Gefährliche Serpentinen

– Rumänische Lyrik der Gegenwart. –

Wer sich bisher über die zeitgenössische rumänische Lyrik in Deutschland kundig machen wollte, der musste sich mit einer kärglichen Auslese begnügen. Diese Lücken hat der Lyriker und Prosaiker Dieter Schlesak nun in seiner Funktion als Herausgeber, Kommentator und Übersetzer mit dem voluminösen Sammelband Gefährliche Serpentinen offensichtlich geschlossen. Obwohl dennoch einige wichtige Namen nicht auftauchen (Azap, Andritoiu, Grigurcu, Heroa, Zilieru). In neunzehn thematischen Feldern geordnet, präsentiert Schlesak nicht nur die umfassendste Übersicht über eine Gattung, die besonders unter der Zensur und den Publikationsverboten leiden musste, er kann auch über ein erstaunliches Reservoir an Poeten verfügen, die gemeinsam mit dem Herausgeber und gelernten Übersetzer die Gedichte ins Deutsche übertragen haben.

Die ausgewählten Leitmotive, meist einem lyrischen Text entnommen, erweisen sich als Pfade in einer Landschaft, in der die Überlebenden die Toten beneiden. „Man hat einen Toten gefunden“ (Matei Visniec), „Messer zwischen den Blättern“ – so heißen die Texte oder Subtexte, auf die sich die Selektion des Herausgebers bezieht. Sie greifen nicht nur das Todesmotiv auf, sie signalisieren auch den semantischen Entleerungsprozess („Als die Dinge aus ihrem Namen fielen“), sie warten auf die „Wirkung einer Dosis / tödlichen Lebens“ (Marin Sorescu), sie zeichnen die grotesken Ansätze auf, einen Marxismus mit totalitären Mitteln zu installieren, was Mircea Dinescu in seinem höhnischen Gedicht „Ein Besäufnis mit Marx“ so formuliert: „Marx, mon vieux, hierzulande / würde man dich schleunigst halbieren / und umerziehen. Sogar die östlichen Kühe, die früher / neben der Bahnlinie grasten, sich einbilden, eine Art von Lokomotive zu sein, und keine Milch mehr geben, wird / dir angelastet“ (S. 146).

Besonders auffällige Themen sind Identitätsverlust und nationalpathologische Symptome. Andrei Zanca rechnet in „Pußta auf der Hirnhaut pulsierend (Fragment)“ mit der systematischen Verdummung der pannonischen Menschen durch die „Direktoren und Präsidenten in unserer Schwammepoche“ (S. 165) ab, indem er die Flucht ins Exil als einen „Ausbruch aus einer Heilanstalt“ bezeichnet. Wie waghalsig die Rückkehr Rumäniens nach Europa „nach 50 Jahren gewaltsamer Russifizierung“ ist, sieht Augustin Pop so: „Rumänien (müsste) endlich cocacolisiert werden“ und das entstehenden demokratischer Regime sollte von „Panzern(n) der NATO / in ihrer Hochform (überwacht)“ werden. Und welche Funktion sollte nun der Westen für Rumänien spielen? Der neue Stern der rumänischen Literatur, Mircea Cartarescu, ist skeptisch, ob die westliche Kultur für seine Landsleute vorbildhaft sein könnte, denn hinter der schönen Oberfläche sei überhaupt nur Oberfläche, die „komplexer ist als jede Tiefe“ (S. 182).

Zwei thematische Felder sind besonders reich bestückt: „Lacrimae rerum“ und „mysteriöses Verschwinden“. Auf ihnen werden die „Engel mit hängenden Flügeln“ und die Propheten auf den Marktplatz getrieben, wo sie hingerichtet werden. Niemand weiß, weshalb sie sterben müssen, vielleicht „Weil sie zu müde waren“ (Ana Blandiana). Im „Mysteriösen Verschwinden“ lauert der Tod überall: als krebsartiges Geschwür, als Todesstunde, als fleischfressende schwarze Blume, als Todesmaske, in der Gestalt des Totenbuches, und im letzten Gedicht des Bandes „Flugunterricht“ (Nichita Stanescu), lauert der Tod als unabwendbarer Risikofaktor für den waghalsigen Flieger.

In seinem Nachwort „Ein posthumer Blick aus der Zukunft dieser verspäteten Zeit“ spricht Schlesak von einem kurzen Intermezzo von 1945-47 auf dem Weg zu einer Nachkriegsliteratur, die erst 1960 begonnen habe. Dieses Intermezzo sei der einzige Lichtblick für die jüngere Generation gewesen, die den Versuch unternommen habe, darüber hinaus auch die Avantgarde der Vorkriegszeit in ihr Denken einzubeziehen. Sie orientierte sich vor allem an den Werken der drei noch lebenden Dichter Stefan Aug. Doinas (1922), Geo Dumitrescu (1920) und dem letzten Vertreter des rumänischen Surrealismus Gellu Naum, dessen poetisches Werk im April 1999 in Münster/Westfalen mit dem Preis für Europäische Poesie (gemeinsam mit seinem Übersetzer Oskar Pastior) ausgezeichnet wurde. Noch stärker sei, so Schlesak mit Verweis auf  Naum, der Einfluss der sechziger Generation (Stanescu, gest. 1983; Sorescu, gest. 1996 und Baltag, gest. 1997) gewesen.

Die meisten Lyriker/innen der rumänischen Nachkriegsgeneration scheinen sich auf einem schmalen Pfad zwischen einer versteinerten Realität und einer okkulten Metaphysik bewegt zu haben und nach 1989 mit einer geistigen Situation konfrontiert worden zu sein, in der der Untergang der repressiven kommunistischen Welt nahtlos in die Katastrophe der posttotalitären Zeit übergeht. In seinem Deutungsangebot verweist Schlesak auf zwei Denkrichtungen (wie auch nebeneinander existierende Kulturen): auf die alte Dorfkultur, die Kirchenorthodoxie und die Intellektuellen der 30er Jahre (Eliade, Cioran, Noica) auf der einen und auf die posthistorische Weltkultur auf der anderen Seite. Beide Richtungen würden in der „leeren Spielerei der Postmoderne“ so lange mit virtuellen Bedeutungen angereichert, bis sie irgendwann einmal zur Wirkung kämen. Könnte der reiche Vorrat der rumänischen Lyrik, so fragt sich der Rezensent, nicht im metaphysischen Cyberspace des 21. Jahrhunderts genutzt werden, um die „Sinnsuche“ zu beschleunigen? Eine Antwort gibt uns Ioan Alexandru (Jg. 1941) in „Herbst“: „Die Welt fällt nun vom Fleisch / und Blätter ziehn das gelbe Mark aus ihrem Baum; versetzen es auf den Mond. / Die Gebeine unter den Häusern / wachsen nun in den Berg wie / Milchzähne eines Säuglings in weiße Körper.- / Die Zeiger fallen ab / vom Zifferblatt dieser JahresZeit, / sie haben sich hinterrücks / in Gottes Wirbelsäule gebohrt.“ (S. 269)

 

 

***

Gefährliche Serpentinen: Rumänische Lyrik der Gegenwart, Hg. Dieter Schlesak (Edition Druckhaus)

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.