AN DIE PLATANE

Werner Reinhart
dem gastlichsten Freunde
R.M.R.

Geneigt, große Platane, bietest du dich nackt,
weiß, wie ein junger Skythe,
doch deine Reinheit stockt, dein Fuß ist fest gepackt
vom herrischen Gebiete.

Klingender Schatten, drin des gleichen Himmels Blau
sich stillt, das dich erregte,
die schwarze Mutter hält den reinen Fuß genau,
auf den der Schlamm sich legte.

Die Stirn, die wandern will, nimmt nie ein Wind dir mit;
der Erde sanfte Tücke
läßt niemals zu, daß über einen Schritt
dein Schatten sich entzücke!

Sie zieht nur, diese Stirn, indem sie steigt ins Licht,
wohin der Saft sich steigert;
so nimmst du, Reinheit, zu und brichst den Knoten nicht
der Bindung, die sich weigert!

Sieh die Lebendigen rings, die so wie dich im Zaum
hält die erlauchte Schlange;
Steineiche, Pinie, Pappel und Ahornbaum,
sie zählen währte lange,

die, in der Toten Griff, mit auf gesträhntem Fuß
den tauben Staub umfassen
und fühlen, wie ein Blühn, ein Samenflug im Fluß
der Zeit sie leicht verlassen.

Die Espe da, und dort vier Fraun im Buchenstamm,
die man gut unterscheidet,
sie rudern aussichtslos wider den Himmelsdamm,
mit Rudern ganz umkleidet.

So leben sie getrennt und weinen dumpf vereint
im gleichen Sich-nicht-kennen,
und wie umsonst der Silberglieder Spaltung scheint,
wo sie sich leise trennen.

Steigt abends dann ihr Hauch zu Aphroditen hin
aus ihrer Seele Lähmung,
so setzt sich, sehr erschreckt und still, die Jünglingin,
ganz glühend von Beschämung.

Ein Vorgefühl entsteht, das zärtlich an ihr zehrt,
und macht sie fast zunichte,
wie wenn ein naher Leib sich zu der Zukunft kehrt
mit neuem Angesichte …

Doch du mit Armen, rein und freier von dem Tier,
die sich ins Gold erheben,
der du bei Tag das Bild der Träume bist, die ihr
Geheimnis nachts dir geben,

thronender Überfluß von Blättern, stolzer Streit,
wenn Nordwind dröhnt, der scharfe,
und junger Winterhimmel hoch im Gold sein Leid
in der Platane Harfe

wagt auszuschrein!… Du mußt, du Leib, der weich sich wehrt,
dich winden und entwinden,
und klagen ohne Bruch, daß zu den Winden kehrt
die Stimme, die sie finden!

Schlag dich mit Geißeln, bis die Marter heiß dich brennt,
die selbst dir angetane,
und wehr der Flamme, die sich nicht vom Spane trennt,
die Rückkehr zu dem Spane!

Damit die Hymne steigt zu künftiger Vögel Flug,
und in dem ganzen Stamme
Reinheit der Seele zittre, weil er dies ertrug
und träumte, daß er flamme.

Dich hab ich auserwählt, Gestalt in einem Park,
trunken von deinem Wogen,
weil dich der Himmel biegt, bis eine Sprache stark
aus dir entspringt, o Bogen!

O, daß verliebt wie sonst die Dryas dich berührt,
dem Dichter nur gelänge,
daß er die Schenkelkraft, wie man ein Pferd verspürt,
an deine Glätte dränge!

Nein, sagt der Baum, sagt nein, im Glanz des Blätterschwalls
sein hohes Haupt bewegend,
mit dem der Sturm im All nicht anders umgeht als
mit jedem Gras der Gegend!

 

 

 

***

Gedichte von Paul Valéry, übertragen durch Rainer Maria Rilke. Weimar: Cranach Presse für Leipzig: Insel-Verlag, 1925.

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