Zwei Rätselbilder

 

Unter den Ansichtskarten meiner Sammlung gab es einige wenige, deren Schriftseite mir deutlicher in der Erinnerung haftet als ihr Bild. Sie trugen die schöne, leserliche Unterschrift: Helene Pufahl. Das war der Name meiner Lehrerin. Das P, mit dem er anhob, war das P von Pflicht, von Pünktlichkeit, von Primus; f hieß folgsam, fleißig, fehlerfrei, und was das l am Ende anging, war es die Figur von lammfromm, lobenswert und lernbegierig. So wäre diese Unterschrift, wenn sie, wie die semitischen, aus Konsonanten allein bestanden hätte, nicht nur Sitz der kalligraphischen Vollkommenheit gewesen, sondern die Wurzel aller Tugenden.

Knaben und Mädchen aus den besten Häusern des bürgerlichen Westens saßen in Fräulein Pufahls Zirkel. Im einzelnen nahm man es nicht genau, so daß sich in den Kreis der Bürgerlichen auch eine Adlige verirren konnte. Luise von Landau hieß sie, und der Name hatte mich bald in seinen Bann gezogen. Bis heute blieb er mir lebendig, doch nicht darum. Er war vielmehr der erste unter denen Gleichaltriger, auf den ich den Akzent des Todes fallen hörte. Das war, nachdem ich, unserem Zirkel schon entwachsen, ein Angehöriger der Sexta war. Und wenn ich nun ans Lützowufer kam, suchte ich mit den Blicken stets ihr Haus. Zufällig lag es einem Gärtchen gegenüber, das, am anderen Ufer, in das Wasser hängt. Und das verwob sich mit der Zeit so innig mit dem geliebten Namen, daß ich schließlich zur Überzeugung kam, das Blumenbeet, das drüben unberührbar prange, sei der Kenotaph der kleinen Abgeschiedenen.

Fräulein Pufahl wurde abgelöst von Herrn Knoche. Nun war ich eingeschult. Was sich im Klassenzimmer zutrug, stieß mich meist ab. Doch nicht bei einem seiner Strafgerichte ist es, daß die Erinnerung Herrn Knoche trifft, vielmehr im Amt des Sehers, der das Künftige voraussagt, und das ihm nicht schlecht anstand. Wir hatten Singen. Geübt wurde das Reiterlied aus »Wallenstein«: »Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! / Ins Feld, in die Freiheit gezogen! / Im Felde, da ist der Mann noch was wert, / Da wird das Herz noch gewogen.« Herr Knoche wollte von der Klasse wissen, was denn der letzte Vers bedeuten solle. Natürlich konnte niemand Antwort geben. Herrn Knoche aber schien das eben recht, und er erklärte: »Das werdet ihr verstehen, wenn ihr groß seid.«

Damals erschien mir das Ufer des Erwachsenseins durchs Flußband vieler Jahre von dem meinen so geschieden wie jenes Ufer des Kanals, von dem das Blumenbeet herübersah und das beim Spaziergang an der Hand des Kinderfräuleins nie betreten wurde. Später, als mein Weg von keinem mehr mir vorgeschrieben wurde und ich auch schon das »Reiterlied« verstand, kam ich manchmal dicht in der Nähe des Beetes am Landwehrkanal vorüber. Aber nun schien es seltener zu blühen. Und von dem Namen, den wir einst zusammen festgehalten hatten, wußte es nicht mehr als jener Vers des Reiterlieds, jetzt, da ich ihn verstand, von jenem Sinn enthielt, den uns Herr Knoche in der Gesangsstunde verheißen hatte. Das leere Grab und das gewogene Herz – zwei Rätselbilder, deren Lösung mir das Leben weiter schuldig bleiben wird.

 

 

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Berliner Kindheit um neunzehnhundert ist eine Sammlung autobiografischer Skizzen. Die einzelnen Texte verbinden sich nicht zu einer zusammenhängenden Erzählung, sondern geben eher einzelne Bilder und Erinnerungs-Bruchstücke wieder, etwa das Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Teich oder den Nähkasten seiner Mutter. Dabei versucht Walter Benjamin, sich in die noch unwissende, staunende Haltung des Kindes zurückzuversetzen und dessen Weltsicht in kunstvollen sprachlichen Bildern und Vergleichen wiederzugeben.