Schülerbibliothek

 

In einer Pause wurde das erledigt: man sammelte die Bücher ein und dann verteilte man sie neu an die Bewerber. Nicht immer war ich flink genug dabei. Oft sah ich dann ersehnte Bände dem zufallen, der sie nicht zu schätzen wußte. Wie anders war ihre Welt als die der Lesebücher, wo ich in einzelnen Geschichten Tage, ja Wochen im Quartiere liegen mußte wie in Kasernen, welche überm Tor, noch vor der Aufschrift, eine Nummer trugen. Noch schlimmer war es in den Kasematten der vaterländischen Gedichte wo jedwede Zeile eine Zelle war. Wie südlich, linde wehte aus den Büchern, die in der Pause ausgegeben wurden, die laue Schmökerluft mich an. Die Luft, in der der Stefansdom den Türken, die Wien belagerten, herüberwinkte, blauer Rauch sich aus den Pfeifen des Tabakskollegiums wölkte, die Flocken an der Beresina tanzten und fahler Schein Pompeis letzte Tage verkündete. Nur war sie meistens etwas abgestanden, wenn sie aus Oskar Höcker und W.O. von Horn, aus Julius Wolff und Georg Ebers uns entgegenschlug. Am muffigsten jedoch in jenen Bänden »Aus vaterländischer Vergangenheit«, die sich so massenhaft in Sexta angesammelt hatten, daß die Wahrscheinlichkeit, um sie herumzukommen und auf einen Band von Wörishöffer oder Dahn zu fallen, klein war. In ihren roten Leinendeckel war ein Hellebardenträger eingepreßt. Schmucke Fähnlein von Reisigen begegneten im Text, dazu ehrsame Handwerksburschen, blonde Töchter von Kastellanen oder Waffenschmieden, Vasallen, die ihrem Herrn den Treueid hielten; aber auch der falsche Truchseß, welcher Ränke spann und fahrende Gesellen, die im Sold des welschen Königs standen, fehlten nicht. Je weniger wir Kaufmannssöhne und Geheimratskinder uns unter all dem Knechts- und Herrenvolke etwas denken konnten, desto besser ging diese festgeschiente, hochgesinnte Welt in unsere Wohnung ein. Das Wappen überm Tor der Ritterburg fand ich im Ledersessel meines Vaters, der vor dem Schreibtisch thronte, Humpen wie sie die Runde an der Tafel Tillys machten, standen auf der Konsole unserer Kachelöfen oder dem Vertiko im Vestibül und Schemel, wie sie in den Mannschaftsstuben, frech über Eck gestellt, den Weg versperrten, standen auf unsern Aubüssons ganz ebenso, nur daß kein Prittwitzscher Dragoner rittlings draufsaß. In einem Falle aber glückte die Verschmelzung beider Welten nur allzugut. Das war im Zeichen eines Schmökers, dessen Titel gar nicht zum Inhalt paßte. Haften blieb mir nur der Teil, auf den ein Öldruck sich bezog, den ich mit nie vermindertem Entsetzen aufschlug. Ich floh und suchte dieses Bild zugleich; es ging mir damit wie später mit dem Bild im Robinson, das Freitag an der Stelle zeigt, an der er zum erstenmal die Spur von fremden Tritten und unweit Schädel und Gerippe findet. Doch wieviel dumpfer war das Grauen, das von der Frau im weißen Nachtgewande ausging, die mit offnen Augen doch wie schlafend und sich mit einem Kandelaber leuchtend durch eine Galerie hinwandelte. Die Frau war Kleptomanin. Und dies Wort, in dem ein bleckender und böser Vorklang die beiden schon so geisterhaften Silben »Ahnin« verzerrte wie Hokusai ein Totenantlitz durch ein paar Pinselstriche zum Gespenst macht – dies Wort versteinerte mich vor Entsetzen. Längst stand das Buch – es hieß »Aus eigener Kraft« – wieder im Klassenschrank der Sexta als der Flur, der vom berliner Zimmer in die hinteren führte, noch immer jene lange Galerie war, durch die die Schloßfrau nächtlich wandelte. Aber diese Bücher mochten gemütlich oder grauenhaft, langweilig oder spannend sein – nichts konnte ihren Zauber steigern oder mindern. Denn er war nicht auf ihren Inhalt angewiesen, lag vielmehr darin, immer wieder mich der einen Viertelstunde zu versichern, um derentwillen mir das ganze Elend des öden Schulbetriebs erträglich vorkam. Ich stimmte mich auf sie schon wenn ich abends das Buch in meine fertige Mappe steckte, welche von dieser Last nur leichter wurde. Das Dunkel, das es dort mit meinen Heften, Lehrbüchern, Federkästen teilte, paßte zu dem geheimnisvollen Vorgang, dem es am nächsten Vormittag entgegenharrte. Denn endlich war der Augenblick gekommen, der mich im gleichen Raume, der noch eben Schauplatz meiner Erniedrigung gewesen war, mit jener Fülle von Macht bekleidete, wie sie dem Faust zufällt, wenn Mephistopheles bei ihm erscheint. Was war der Lehrer, der das Podium nun verlassen hatte, um Bücher einzusammeln und am Klassenschrank dann wieder auszugeben, wenn nicht ein niedrer Teufel, der der Macht zu schaden sich entäußern mußte, um im Dienst meiner Gelüste seine Kunst zu zeigen. Und wie schlug jeder seiner schüchternen Versuche fehl, mit einem Hinweis meine Wahl zu lenken. Wie blieb er ganz und gar geprellt als armer Teufel bei seiner Fron zurück, wenn ich schon längst auf einem Zauberteppich unterwegs ins Zelt des letzten Mohikaners oder ins Lager Konradins von Staufen war.

 

 

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Berliner Kindheit um neunzehnhundert ist eine Sammlung autobiografischer Skizzen. Die einzelnen Texte verbinden sich nicht zu einer zusammenhängenden Erzählung, sondern geben eher einzelne Bilder und Erinnerungs-Bruchstücke wieder, etwa das Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Teich oder den Nähkasten seiner Mutter. Dabei versucht Walter Benjamin, sich in die noch unwissende, staunende Haltung des Kindes zurückzuversetzen und dessen Weltsicht in kunstvollen sprachlichen Bildern und Vergleichen wiederzugeben.