Letzte Lockerung

 

1°   Um einen Feuerball rast eine Kotkugel, auf der Damenseidenstrümpfe verkauft und Gauguins geschätzt werden. Ein fürwahr überaus betrüblicher Aspekt, der aber immerhin ein wenig unterschiedlich ist: Seidenstrümpfe können begriffen werden, Gauguins nicht. (Bernheim als prestigieuser Biologe zu imaginieren.) Die tausend Kleingehirn-Rastas embêtantester Observanz, welche erigierten Bourgeois-Zeigefingern Feuilletonspalten servieren (o pastoses Gepinkel!), um Geldflüsse zu lockern, haben dieserhalb Verwahrlosungen angerichtet, die noch heute manche Dame zu kurz kommen lassen. (Man reflektiere drei Minuten über die Psychose schlecht behandelter Optik; klinisches Symptom, primär: Unterschätzung der Damenseidenstrümpfe; sekundär: Verdauungsbeschwerden.)

2°   Was dürfte das erste Gehirn, das auf den Globus geriet, getan haben? Vermutlich erstaunte es über seine Anwesenheit und wußte mit sich und dem schmutzigen Vehikel unter seinen Füßen nichts anzufangen. Inzwischen hat man sich an das Gehirn gewöhnt, indem man es so unwichtig nimmt, daß man es nicht einmal ignoriert, aus sich einen Rasta gemacht (zu unterst: schwärzlicher Pole; zu oberst: etwa Senatspräsident) und aus der mit Unrecht so beliebten Natur eine Kulisse für ein wahrhaftig sehr starkes Stück. Dieser zweifellos nicht sonderlich heroische Ausweg aus einem immer noch nicht weidlich genug gewürdigten Dilemma ist zwar vollends reizlos geworden, seit er so absehbar ist (wie albern ist eine Personenwage!), aber eben deshalb sehr geeignet, gewisse Prozeduren vorzunehmen.

3°   Auch einem Lokomotivführer fällt es jährlich wenigstens einmal ein, daß seine Beziehungen zur Lokomotive durchaus nicht zwingend sind und daß er von seinem Ehgespons nicht viel mehr weiß als nach jener warmen Nacht im Bois. (Hätte ich La Villette genannt oder die Theresienwiese, so wären beide Beziehungen gänzlich illusorisch; Fingerzeig für Habili-tanten: »Über topographische Anatomie, psychischen Luftwechsel und Verwandtes.«) Im Hotel Ronceroy oder in Picadilly kommt es hingegen bereits vor, daß es verteufelt unklar wird, warum man jetzt gerade auf seine Hand glotzt und trillert, sich kratzen hört und seinen Speichel liebt. Diesem scheinbar so friedlichen Exempel ist die Möglichkeit, daß das penetrante Gefühl der Langeweile zu einem Gedanken über ihre Ursache sich emporturnt, am dicksten. Solch ein lieblicher Moment arrangiert den Desperado (o was für ein Süßer!), der als Prophet, Künstler, Anarchist, Staatsmann usw., kurz als Rasta Unfug treibt.

4°   Napoleon, ein doch wirklich tüchtiger Junge, behauptete unverantwortlicher Weise, der wahre Beruf des Menschen sei, den Acker zu bestellen. Wieso? Fiel ein Pflug vom Himmel? Aber etwas hat der homo doch mitbekommen, supponiere ich mir eine liebesunterernährte Damenstimme. Nun, jedenfalls nicht das Ackern; und Kräuter und Früchte sind schließlich auch schon damals dagewesen. (Bitte hier bei den deutschen Biogeneten nachzulesen, warum ich Unrecht habe. Es wird jedoch sehr langweilen. Deshalb habe ich recht.) Letzthin also: auch Napoleon, der ansonsten sehr erfreulich frische Hemmungslosigkeiten äußerte, war streckenweise Stimmungsathlet. Schade. Sehr schade.

5°   Alles ist nämlich rastaquouèresk, meine lieben Leute. Jeder ist (mehr oder weniger) ein überaus luftiges Gebilde, dieu merci. (Nur nebenbei: 10 centimes dem Kühnen, der mir nachweist, daß etwas letztlich nicht willkürlich als Norm herumspritzt!) Anders würde übrigens ein epidemisches Krepieren anheben. Diagnose: rabiate Langeweile; oder: panische Resignation; oder: transzendentales Ressentiment usw. (Kann, beliebig fortgesetzt, zum Register sämtlicher unbegabter Zustände erhoben werden.) Der jeweilige landläufige Etat der bewohnten Erdoberfläche ist deshalb lediglich das folgerichtige Resultat einer unerträglich gewordenen Langeweile. Langeweile: nur als harmlosestes Wort. Jeder suche sich die ihm schmackhafteste Vokabel für seine Minderwertigkeit! (Herziges Sujet für ein scharfes Pfänderspiel!)

6°   Es ist allgemein bekannt, daß ein Hund keine Hängematte ist; weniger, daß ohne diese zarte Hypothese Malern die Schmierfaust herunterfiele; und überhaupt nicht, daß Interjektionen am treffendsten sind: Weltanschauungen sind Vokabelmischungen … Sapristi, hier muß die Prozedur ein wenig erweitert werden. (Kleines Bild: leichte Kraneotomie!) Nun: alle Stilisten sind nicht einmal Esel. Denn Stil ist nur eine Verlegenheitsgeste wildester Struktur. Und da Verlegenheit (nach kurzer Beschlafung) als perfekteste Reue über sich selber sich entschält, ist merkbar, daß die Stilisten aus Besorgnis, für Esel gehalten zu werden, um vieles schlechter als diese sich benehmen. (Esel haben nämlich zwei weitaus überragende Eigenschaften: sie sind störrisch und faul.) Der Unterschied zwischen Paul Oskar Höcker, Dostojewskij, Zobeltitz und Wedekind blaut daher lediglich in der Kontenance innerhalb der besagten Verlegenheitsgeste. Ob einer in richtig funktionierenden Trochäen oder sonstwie bilderstrotzend (alle Bilder sind plausibel) oder sozusagen expressionistisch mir vorsäuselt, daß ihm übel war, und, seit er es schwarz auf weiß hat, besser wurde, oder, daß ihm zwar wohl war (schau, schau!), aber übel wurde, als er das nicht mehr begriff (teremtete!): es ist immer dieselbe untereselhafte Anstrengung, aus der Verlegenheit sich ziehen zu wollen, indem man sie (stilisierend, ogottogotto) – gestaltet. Gräßliches Wort! Das heißt: aus dem Leben, das unwahrscheinlich ist bis in die Fingerspitzen, etwas Wahrscheinliches machen! Über dieses Chaos von Dreck und Rätsel einen erlösenden Himmel stülpen!! Den Menschenmist ordnend durchduften!!! Ich danke … Gibt es ein idiotischeres Bild als einen (puh!) – genial stilisierenden Kopf, der bei dieser Beschäftigung mit sich selbst kokettiert? (Nur nebenbei: meine Gunst dem Tüchtigen, der mir nachweist, daß das Kokettieren bei Ethbolden nicht stattfindet!) O, über die so überheitere Verlegenheit, die mit einer Verbeugung vor sich selber endet! Deshalb (dieser stilisierten Krümmung wegen) werden Philosophien und Romane erschwitzt, Bilder geschmiert, Plastiken gebosselt, Symphonien hervorgeächzt und Religionen gestartet! Welch ein erschütternder Ehrgeiz, zumal diese eitlen Eseleien durchwegs gründlich (sc. besonders gründlich in deutschen Gauen) mißglückt sind!! Alles Unfug!!!

7°   Die schönste Landschaft, die ich kenne, ist das Café Barratte bei den Pariser Hallen. Aus zwei Gründen. Ich machte daselbst die Bekanntschaft Germaines, die u. a. zischte: »C’est possible que je serais bonne, si je savais pourquoi.« Hämisch gestehe ich es ein: ich erblaßte vor Freude. Und dann hat in diesem freundlichen Lokal Jean Kartopaïtès, der sonst nur mit Herren ohne Stehkragen sich einließ, den Verkehr mit mir brüsk abgebrochen, weil ich so unvorsichtig war, den Namen Picasso fallen zu lassen.

8°   Ach die lieben weißen Porzellanteller! Denn … Nun denn: ehemals wollte man, was man nicht aussprechen zu können vorgab, also gar nicht hatte, malerisch vermitteln. (Juchhu! Als ob man auch nur eine Vizekönigin fein säuberlich abkonterfeien könnte, wenn man nicht wüßte, daß sie kein Fauteuil ist!) Wohin diese Sudelburschen geraten würden, wenn sie aufhörten, Ölphotos zu wichsen, war somit längst vorabzulächeln. (Hinter die Ohren: mehr Mädchen, bitte, mehr Mädchen!) Aber die Impressionen! Nun: was ist erreicht, wenn man nach heftigem Blinzeln sich zurechtbauen kann, daß jener Kartoffelvertilger auch nur eine Kuhe ersah, aber erst so sich vorzublähen vermochte, daß es seine Kuhe gewesen sei, eine ganz besondere Kuhe, kurz: die Kuh und erlösend? Teremtete! Aber die Expressionen! Haho: was ist erreicht, wenn man gefixt sieht, was ein Adjektiv leistet, und, da es auch diesem bisher mißglückt ist, orientierend zu wirken, also noch ungemalt schon mißglückt wäre? Aber die Kubisten, die Futuristen! Hoppla: die Champions dieser geradezu ultraviolett mißglückten Pinselritte ließen zwar ausblasen, sie würden die (puh!) – liberatio gleichsam von der hohen Stilschaukel herab landen (Trapezritt! Trapezritt! Etwa so: »Wir werden diese Verlegenheit schon schaukeln!«), erreichten aber nicht nur, daß nicht einmal ein Chignon ins Schaukeln geriet, sondern vielmehr gerade die wildesten Esel in geregeltem Trapp arrivierten. (O wurfbesprungener Sagot! etc. pp. pp.) Unfug! Unfug!! Unfug!!!

9°   Das sub 8 im Grunde bereits für schlecht Erwachsene geredet: Fibelhaftes, außerordentlich Fibelhaftes. Immerhin noch zur Vorsicht zu notieren, meine Kleinen:

a) Plastik: sehr unhandliches Spielzeug, verschärft durch metaphysischen Augenaufschlag.

b) Musike: Pantopon- oder Ero-Ersatz. (Längst unterfibelhaft!)

c) Lyrik: ein Knabe befindet sich in der Klemme. Rezept: frage ihn, von welcher er träumt, und du kannst ihm sagen, mit welcher er nicht geschlafen hat. (Selbstverständlich befindet man sich stets in der Klemme; in der c-Klemme aber hat man sich denn doch nicht mehr zu befinden.)

d) Roman und so: die Herren reden wie am Spieß oder neuerdings überhaupt nicht mehr. Noch ein wenig Schweiß und die Sache glückt: Belletristik! (Am Spieß befindet man sich gar oft. Ein Samuel-Fischer-Band aber ist ein zu langwieriges Mittel, die Luftlinie Syrakus-Butterbrot-Zentralheizung herzustellen.) e) Drama, Tragödie, Komödie: die Klemme spitzt sich zu, spießt sich und erregt im Publikum die dumpfe Vermutung, daß ein Cinéma wohl doch das beste zweite Dessert sei (mangels Poussagen).

In summa, meine Kleinen: die Kunst war eine Kinderkrankheit.

10°   hat man nie einen Gedanken. Bestenfalls tut der Gedanke so, als ob. (Immer aber sein Einherredner!) Jedes Wort ist eine Blamage, wohlgemerkt. Man bläst immer nur Sätze zirkusähnlichsten Schwunges über Kettenbrücken (oder auch: Pflanzen, Schlüchte, Betten). Günstiger Vorschlag: man figuriere sich vor dem Einschlafen mit heftigster Deutlichkeit den psychischen Endzustand eines Selbsttöters, der durch eine Kugel sich endlich Selbstbewußtsein einloten will. Es gelingt jedoch nur dann, wenn man sich zuvor blamiert. Schwer blamiert. Entsetzlich blamiert. Ganz maßlos blamiert. So grauenhaft blamiert, daß alles mitblamiert ist. Daß jeder metaphorisch auf den Hintern fällt. Und niest.

11°   Interjektionen sind am treffendsten. (Ach die lieben weißen Porzellanteller!) … Man muß diese Amphibien und Lurche, die sich für zu gut halten, Esel zu sein, zur Raison bringen. Indem man sie ihnen austreibt. Auspeitscht! Man muß dieses schauderhafte überlebensgroße Ansichtskartenblau, daß diese trüben Rastas an den He-Ho-Hu-Ha- (wie bitte?) Himmel hinaufgelogen haben, herunterfetzen. Man muß sein Haupt zag, aber sicher an das des Nachbarn titschen wie an ein faules Ei (gut, gut). Man muß das gänzlich Unbeschreibliche, das durchaus Unaussprechbare so unerträglich nah heranbrüllen, daß kein Hund länger so gescheit daherleben möchte, sondern viel dümmer. Daß alle den Verstand verlieren und ihren Kopf wiederbekommen. Man muß ihnen die Prozente, die Bibelsprüche, die Mädchenbusen, die Pfannkuchen, die Gauguins, die Rotztücher, die Schnäpse, die Strumpfbänder, die Abortdeckel, die Westen, die Wanzen, all das Zeugs, das sie gleichzeitig denken, tun und wälzen, so scharf hintereinander vor den Kinnbogen schieben, daß ihnen endlich so wohl wird, wie ihnen bislang bloß schwappig war. Man muß. Man muß eben. Teremtete!

12°   Damenseidenstrümpfe sind unschätzbar. Eine Vizekönigin ist ein Fauteuil. Weltanschauungen sind Vokabelmischungen. Ein Hund ist eine Hängematte. L’art est mort. Vive Dada!

 

 

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1919 trug Walter Serner Teile aus Letzte Lockerung vor. Dabei kam es auf der Dada-Soiree Non plus ultra in Zürich zu einem Aufruhr des Publikums, und Serner wurde von der Bühne gejagt. Sein Manifest steht in eindeutigem Zusammenhang mit dem von Tristan Tzara verfassten Manifest Dada 1918 – jedoch hatte Serner sein Manifest bereits vor dem Erscheinen von Tzaras Text verfasst. Wer wen beeinflusste, lässt sich letztlich nicht mehr nachweisen.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.