heiligengestalt dieses Buches an, mit ihrem nur augenscheinlich so keuschen Namen »Der Innige«.

Das Werk nimmt die Mitte zwischen Traktat und Erzählung. Damit tritt es romantischen Formen der Novelle sehr nahe, und ist etwas wie ein heidenchristliches Gegenstück zur »Lucinde« geworden. Geschichten, Reflexionen, eingestreute Gedichte durchziehen eine Liebeshandlung, die in einzelnen Stellen – vor allem dem gemeinsamen Bade der Liebenden – den unvergleichlichsten Episoden des Schlegelschen Buches zur Seite zu rücken ist. Und wenn das meiste von dem, was hier über Liebe gesagt ist, die Erstlinge seiner Wahrheit und Einsicht den drohenden Mächten zum Opfer bringt, so ist, was dem profanen Denken bleibt, um so heller und besser. Soviel vom Gefüge. Der Umriß aber, die Fabel hat eine straffere, strengere Gestalt, die der verschlossenen Entschiedenheit des Autors, aber auch allem Verbogenen und Starren seines Werkes entspricht. Ein Testament, das zwei Erben bedenkt, gültig nur unter der Voraussetzung ihrer gegenseitigen Heirat; ein fremder Wanderer von irgendwoher und irgendwohin; ein geheimnisvoller Brief und zum Schluß entdeckte Vaterschaft an einem unehelichen Kinde: die Ströme der Kolportage und der Gnosis begegnen einander. Kurzschluß der Traditionen gewiß. Aber der Funke, der hier herausspringt, ist echt, nur kann er weder erhellen noch zünden.

 

 

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Jutt und Jula. Geschichte einer jungen Liebe, von Alfred Brust. Berlin-Grunewald: Horen-Verlag 1928. 168 S.

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