DER FRIEDHOF AM MEER – III

 

Sie sind zergangen in des Nicht-Seins Dichte.
Die rote Erde trank das Andre, Lichte,
das Leben weiß, daß es in Blumen soll!
Wo sind die Worte, die den Toten fehlen,
wo ihre Künste, die besondren Seelen?
Die Larve spinnt, wo einst die Träne quoll.

Der Mädchen Schrei und Kitzligsein der Glieder,
die Augen, Zähne, feuchte Augenlider,
die süße Brust, die glüht und sich erfrischt,
das Blut, das glänzt in Lippen, die sich geben,
und Finger, die sich vor das Letzte heben, –
hinab mit allem und ins Spiel gemischt!

Großartige Seele, hoffst du noch, dir füge
sich eines, das nicht Farben dieser Lüge
besäße, die hier Gold und Woge leihn?
Wirst du noch singen, an die Luft verloren?
Geh, alles flieht! Mein Dasein ist voll Poren,
und auch die heilige Ungeduld geht ein!

Schwarz-goldnes Zerrbild der Unsterblichkeiten,
mag uns die schnöde Trösterin bereiten
den Tod zum Mutterschooße unsres Sinns, –
o schöne Lüge, listig frommes Steigern!
Wer kennt sie nicht und muß sie nicht verweigern,
den Schädel und sein ewiges Gegrins?

Die tiefen Väter, Köpfe ohne Gäste,
die das Gewicht von so viel Schaufeln preßte,
nur wie auf Staub wirkt unser Schritt auf sie, –
der Wurm, dem keiner widerspricht, der Nager,
ist nicht für euch und euer Grab und Lager,
er lebt vom Leben, er verläßt mich nie!

Die Liebe zu mir selber – oder Hassen?
Ihr Zahn greift tief und weiß so nah zu fassen,
daß ihm kein Name wirklich widerstrebt!
Diesem Gefühl -: es sieht, es will, es nimmt mich!
Ihm schmeckt mein Fleisch, und selbst mein Bett bestimmt mich
lebendig ihm, das immer von mir lebt!

Grausamer Zeno, Zeno, deine Worte!
Ob mich am Ende jener Pfeil durchbohrte,
der schwirrt und fliegt und doch nicht fliegt zuletzt?
Der Ton gebiert -, der Pfeil will mich bestatten!
Ach, Sonne, ach! Und da … Schildkrötenschatten,
Achilleus, unbeweglich und gehetzt!

Nein, nein!… Auf, auf! Ins große Nacheinander!…
Nicht denken, Leib, – ergib dich dem Gewander, –
trink, meine Brust, den Wind, der aus sich dringt!
Das weht vom Meer, und in dem Wehn enthalten
ist meine Seele … Salzige Gewalten!…
Zur Welle hin, aus der man lebend springt!

Ja, Meer! du großes, dein ist alles Wüten,
du Pantherfell, du Mantel, drin die Mythen
der Sonne flimmern, tausende vielleicht – ,
von Bläue trunkne, unbeschränkte Schlange,
die sucht, wie sie ihr eignes Gleißen fange
in einem Aufruhr, der der Ruhe gleicht.

Der Wind erhebt sich! Leben: ich versuch es!
Riesige Luft im Blättern meines Buches,
und Wasser, dort zu Staub zersplittert sichs!
Ihr Seiten fliegt beglänzt aus meinem Schooße,
und Woge, du! mit frohem Wellenstoße,
das Dach unter dem Klüverschwarm – , zerbrichs!

 

 

***

Gedichte von Paul Valéry, übertragen durch Rainer Maria Rilke. Weimar: Cranach Presse für Leipzig: Insel-Verlag, 1925.

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