Verklärte Nacht

 

Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;

der Mond läuft mit, sie schaun hinein.

Der Mond läuft über hohe Eichen,

kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,

in das die schwarzen Zacken reichen.

Die Stimme eines Weibes spricht:

 

Ich trag ein Kind, und nit von dir,

ich geh in Sünde neben dir.

Ich hab mich schwer an mir vergangen;

ich glaubte nicht mehr an ein Glück

und hatte doch ein schwer Verlangen

nach Lebensfrucht, nach Mutterglück

und Pflicht – da hab ich mich erfrecht,

da ließ ich schaudernd mein Geschlecht

von einem fremden Mann umfangen

und hab mich noch dafür gesegnet.

Nun hat das Leben sich gerächt,

nun bin ich dir, o dir begegnet.

 

Sie geht mit ungelenkem Schritt,

sie schaut empor, der Mond läuft mit;

ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.

Die Stimme eines Mannes spricht:

 

Das Kind, das du empfangen hast,

sei deiner Seele keine Last,

o sieh, wie klar das Weltall schimmert!

Es ist ein Glanz um Alles her,

du treibst mit mir auf kaltem Meer,

doch eine eigne Wärme flimmert

von dir in mich, von mir in dich;

die wird das fremde Kind verklären,

du wirst es mir, von mir gebären,

du hast den Glanz in mich gebracht,

du hast mich selbst zum Kind gemacht.

 

Er faßt sie um die starken Hüften

ihr Atem mischt sich in den Lüften,

zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht.

 

 

 

 

Richard Dehmel 1905 auf einer Fotografie von Rudolf Dührkoop

Verklärte Nacht für Streichsextett ist das Opus 4 des österreichischen Komponisten Arnold Schönberg und wurde inspiriert durch ein gleichnamiges Gedicht von Richard Dehmel. Die Uraufführung des 1899 entstandenen Werks fand 1902 statt. Schönberg selbst erstellte 1917 eine Fassung für Streichorchester, die er 1943 nochmals revidierte.

Das fünfstrophige, der Partitur vorangestellte Gedicht beschreibt den Gang eines Paars im Mondschein, bei dem die Frau ihrem Liebhaber gesteht, dass sie von einem anderen ein Kind erwartet. Dabei trifft sie auf großmütiges Verständnis bei dem Mann, der das Kind als eigenes annehmen will.

Schönberg komponierte das Werk im Herbst 1899 während eines Ferienaufenthalts mit seinem Kompositionslehrer Alexander von Zemlinsky und dessen Schwester Mathilde (die er 1901 heiraten sollte) im niederösterreichischen Payerbach. Laut Autograph war die Komposition am 1. Dezember 1899 abgeschlossen. Programmatische Vorlage dieser ersten größeren, mit Opuszahlen versehenen Komposition Schönbergs bildet das Gedicht „Verklärte Nacht“ aus der 1896 veröffentlichten Sammlung „Weib und Welt“ des Dichters Richard Dehmel. Schönberg hatte bereits in seinen Klavierliedern op. 2 und 3 unter anderem Gedichte Dehmels vertont.

Als klar intendierte Programmmusik überträgt die Komposition Schönbergs für Streichsextett (2 Violinen, 2 Violen und 2 Violoncelli), deren Aufführungsdauer etwa 25 bis 30 Minuten beträgt, die Idee der Sinfonischen Dichtung in den Bereich der Kammermusik. „Verklärte Nacht“ ist einsätzig, besteht jedoch aus fünf pausenlos ineinander übergehenden Teilen, die den wechselnden Stimmungen der Gedichtstrophen folgen.

„Verklärte Nacht“ ist ein Werk aus der ersten, tonalen Schaffensphase Schönbergs und steht in der Grundtonart d-Moll. Kompositorisch greift Schönberg auf ein von Johannes Brahms häufig angewandtes Verfahren zurück, thematische Arbeit durch permanente Weiterverarbeitung kleinerer Motive zu ersetzen; Schönberg selber bezeichnete dieses Brahms’sche Prinzip später als „entwickelnde Variation“. Harmonisch steht „Verklärte Nacht“ hingegen stark in der Nachfolge von Richard Wagner. Die in diesem Werk erkennbare Alterationsharmonik, melodischen Sprünge und Klanggesten sind Elemente, „die den späteren Schönberg ausmachen“.

1950 verfasste Schönberg selbst Programm-Anmerkungen zu „Verklärte Nacht“, die anhand von 16 Notenbeispielen verdeutlichen, dass einzelne Motive und Formteile durchaus bestimmten Textpassagen des Gedichts zugeordnet werden können.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.