Heimliches Berlin

 

Die kleinen Treppen, die säulengetragenen Vorhallen, die Friese und Architrave der Tiergartenvillen sind in diesem Buche beim Wort genommen. Der »alte« Westen wurde der antike, aus dem die westlichen Winde den Schiffern kommen, die ihren Kahn mit den Äpfeln der Hesperiden langsam den Landwehrkanal heraufflößen, um bei der Brücke des Herakles anzulegen. So unverwechselbar hebt dies Quartier sich aus dem Häusermeer der Stadt heraus, als hüteten seinen Zugang Schwellen und Tore. Sein Dichter ist ein Schwellenkundiger in jedem Sinn – es sei denn dem fragwürdigen der experi­mentellen Psychologie, die er nicht liebt. Die Schwellen aber, die Situationen, Stunden, Minuten und Worte voneinander trennen und abheben, fühlt er eindringlicher unter den Sohlen als irgendeiner.

Und eben, weil er auch die Stadt so fühlt, erwarte man von ihr nicht Beschreibungen oder Stimmungsgemälde bei ihm zu finden. »Heimlich« an diesem Berlin ist kein windiges Wispern, kein leidiges Liebeln, einzig dies strenge und antike Bild-Sein einer Stadt, einer Straße, eines Hauses, ja einer Stube, die als cella das Maß des Geschehens in diesem Buche wie das von Tanzfiguren in sich faßt.

Jede Architektur, die den Namen verdient, läßt ihr Bestes nicht bloßen Blicken sondern dem Raumsinn zugute kommen. So übt auch jener schmale Uferstreifen zwischen Landwehrkanal und Tiergartenstraße seine Kraft an den Menschen auf sanfte, geleitende Art: hermetisch und hodegetrisch. In Dialogen schreiten sie hin und wieder die steinerne Böschung ab. Und wie in den vierzehn erdachten Gestalten seiner »Sieben Dialoge«1) der Autor das Römerherz zum Schlagen, die griechische Zunge zum Reden bewegte, so auch in diesen gebrechlichen Kindern der Welt. Es sind nicht Griechen oder Römer in modernen Kostümen, noch weniger Zeitgenossen in humanistischen Karnevalstrachten, sondern dies Buch steht technisch der Photomontage nahe: Hausfrauen, Künstler, mondaine Damen, Kaufherren, Gelehrte sind von den schattenhaften Umrissen platonischer und menandrischer Maskenträger scharf überschnitten.

Denn dieses heimliche Berlin ist die Bühne eines alexandrinischen Singspiels. Vom Griechendrama hat es die Einheit des Orts und der Zeit: in vierundzwanzig Stunden schürzt und löst sich die Liebesverwirrung. Von der Philosophie die aufgehobene, die große griechische Fragemoral, die vordem, in ihrer klassischen Formung, der Geschichte von der Matrone zu Ephesos, der Dichter in einem Versstück 2) behandelt hat. Von der Griechensprache seine musikalische Instrumentierung. Es gibt heute keinen Autor, der der deutsch-griechischen Neigung zur Wortverbindung verständnisvoller und freier entgegenkäme als dieser. In seinem Munde werden die Worte Magne­ten, die andere Worte unwiderstehlich anziehen. Seine Prosa ist von solchen magnetischen Ketten durchsetzt. Er weiß, eine Schönheit kann »nordblond«, eine Kassiererin »Sitzgöttin«, eine Friseurwitwe »kuchenschön«, ein fader Tugendbold ein »Tunichtbös« und der Zwerg ein »Gerneklein« sein.

Auf andere Weise aber sind auch die niemals zweisamen, immer und immer freundgesäumten Liebespaare, die diesen Roman durchziehen, nur eben Glieder einer wohlgefügten magnetischen Kette. Und ob wir nun an die Geschichte vom »Schwan kleb an« oder ans Rattenfängerlied erinnern – Clemens Kestner heißt hier der Rattenfänger – es bleibt dabei, daß diese Prozession junger Berliner Menschen, so wenig musterhaft der Einzelne, so wenig beneidenswert sein Lebensweg sei, den Leser auf der schmalen Uferstraße hinter sich drein zieht, vorbei an der »Uferlandschaft mit der geschwungenen Fußgängerbrücke, den gabeligen Kastanienästen und den drei Trauerweiden«, die »etwas Fernöstliches behalten, wie es in manchen Augenblicken einige der kleinen märkischen Seen haben«.

Woher stammt dem Erzähler die Gabe, das winzige Revier seiner Geschichte so rätselhaft mit allen Perspektiven der Ferne und der Vergangenheit auszuweiten? In einer Generation von Dichtern, deren kaum einer von der Erscheinung Stefan Georges unberührt geblieben ist, hat Hessel Jahre, die anderen über der Verbreitung von Dogmen, über einem schon wankenden Bau der Erziehung vergingen, mythologischen Studien, Homer und dem Übersetzen zugut kommen lassen. Wer seine Bücher zu lesen versteht, fühlt, wie sie alle zwischen den Mauern alternder Großstädte, den Ruinen des vorigen Jahrhunderts, die Antike beschwören. Doch wenn er so mit weitgespanntem Bogen seine Lebens- und Schaffenskreise durch Griechenland, Paris, Italien schlägt, die Mitte dieses Zirkels hat immer in seiner Stube am Tiergarten aufgeruht, die seine Freunde selten ohne ein Wissen von der Gefahr betreten, in Helden verwandelt zu werden.

 

 

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1) Franz Hessel, Sieben Dialoge. Mit sieben Radierungen von Renée Sintenis, Berlin 1924.

2) Franz Hessel, Die Witwe von Ephesos. Dramatisches Gedicht in 2 Szenen, Berlin 1925.

Zum 70. Todestag von Walter Benjamin erinnert KUNO an diesen undogmatischen Denker und läßt die Originalität und Einzigartigkeit seiner Gedanken aufscheinen. Bei KUNO präsentieren wir Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten, wobei das Denken von der Sprache kaum zu lösen ist. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.