HOMER und die klassische Philologie

 

Ueber die klassische Philologie giebt es in unseren Tagen keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung. Dies empfindet man in den Kreisen der Gebildeten überhaupt ebenso als mitten unter den Jüngern jener Wissenschaft selbst. Die Ursache liegt in dem vielspältigen Charakter derselben, in dem Mangel einer begrifflichen Einheit, in dem unorganischen Aggregatzustande verschiedenartiger wissenschaftlicher Thätigkeiten, die nur durch den Namen »Philologie« zusammengebunden sind. Man muss nämlich ehrlich bekennen, dass die Philologie aus mehreren Wissenschaften gewissermassen geborgt und wie ein Zaubertrank aus den fremdartigsten Säften, Metallen und Knochen zusammen gebraut ist, ja dass sie ausserdem noch ein künstlerisches und auf aesthetischem und ethischem Boden imperativisches Element in sich birgt, das zu ihrem rein wissenschaftlichen Gebahren in bedenklichem Widerstreite steht. Sie ist ebenso wohl ein Stück Geschichte als ein Stück Naturwissenschaft als ein Stück Aesthetik: Geschichte, insofern sie die Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen begreifen will: Naturwissenschaft, so weit sie den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt zu ergründen trachtet: Aesthetik endlich, weil sie aus der Reihe von Alterthümern heraus das sogenannte »klassische« Alterthum aufstellt, mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu halten. Dass diese durchaus verschiedenartigen wissenschaftlichen und aesthetisch-ethischen Triebe sich unter einen gemeinsamen Namen, unter eine Art von Scheinmonarchie zusammengethan haben, wird vor allem durch die Thatsache erklärt, dass die Philologie ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist. Unter dem Gesichtspunkte des Pädagogischen war eine Auswahl der lehrenswerthesten und bildungförderndsten Elemente geboten, und so hat sich aus einem praktischen Berufe, unter dem Drucke des Bedürfnisses jene Wissenschaft oder wenigstens jene wissenschaftliche Tendenz entwickelt, die wir Philologie nennen.

Die genannten verschiedenen Grundrichtungen derselben sind nun in bestimmten Zeiten bald mit stärkerem bald mit schwächerem Nachdrucke herausgetreten, im Zusammenhang mit dem Kulturgrade und der Geschmacksentwicklung der jeweiligen Periode; und wiederum pflegen die einzelnen Vertreter jener Wissenschaft die ihrem Können und Wollen entsprechendsten Richtungen immer als die Centralrichtungen der Philologie zu begreifen, so dass die Schätzung der Philologie in der öffentlichen Meinung sehr abhängig ist von der Wucht der philologischen Persönlichkeiten.

In der Gegenwart nun d. h. in einer Zeit, die fast in jeder möglichen Richtung der Philologie ausgezeichnete Naturen erlebt hat, hat eine allgemeine Unsicherheit des Urtheils überhand genommen und zugleich damit eine durchherrschende Erschlaffung der Theilnahme an philologischen Problemen. Ein solcher unentschiedener und halber Zustand der öffentlichen Meinung trifft eine Wissenschaft insofern empfindlich, als die offenen und geheimen Feinde derselben mit viel grösserem Erfolge arbeiten können. An solchen Feinden hat aber gerade die Philologie eine grosse Fülle. Wo trifft man sie nicht, die Spötter, die immer bereit sind, den philologischen „Maulwürfen“ einen Hieb zu versetzen, dem Geschlecht, das das Staubschlucken ex professo treibt, das die zehnmal aufgeworfene Erdscholle noch das elftemal aufwirft und zerwühlt. Für diese Art von Gegnern ist aber doch die Philologie ein freilich unnützer, immerhin harmloser und unschädlicher Zeitvertreib, ein Objekt des Scherzes, nicht des Hasses. Dagegen lebt ein ganz ingrimmiger und unbändiger Hass gegen die Philologie überall dort, wo das Ideal als solches gefürchtet wird, wo der moderne Mensch in glücklicher Bewunderung vor sich selbst niederfällt, wo das Hellenenthum als ein überwundener, daher sehr gleichgültiger Standpunkt betrachtet wird. Diesen Feinden gegenüber müssen wir Philologen immer auf den Beistand der Künstler und der künstlerisch gearteten Naturen rechnen, da sie allein nachfühlen können, wie das Schwert des Barbarenthums über dem Haupte jedes Einzelnen schwebt, der die unsägliche Einfachheit und edle Würde des Hellenischen aus den Augen verliert, wie kein noch so glänzender Fortschritt der Technik und Industrie, kein noch so zeitgemässes Schulreglement, keine noch so verbreitete politische Durchbildung der Masse uns vor dem Fluche lächerlicher und skythischer Geschmacksverirrungen und vor der Vernichtung durch das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen schützen können.

Während von den genannten beiden Klassen von Gegnern die Philologie als Ganzes scheel angesehen wird: giebt es dagegen zahlreiche und höchst mannichfaltige Anfeindungen bestimmter Richtungen der Philologie, Kämpfe von Philologen gegen Philologen ausgekämpft, Zwistigkeiten rein häuslicher Natur, hervorgerufen durch einen unnützen Rangstreit und gegenseitige Eifersüchteleien, vor allem aber durch die schon betonte Verschiedenheit, ja Feindseligkeit der unter den Namen Philologie zusammengefassten, doch nicht verschmolzenen Grundtriebe.

Die Wissenschaft hat das mit der Kunst gemein, dass ihr das Alltäglichste völlig neu und[1] anziehend, ja wie durch die Macht einer Verzauberung als eben geboren und jetzt zum ersten Male erlebt erscheint. Das Leben ist werth gelebt zu werden, sagt die Kunst, die schönste Verführerin; das Leben ist werth, erkannt zu werden, sagt die Wissenschaft. Bei dieser Gegenüberstellung ergiebt sich der innere und sich oft so herzzerreissend kundgebende Widerspruch im Begriff und demnach in der durch diesen Begriff geleiteten Thätigkeit der klassischen Philologie. Stellen wir uns wissenschaftlich zum Alterthum, mögen wir nun mit dem Auge des Historikers das Gewordene zu begreifen suchen, oder in der Art des Naturforschers die sprachlichen Formen der alterthümlichen Meisterwerke rubrizieren, vergleichen, allenfalls auf einige morphologische Gesetze zurückbringen: immer verlieren wir das wunderbar Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Athmosphäre, wir vergessen jene sehnsüchtige Regung, die unser Sinnen und Geniessen mit der Macht des Instinktes, als holdeste Wagenlenkerin, den Griechen zuführte. Von hier aus soll auf eine ganz bestimmte und zunächst sehr überraschende Gegnerschaft aufmerksam gemacht werden, die die Philologie immer am meisten zu bedauern hat. Eben nämlich aus denjenigen Kreisen, auf deren Beistand wir am sichersten rechnen müssen, der künstlerischen Freunde des Alterthums, der warmen Verehrer hellenischer Schönheit und edler Einfalt pflegen mitunter verstimmte Töne laut zu werden, als ob gerade die Philologen selbst die eigentlichen Gegner und Verwüster des Alterthums und der alterthümlichen Ideale seien. Den Philologen warf es Schiller vor, dass sie den Kranz des Homer zerrissen hätten. Goethe war es, der, früher selbst ein Anhänger der Wolfischen Homeransichten, seinen «Abfall» in diesen Versen kundgab: «Scharfsinnig habt Ihr, wie Ihr seid, von aller Verehrung uns befreit, und wir bekannten überfrei, dass Ilias nur ein Flickwerk sei. Mög’ unser Abfall niemand kränken; denn Jugend weiss uns zu entzünden, dass wir ihn lieber als Ganzes denken, als Ganzes freudig ihn empfinden». Für diesen Mangel an Pietät und Verehrungslust, meint man wohl, müsse der Grund tiefer liegen: und viele schwanken, ob es den Philologen überhaupt an künstlerischen Fähigkeiten und Empfindungen fehle, so dass sie unfähig seien dem Ideal gerecht zu werden, oder ob in ihnen der Geist der Negation, eine destruktive bilderstürmerische Richtung mächtig geworden sei. Wenn aber selbst die Freunde des Alterthums mit derartigen Bedenklichkeiten und Zweifeln den Gesammtcharakter der jetzigen klassischen Philologie als etwas durchaus fragwürdiges bezeichnen, welchen Einfluss müssen dann die Ausbrüche des «Realisten» und die Phrasen der Tageshelden bekommen? Letzteren zu antworten und an dieser Stelle dürfte im Hinblick auf den hier versammelten Kreis von Männern durchaus unzutreffend sein; wenn es mir nicht ergehen soll, wie jenem Sophisten, der in Sparta den Heracles öffentlich zu loben und zu vertheidigen unternahm, aber von dem Rufe unterbrochen wurde: «Wer hat ihn denn getadelt?» Dagegen kann ich mich des Gedankens nicht entschlagen, dass auch in diesem Kreis hier und dort einige jener Bedenken nachklingen, wie sie gerade häufig aus dem Munde edler und künstlerisch befähigter Menschen zu hören sind, ja wie sie ein redlicher Philolog wahrhaftig nicht etwa in den dumpfen Momenten herabgedrückter Stimmung auf das quälendste zu empfinden hat. Für den Einzelnen giebt es auch gar keine Rettung vor dem vorher geschilderten Zwiespalt: was wir aber behaupten und bannerartig hoch halten, das ist die Thatsache, dass die klassische Philologie in ihrem grossen Ganzen nichts mit diesen Kämpfen und Betrübungen ihrer einzelnen Jünger zu thun hat. Die gesammte wissenschaftlich-künstlerische Bewegung dieses sonderbaren Centauren geht mit ungeheurer Wucht, aber cyklopischer Langsamkeit darauf aus, jene Kluft zwischen dem idealen Alterthum – das vielleicht nur die schönste Blüthe germanischer Liebessehnsucht nach dem Süden ist – und dem realen zu überbrücken; und damit erstrebt die klassische Philologie nichts als die endliche Vollendung ihres eigensten Wesens, völliges Verwachsen und Einswerden der anfänglich feindseligen und nur gewaltsam zusammengebrachten Grundtriebe. Mag man auch von Unerreichbarkeit des Zieles reden, ja das Ziel selbst als eine unlogische Forderung bezeichnen – das Streben, die Bewegung auf jener Linie hin ist vorhanden, und ich möchte es versuchen, einmal an einem Beispiel deutlich zu machen, wie die bedeutendsten Schritte der klassischen Philologie niemals vom idealen Alterthum weg, sondern zu ihm hin führen, und wie gerade dort, wo man missbräuchlich vom Umsturz der Heiligthümer redet, nur eben neuere und würdigere Altäre gebaut worden sind. Prüfen wir also von diesem Standpunkte aus die sogenannte homerische Frage, dieselbe, von deren wichtigstem Problem Schiller geredet hat als von einer gelehrten Barbarei.

Mit diesem wichtigsten Problem ist gemeint die Frage nach der Persönlichkeit Homers.

Man hört jetzt allerwärts die nachdrückliche Behauptung, dass die Frage nach der Persönlichkeit Homers eigentlich nicht mehr zeitgemäss sei und von der wirklichen «homerischen Frage» ganz abseits liege. Nun darf man freilich zugeben, dass für einen gegebenen Zeitraum, also z. B. für unsre philologische Gegenwart das Centrum der genannten Frage sich von dem Persönlichkeitsprobleme etwas entfernen könne: macht man doch gerade in der Gegenwart das sorgfältigste Experiment, die homerischen Dichtungen ohne eigentliche Beihülfe der Persönlichkeit, aber als das Werk vieler Personen zu construiren. Wenn man aber das Centrum einer wissenschaftlichen Frage mit Recht dort findet, von wo sich der volle Strom neuer Anschauungen ergossen hat, also an dem Punkte, an dem die wissenschaftliche Einzelforschung sich mit dem Gesammtleben der Wissenschaft und der Cultur berührt, wenn man also nach einer kulturhistorischen Werthbestimmung das Centrum bezeichnet, so muss man auch in dem Bereiche homerischer Forschungen bei der Persönlichkeitsfrage stehen bleiben, als dem eigentlich fruchtbringenden Kern eines ganzen Fragencyklus. An Homer nämlich hat die moderne Welt einen grossen historischen Gesichtspunkt, ich will nicht sagen gelernt, aber zuerst erprobt; und ohne schon hier meine Meinung darüber kund zu geben, ob diese Probe gerade an diesem Objekte mit Glück gemacht ist oder gemacht werden konnte, war doch damit das erste Beispiel für die Anwendung jenes fruchtbaren Gesichtspunktes gegeben. Hier hat man gelernt, in den scheinbar festen Gestalten älteren Völkerlebens verdichtete Vorstellungen zu erkennen, hier hat man zum ersten Male die wunderbare Fähigkeit der Volksseele anerkannt, Zustände der Sitte und des Glaubens in die Form der Persönlichkeit einzugiessen. Nachdem die geschichtliche Kritik sich mit voller Sicherheit der Methode bemächtigt hat, scheinbar konkrete Persönlichkeit verdampfen zu lassen, ist es erlaubt, das erste Experiment als ein wichtiges Ereigniss in der Geschichte der Wissenschaften zu bezeichnen, ganz abgesehen davon, ob es in diesem Falle gelungen ist.

Es ist der gewöhnliche Verlauf, dass einem epochemachenden Funde eine Reihe auffälliger Vorzeichen und vorbereitender Einzelbeobachtungen voranzugehen pflegen. Auch das genannte Experiment hat seine anziehende Vorgeschichte, aber in einer erstaunlich weiten zeitlichen Entfernung. Friedrich August Wolf hat genau dort eingesetzt, wo das griechische Alterthum die Frage aus den Händen fallen liess. Der Höhepunkt, den die literarhistorischen Studien der Griechen und somit auch das Centrum derselben, die Homerfrage, erreichten, war das Zeitalter der grossen alexandrinischen Grammatiker. Bis zu diesem Höhepunkte hat die homerische Frage die lange Kette eines gleichförmigen Entwicklungsprocesses durchlaufen, als deren letztes Glied, zugleich als das letzte, dass dem Alterthum überhaupt erreichbar war, der Standpunkt jener Grammatiker erscheint. Sie begriffen Ilias und Odyssee als Schöpfungen des einen Homer: sie erklärten es für psychologisch möglich, dass Werke so verschiedenen Gesammtcharakters einem Genius entsprungen seien, im Gegensatz zu den Chorizonten, die die äusserste Skepsis zufälliger einzelner Individualitäten des Alterthums, nicht des Alterthums selbst bedeuten. Um den verschiedenen Totaleindruck der beiden Epen bei der Annahme eines Dichters zu erklären, nahm man die Lebensalter zu Hülfe und verglich den Dichter der Odyssee mit der untergehenden Sonne. Für Diversitäten des sprachlichen und gedanklichen Ausdrucks war das Auge jener Kritiker von unermüdlicher Schärfe und Wachsamkeit; zugleich aber hatte man sich eine Geschichte der homerischen Dichtung und ihrer Tradition zurecht gelegt, nach der diese Diversitäten nicht Homer, sondern seinen Redaktoren und Sängern zur Last fielen. Man dachte sich die Gedichte Homers eine Zeit lang mündlich fortgepflanzt und den Unbilden improvisierender mitunter auch vergesslicher Sänger ausgesetzt. In einem gegebenen Zeitpunkte, in der Zeit des Pisistratus sollten die mündlich fortlebenden Fragmente buchmässig gesammelt sein; aber den Redaktoren erlaubte man sich Mattes und Störendes zuzuschieben. Diese ganze Hypothese ist die bedeutendste im Gebiete der Litteraturstudien, die das Alterthum aufzuweisen hat; insbesondre ist die Anerkennung einer mündlichen Verbreitung Homers, im Gegensatz zu der Wucht der Gewohnheit eines büchergelehrten Zeitalters ein bewunderungswerther Höhepunkt antiker Wissenschaftlichkeit. Von jenen Zeiten bis zu denen Friedrich August Wolf’s muss man einen Sprung durch ein ungeheures Vacuum machen; jenseits dieser Grenze finden wir aber die Forschung genau wieder auf dem Punkte, an dem dem Alterthume die Kraft zum Weiterschreiten ausgegangen war: und es ist gleichgültig, dass Wolf als sichere Tradition nahm, was das Alterthum selbst als Hypothese aufgestellt hatte. Als das Charakteristische dieser Hypothese kann man bezeichnen, dass im strengsten Sinne Ernst gemacht werden soll mit der Persönlichkeit Homers, dass Gesetzmässigkeit und innerer Einklang in den Aeusserungen der Persönlichkeit überall vorausgesetzt werden, dass man mit zwei vortrefflichen Nebenhypothesen alles als nichthomerisch wegwischt, was dieser Gesetzmässigkeit widerstrebt. Aber dieser selbe Grundzug, an Stelle eines übernatürlichen Wesens eine greifbare Persönlichkeit erkennen zu wollen, geht gleichfalls durch alle jene Stadien, die bis zu jenem Höhepunkte führen und zwar immer mit grösserer Energie und wachsender begrifflicher Deutlichkeit. Das Individuelle wird immer stärker empfunden und betont, die psychologische Möglichkeit eines Homers immer kräftiger gefordert. Gehen wir von jenem Höhepunkte schrittweise rückwärts, so treffen wir auf die Auffassung des homerischen Problems durch Aristoteles. Ihm gilt Homer als der makellose und unfehlbare Künstler, der sich seiner Zwecke und Mittel wohl bewusst ist: dabei zeigt sich aber in der naïven Hingabe an die Volksmeinung, die Homer auch das Urbild aller komischen Epen, den Margites zutheilte, noch ein Standpunkt der Unmündigkeit in historischer Kritik. Gehen wir von Aristoteles auch rückwärts, so nimmt die Unfähigkeit, eine Persönlichkeit zu fassen, immer mehr zu; immer mehr Gedichte werden auf den Namen des Homer gehäuft, und jedes Zeitalter zeigt seinen Grad von Kritik darin, wie viel und was es als Homerisch bestehen lässt. Man empfindet unwillkürlich bei diesem langsamen Zurückschreiten, dass jenseits Herodot eine Periode liege, in der eine unübersehbare Fluth grosser Epen mit dem Namen Homers identifizirt worden sei.

Versetzen wir uns in das Zeitalter des Pisistratus: so umschloss damals das Wort »Homer« eine Fülle des Ungleichartigsten. Was bedeutete damals Homer? Offenbar fühlte sich jenes Zeitalter ausser Stande, eine Persönlichkeit und die Grenzen ihrer Aeusserungen wissenschaftlich zu umspannen. Homer war hier fast zu einer leeren Hülse geworden. Hier tritt nun die wichtige Frage an uns heran: was liegt vor dieser Periode? Ist die Persönlichkeit[3] Homers, weil man sie nicht fassen konnte, allmählich zu einem leeren Namen verdunstet? Oder hat man damals in naïver Volksweise die gesammte heroische Dichtung verkörpert und sich unter der Figur Homers veranschaulicht? Ist somit aus einer Person ein Begriff oder aus einem Begriff eine Person gemacht worden? Dies ist die eigentliche »homerische Frage«, jenes centrale Persönlichkeitsproblem.

Die Schwierigkeit, auf dieselbe zu antworten, vermehrt sich aber, wenn man von einer andern Seite aus, nämlich vom Standpunkte der erhaltenen Gedichte aus, eine Antwort versucht. Wie es heutzutage schwer ist und eine ernste Anstrengung erfordert, um die Paradoxie des Gravitationsgesetzes sich deutlich zu machen, dass nämlich die Erde ihre Bewegungsform ändert, wenn ein anderer Himmelskörper seine Lage im Raume wechselt, ohne dass zwischen beiden ein materielles Band besteht: so kostet es gegenwärtig Mühe, zum vollen Eindruck jenes wunderbaren Problems zu kommen, das aus Hand in Hand wandernd sein ursprüngliches höchst auffälliges Gepräge immer mehr verloren hat. Werke der Dichtung, mit denen zu wetteifern den grössten Genien der Muth entsinkt, in denen ewig unerreichte Musterbilder für alle Kunstperioden gegeben sind: und doch der Dichter derselben ein hohler Name, zerbrechlich, wo man ihn anfasst, nirgends der sichere Kern einer waltenden Persönlichkeit. «Denn wer wagte mit Göttern den Kampf, den Kampf mit dem Einen?» sagt selbst Goethe, der, wenn irgend ein Genius mit jenem geheimnissvollen Problem der homerischen Unerreichbarkeit gerungen hat. Ueber dasselbe hinweg schien der Begriff der Volksdichtung als Brücke zu führen; eine tiefere und ursprünglichere Gewalt als die jedes einzelnen schöpferischen Individuums sollte hier thätig gewesen sein, das glücklichste Volk in seiner glücklichsten Periode, in der höchsten Regsamkeit der Phantasie und der poetischen Gestaltungskraft sollte jene unausmessbaren Dichtungen erzeugt haben. In dieser Allgemeinheit hat der Gedanke einer Volksdichtung etwas Berauschendes; man empfindet die breite übermächtige Entfesselung einer volksthümlichen Eigenschaft mit künstlerischem Behagen und freut sich dieser Naturerscheinung, wie man sich einer unaufhaltsam hinströmenden Wassermasse freut. Sobald man sich aber diesem Gedanken nähern und ins Angesicht schauen wollte, so[4] setzte man unwillkürlich an Stelle der dichtenden Volksseele eine dichterische Volksmasse, eine lange Reihe von Volksdichtern, an denen das Individuelle nichts bedeutete, sondern in denen der Wogenschlag der Volksseele, die anschauliche Kraft des Volksauges, die ungeschwächteste Fülle der Volksphantasie mächtig war: eine Reihe von urwüchsigen Genien, einer Zeit, einer Dichtgattung, einem Stoffe zugehörig.

Aber eine solche Vorstellung machte mit Recht misstrauisch: sollte dieselbe Natur, die mit ihrem seltensten und köstlichsten Erzeugnisse, dem Genius so karg und haushälterisch umgeht, gerade an einem einzigen Punkte in unerklärlicher Laune verschwendet haben? Hier kehrte nun die bedenkliche Frage wieder; ist nicht vielleicht auch mit einem einzigen Genius auszukommen und der vorhandene Bestand jener unerreichbaren Vortrefflichkeit zu erklären? Jetzt schärfte sich der Blick für das, worin jene Vortrefflichkeit und Singularität zu finden sei. Unmöglich in der Anlage der Gesammtwerke, sagte die eine Partei, denn diese ist durch und durch mangelhaft, wohl aber in dem einzelnen Liede, in dem Einzelnen überhaupt, nicht im Ganzen. Dagegen machte eine andere Partei für sich die Autorität des Aristoteles geltend, der gerade in dem Entwurfe und der Auswahl des Ganzen die »göttliche« Natur Homers am höchsten bewunderte; wenn dieser Entwurf nicht so deutlich hervortrete, so sei dies ein Mangel, der der Ueberlieferung, nicht dem Dichter zuzumessen sei, die Folge von Ueberarbeitungen und Einschiebungen, durch die der ursprüngliche Kern allmählich verhüllt worden sei. Je mehr die erstere Richtung nach Unebenheiten, Widersprüchen und Verwirrungen suchte, um so entschiedener warf die andere weg, was nach ihrem Gefühl den ursprünglichen Plan verdunkelte, um womöglich das ausgeschälte Urepos in den Händen zu haben. Es lag im Wesen der zweiten Richtung, dass sie am Begriff eines epochemachenden Genius als des Stifters grosser kunstvoller Epen festhielt. Dagegen schwankte die andere Richtung hin und her zwischen der Annahme eines Genius und einer Anzahl geringerer Nachdichter: und einer anderen Hypothese, die überhaupt nur einer Reihe tüchtiger aber mittelmässiger Sängerindividualitäten bedarf, aber ein geheimnissvolles Fortströmen, einen tiefen künstlerischen Volkstrieb voraussetzt der sich in dem einzelnen Sänger als einem fast gleichgültigen Medium offenbart. In der Consequenz dieser Richtung liegt es, die unvergleichlichen Vorzüge der homerischen Dichtungen als den Ausdruck jenes geheimnissvoll hinströmenden Triebes darzustellen.

Alle diese Richtungen gehen davon aus, dass das Problem des gegenwärtigen Bestandes jener Epen zu lösen sei vom Standpunkte eines aesthetischen Urtheils aus: man erwartet die Entscheidung von der richtigen Festsetzung der Grenzlinie zwischen dem genialen Individuum und der dichterischen Volksseele. Giebt es charakteristische Unterschiede zwischen den Aeusserungen des genialen Individuums und der dichterischen Volksseele?

Aber diese ganze Gegenüberstellung ist eine unberechtigte und führt in die Irre. Dieses lehrt folgende Erwägung. Es giebt in der modernen Aesthetik keinen gefährlicheren Gegensatz als den von Volksdichtung und Individualdichtung oder, wie man zu sagen pflegt, Kunstdichtung. Es ist dies der Rückschlag oder wenn man will der Aberglaube, den die folgenreichste Entdeckung der historisch-philologischen Wissenschaft nach sich zog, die Entdeckung und Würdigung der Volksseele. Mit ihr nämlich war erst der Boden geschaffen für eine annähernd wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte, die bis dahin und in vielen Formen bis jetzt eine einfache Stoffsammlung war, mit der Aussicht, dass dieser Stoff sich ins Unendliche häufe, und es nie gelingen werde Gesetz und Regel dieses ewig neuen Wellenschlags zu entdecken. Jetzt begriff man zum ersten Male die längst empfundene Macht grösserer Individualitäten und Willenserscheinungen, als es das verschwindende Minimum des einzelnen Menschen ist; jetzt erkannte man, wie alles wahrhaft Grosse und Weithintreffende im Reiche des Willens seine am tiefsten eingesenkte Wurzel nicht in der so kurzlebigen und unkräftigen Einzelgestalt des Willens haben könne; jetzt endlich fühlte man die grossen Masseninstinkte, die unbewussten Völkertriebe heraus als die eigentlichen Träger und Hebel der sogenannten Weltgeschichte. Aber die neu aufleuchtende Flamme warf auch ihren Schatten: und dieser ist eben jener vorhin bezeichnete Aberglaube, der die Volksdichtung der Individualdichtung entgegenstellt und dabei in bedenklichster Art den unklar gefassten Begriff der Volksseele zu dem des Volksgeistes erweitert. Durch den Missbrauch eines allerdings verführerischen Schlusses nach der Analogie war man dazu gekommen, auch auf das Reich des Intellektes und der künstlerischen Ideen jenen Satz von der grösseren Individualität anzuwenden, der seinen Werth nur im Reiche des Willens hat. Niemals ist der so unschönen und unphilosophischen Masse etwas Schmeichelhafteres angethan worden als hier, wo man ihr den Kranz des Genie’s auf das kahle Haupt setzte. Man stellte sich ungefähr vor als ob um einen kleinen Kern herum immer neue Rinden sich ansetzen, man dachte sich jene Massendichtungen etwa entstanden, wie die Lawinen entstehen, nämlich im Laufe, im Fluss der Tradition. Jenen kleinen Kern aber war man geneigt möglichst klein anzunehmen, so dass man ihn auch gelegentlich abrechnen konnte, ohne von der gesammten Masse etwas zu verlieren. Dieser Anschauung ist also Ueberlieferung und Ueberliefertes geradezu dasselbe.

Nun aber existirt in der Wirklichkeit ein solcher Gegensatz von Volksdichtung und Individualdichtung gar nicht: vielmehr braucht alle Dichtung und natürlich auch die Volksdichtung ein vermittelndes Einzelindividuum. Jene meist missbräuchliche Gegenüberstellung hat nur dann einen Sinn, wenn man unter Individualdichtung eine Dichtung versteht, die nicht auf dem Boden volksthümlicher Empfindung erwachsen ist, sondern auf einen unvolksthümlichen Schöpfer zurückgeht, und in unvolksthümlicher Athmosphaere, etwa in der Studirstube des Gelehrten gezeitigt worden ist.

Mit dem Aberglauben, der eine dichtende Masse annimmt, hängt der andere zusammen, dass die Volksdichtung auf einen gegebenen Zeitraum bei jedem Volke beschränkt sei und nachher aussterbe: wie es allerdings in der Konsequenz jenes ersten Aberglaubens liegt. An die Stelle dieser allmählich aussterbenden Volksdichtung tritt nach dieser Vorstellung die Kunstdichtung, das Werk einzelner Köpfe, nicht mehr ganzer Massen. Aber dieselben Kräfte, die einstmals thätig waren, sind es auch jetzt noch; und die Form, in der sie wirken, ist genau noch dieselbe geblieben. Der grosse Dichter eines litterarischen Zeitalters ist immer noch Volksdichter und in keinem Sinne weniger als es irgend ein alter Volksdichter in einer illitteraten Periode war. Der einzige Unterschied zwischen beiden betrifft etwas ganz anderes als die Entstehungsart ihrer Dichtungen, nämlich die Fortpflanzung und Verbreitung, kurz die Tradition. Diese ist nämlich ohne Hülfe der fesselnden Buchstaben in ewigem Flusse und der Gefahr ausgesetzt, fremde Elemente, Reste jener Individualitäten in sich aufzunehmen, durch die der Weg der Tradition führt.

Wenden wir alle diese Sätze auf die homerischen Dichtungen an, so ergiebt sich, dass wir mit der Theorie von der dichtenden Volksseele nichts gewinnen, dass wir unter allen Umständen verwiesen werden auf das dichterische Individuum. Es entsteht also die Aufgabe, das Individuelle zu fassen und es wohl zu unterscheiden von dem, was im Flusse der mündlichen Tradition gewissermassen angeschwemmt worden ist – ein als höchst beträchtlich geltender Bestandtheil der homerischen Dichtungen.

Seitdem die Litteraturgeschichte aufgehört hat, ein Register zu sein oder sein zu dürfen: macht man Versuche die Individualitäten der Dichter einzufangen und zu formulieren. Die Methode bringt einen gewissen Mechanismus mit sich; es soll erklärt werden, es soll folglich aus Gründen abgeleitet werden, warum diese und jene Individualität sich so und nicht anders zeigt. Jetzt benutzt man die biographischen Daten, die Umgebung, die Bekanntschaften, die Zeitereignisse und glaubt aus der Mischung aller dieser Ingredienzien die verlangte Individualität gebraut zu haben. Leider vergisst man, dass man eben den bewegenden Punkt, das undefinirbar Individuelle nicht als Resultat herausbekommen kann. Je weniger nun über Zeit und Leben feststeht, um so weniger anwendbar ist jener Mechanismus. Hat man aber gar nur die Werke und den Namen, dann steht es schlimm um den Nachweis der Individualität, wenigstens für die Freunde jenes erwähnten Mechanismus; ganz besonders schlimm, wenn die Werke recht vollkommen sind, wenn sie Volksdichtungen sind. Denn woran jene Mechaniker am ersten noch das Individuelle fassen können, das sind die Abweichungen vom Volksgenius, die Auswüchse und verbogenen Linien; je weniger somit eine Dichtung Auswüchse hat, um so blasser wird die Zeichnung ihres Dichterindividuums ausfallen.

Alle jene Auswüchse, alles Matte oder Masslose, das man in den homerischen Gedichten zu finden glaubte, war man sofort bereit, der leidigen Tradition beizumessen. Was blieb nun als das Individuell-Homerische zurück? Nichts als eine nach subjektiver Geschmacksrichtung ausgewählte Reihe besonders schöner und hervortretender Stellen. Den Inbegriff von ästhetischer Singularität, die der Einzelne nach seiner künstlerischen Fähigkeit anerkannte, nannte er jetzt Homer.

Dies ist der Mittelpunkt der homerischen Irrthümer. Der Name Homer hat nämlich von Anfang an weder zu dem Begriff aesthetischer Vollkommenheit, noch auch zu Ilias und Odyssee eine nothwendige Beziehung. Homer als der Dichter der Ilias und Odyssee ist nicht eine historische Ueberlieferung, sondern ein aesthetisches Urtheil.

Der einzige Weg, der uns hinter die Zeit des Pisistratus zurückführt und über die Bedeutung des Namens Homer vorwärts bringt, geht einerseits durch die homerischen Stadtsagen: aus denen auf das Unzweideutigste erhellt, wie überall epische Heroendichtung und Homer identificirt werden, er dagegen nirgends in einem andern Sinne als Dichter der Ilias und Odyssee gilt, als etwa der Thebais oder eines anderen cyklischen Epos. Anderntheils lehrt die uralte Fabel von einem Wettkampfe Homers und Hesiods, dass man zwei epische Richtungen, die heroische und die didaktische beim Nennen dieser Namen herausfühlte, dass somit in das Stoffliche, nicht in das Formale die Bedeutung Homers gesetzt wurde. Jener fingirte Wettkampf mit Hesiod zeigt noch nicht einmal ein dämmerndes Vorgefühl des Individuellen. Von der Zeit des Pisistratus aber an, bei dem erstaunlich schnellen Entwicklungsgange des griechischen Schönheitsgefühls wurden die aesthetischen Werthunterschiede jener Epen immer deutlicher empfunden: Ilias und Odyssee tauchten aus der Fluth empor und blieben seitdem immer auf der Oberfläche. Bei diesem aesthetischen Auscheidungsprozess engte sich der Begriff Homers immer mehr ein: die alte stoffliche Bedeutung von Homer dem Vater der epischen Heroendichtung wandelte sich in die aesthetische Bedeutung von Homer dem Vater der Dichtkunst überhaupt und zugleich ihrem unerreichbaren Prototyp. Dieser Umbildung gieng eine rationalistische Kritik zur Seite, die den Wundermann Homer sich übersetzte in einen möglichen Dichter, die die stofflichen und formalen Widersprüche jener zahlreichen Epen gegen die Einheit des Dichters geltend machte und den Schultern Homers allmählich jenes schwere Bündel cyklischer Epen abnahm.

Also Homer als Dichter der Ilias und Odyssee ist ein aesthetisches Urtheil. Damit ist jedoch gegen den Dichter der genannten Epen durchaus noch nicht ausgesagt, dass auch er nur eine Einbildung, in Wahrheit eine aesthetische Unmöglichkeit sei: was die Meinung nur weniger Philologen sein wird. Die Meisten vielmehr behaupten, dass zum Gesammtentwurfe einer Dichtung wie die Ilias ist ein Individuum gehöre, und gerade dies sei Homer. Man wird das erste zugeben müssen, aber das zweite muss ich nach dem Gesagten leugnen. Auch zweifle ich, ob die Meisten zur Anerkennung des ersten Punktes von folgender Erwägung aus gekommen sind.

Der Plan eines solchen Epos wie der der Ilias ist kein Ganzes, kein Organismus, sondern eine Auffädelung, ein Produkt der nach aesthetischen Regeln verfahrenden Reflexion. Es ist gewiss der Masstab der Grösse eines Künstlers, wie viel er zugleich mit einem Gesammtblick überschauen und sich rhythmisch gestalten kann. Der unendliche Reichthum eines homerischen Epos an Bildern und Scenen macht einen solchen Gesammtblick wohl unmöglich. Wo man aber nicht künstlerisch überschauen kann, pflegt man Begriffe an Begriffe zu reihen und sich eine Anordnung nach einem begrifflichen Schema auszudenken.

Dies wird um so vollkommener gelingen, je bewusster der anordnende Künstler die aesthetischen Grundgesetze handhabt: ja er wird selbst die Täuschung erregen können als ob das Ganze in einem kräftigen Augenblicke als anschauliches Ganze ihm vorgeschwebt habe.

Die Ilias ist kein Kranz, aber ein Blumengewinde. Es sind möglichst viel Bilder in einen Rahmen gesteckt, aber der Zusammensteller war unbekümmert darum, ob auch die Gruppirung der zusammengestellten Bilder immer eine gefällige und rhythmisch schöne sei. Er wusste nämlich, dass das Ganze für Niemand in Betracht kam, sondern nur das Einzelne. Jene Auffädelung als die Kundgebung eines noch wenig entwickelten, noch weniger begriffenen und allgemein geschätzten Kunstverstandes kann aber unmöglich die eigentliche homerische That, das epochemachende Ereigniss gewesen sein. Vielmehr ist der Plan gerade das jüngste Produkt und weit jünger als die Berühmtheit Homers. Diejenigen also, welche nach dem «ursprünglichen und vollkommenen Plane suchen,» suchen nach einem Phantom; denn der gefährliche Weg der mündlichen Tradition war eben vollendet als die Planmässigkeit hinzukam; die Verunstaltungen, die jener Weg mit sich brachte, können nicht den Plan getroffen haben, der in der überlieferten Masse nicht mitenthalten war.

Die relative Unvollkommenheit des Planes aber darf durchaus nicht geltend gemacht werden, um in dem Planmacher eine von dem eigentlichen Dichter verschiedene Persönlichkeit hinzustellen. Es ist nicht nur wahrscheinlich, dass alles, was mit bewusster aesthetischer Einsicht in jenen Zeiten geschaffen wurde gegen die mit instinktiver Kraft hervorquellenden Lieder unendlich zurückstand. Ja man kann noch einen Schritt weiter gehen. Zieht man die grossen sogenannten cyklischen Dichtungen zur Vergleichung herbei, so ergiebt sich für den Planmacher von Ilias und Odyssee das unbestreitbare Verdienst, in dieser bewussten Technik des Componierens das relativ Höchste geleistet zu haben; ein Verdienst, das wir von vorn herein geneigt sein möchten, an demselben anzuerkennen, der uns als der Erste im Reiche des instinktiven Schaffens gilt. Vielleicht wird man sogar eine weittragende Andeutung in dieser Verknüpfung willkommen heissen. Alle jene als so erheblich geltenden, im Ganzen aber höchst subjectiv abgeschätzten Schwächen und Schäden, die man gewohnt ist, als die versteinerten Ueberreste der Traditionsperiode auszusehen – sind sie nicht vielleicht nur die fast nothwendigen Uebel, denen der geniale Dichter bei dem so grossartig intentionirten, fast vorbildlosen und unberechenbar schwierigen Componieren des Ganzen anheimfallen musste?

Man merkt wohl, dass die Einsicht in die durchaus verschiedenartigen Werkstätten des Instinktiven und des Bewussten auch die Fragestellung des homerischen Problems verrückt: und wie ich meine, dem Lichte zu.

Wir glauben an den einen grossen Dichter von Ilias und Odyssee – doch nicht an Homer als diesen Dichter.

Die Entscheidung hierüber ist bereits gegeben. Jenes Zeitalter, das die zahllosen Homerfabeln erfand, das den Mythus vom homerisch-hesiodischen Wettkampf dichtete, das die sämmtlichen Gedichte des Cyklos als homerische betrachtete, fühlte nicht eine aesthetische sondern eine stoffliche Singularität heraus, wenn es den Namen «Homer» aussprach. Homer gehört für dies Zeitalter in die Reihe von Künstlernamen wie Orpheus Eumolpus Dacdalus Olympus, in die Reihe der mythischen Entdecker eines neuen Kunstzweiges, denen daher alle späteren Früchte, die auf dem neuen Zweige gewachsen sind, dankbarlich gewidmet wurden.

Und zwar gehört auch jener wunderbarste Genius, dem wir Ilias und Odyssee verdanken, zu dieser dankbaren Nachwelt; auch er opferte seinen Namen auf dem Altare des uralten Vaters der epischen Heroendichtung, des Homeros.

Bis zu diesem Punkte und im strengen Fernhalten aller Einzelheiten habe ich Ihnen, hochverehrte Anwesende, die philosophischen und aesthetischen Grundzüge des homerischen Persönlichkeitsproblems vorzuführen gedacht: in der Voraussetzung, dass die Grundformationen jenes weitverzweigten und tief zerklüfteten Gebirgs, welches als die homerische Frage bekannt ist, sich am schärfsten und deutlichsten in möglichst weiter Entfernung und von der Höhe herab aufzeigen lassen. Zugleich aber bilde ich mir ein, jenen Freunden des Alterthums, die uns Philologen so gern Mangel an Pietät gegen grosse Begriffe und eine unproductive Zerstörungslust vorwerfen, an einem Beispiel zwei Thatsachen ins Gedächtniss gerufen zu haben. Erstens nämlich waren jene «grossen» Begriffe wie z. B. der vom unantastbaren einen und ungetheilten Dichtergenius Homer in der Vor-Wolfschen Periode, thatsächlich nur zu grosse und daher innerlich sehr leere und bei derbem Zufassen zerbrechliche Begriffe; wenn die klassische Philologie jetzt wieder auf dieselben Begriffe zurückkommt, so sind es nur scheinbar noch die alten Schläuche; in Wahrheit ist alles neu geworden, Schlauch und Geist, Wein und Wort. Ueberall spürt man es, dass die Philologen fast ein Jahrhundert lang mit Dichtern, Denkern und Künstlern zusammengelebt haben. Daher kommt es, dass jener Aschen- und Schlackenhügel, der ehedem als das klassische Alterthum bezeichnet wurde, jetzt fruchtbares, ja üppiges Ackerland geworden ist.

Und noch ein Zweites möchte ich jenen Freunden des Alterthums zurufen, die von der klassischen Philologie sich missvergnügt abwenden. Ihr verehrt ja die unsterblichen Meisterwerke des hellenischen Geistes in Wort und Bild und wähnt euch um vieles reicher und beglückter als jede Generation, die sie entbehren musste: nun, so vergesst nicht, dass diese ganze zauberische Welt einstmals vergraben lag, überschüttet von berghohen Vorurtheilen, vergesst nicht, dass Blut und Schweiss und die mühsamste Gedankenarbeit zahlloser Jünger unserer Wissenschaft nöthig war, um jene Welt aus ihrer Versenkung empor steigen zu lassen. Die Philologie ist ja nicht die Schöpferin jener Welt, sie ist nicht die Tondichterin dieser unsterblichen Musik; aber sollte es nicht ein Verdienst sein und zwar ein grosses, auch nur Virtuose zu sein und jene Musik zum ersten Mal wieder ertönen zu lassen, sie, die so lange unentziffert und ungeschätzt im Winkel lag? Wer war denn Homer vor der muthigen Geistesthat Wolfs? Ein guter Alter, im besten Falle unter der Signatur «Naturgenie» bekannt, jedenfalls das Kind eines barbarischen Zeitalters, voller Verstösse gegen den guten Geschmack und die guten Sitten. Hören wir doch, wie noch 1783 ein vortrefflicher Gelehrter über Homer schreibt: «Wo hält sich doch der liebe Mann auf? Warum blieb er denn so lange incognito? A propos wissen Sie mir nicht eine Silhouette von ihm zu bekommen?«

Dankbarkeit fordern wir, durchaus nicht in unserem Namen, denn wir sind Atome – aber im Namen der Philologie selbst, die zwar weder eine Muse noch eine Grazie, aber eine Götterbotin ist; und wie die Musen zu den trüben, geplagten böotischen Bauern niederstiegen, so kommt sie in eine Welt voll düsterer Farben und Bilder, voll von allertiefsten und unheilbarsten Schmerzen und erzählt tröstend von den schönen, lichten Göttergestalten eines fernen, blauen, glücklichen Zauberlandes.

Soviel. Und doch müssen noch ein Paar Worte gesagt werden, noch dazu der allerpersönlichsten Art. Aber der Anlass dieser Rede wird mich rechtfertigen.

Auch einem Philologen steht es wohl an, das Ziel seines Strebens und den Weg dahin in die kurze Formel eines Glaubensbekenntnisses zu drängen; und so sei dies gethan, indem ich einen Satz des Seneca also umkehre

«philosophia facta est quae philologia fuit.»

Damit soll ausgesprochen sein, dass alle und jede philologische Thätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt. Und so lassen Sie mich hoffen, dass ich mit dieser Richtung kein Fremdling unter Ihnen sein werde, geben Sie mir die Zuversicht, dass ich, in dieser Gesinnung mit Ihnen arbeitend, im Stande sein werde, insbesondere auch dem ausgezeichneten Vertrauen, das mir die hohen Behörden dieses Gemeinwesens erwiesen haben; in würdiger Weise zu entsprechen.

 

 

Vor 100 Jahren starb Friedrich Nietzsche. Oft leisten seine Texte viel mehr: Aufschreckende Brüche und Diskontinuitäten im Sprachlichen, unruhige und gewagte Kombinationen und Schnitte, alchemistische Verbindungen von Kontexten, die man so nicht erwartet hätte. Neben dem Zeremonienmeister Lichtenberg (und, so wage ich zu behaupten, Martin Walsers alter ego Meßmer) ist Nietzsche sicher ein interessanter Vorläufer der Form des – bei ihm noch wortmechanischen – Tweet.

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 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.