Zürcher Rede auf Beethoven

 

Der gerade Weg zu Beethoven führt durch seine Werke: die dritte Leonorenouvertüre, der zweite Satz der dritten Sinfonie, das Adagio der »Appassionata«, Opus 57, Opus III, Opus 130 – das einsame Zimmer, der Flügel und die Geige, die vier Instrumente des Quatuor – ein Mensch, zwei Menschen für sich spielend, oder die Versammlung, das Orchester, mit mehr als Menschenstimme aus seiner Brust Lust und Weh singend – und alle einsam und doch alle in eins verwoben, ein jeder sich auflösend in diesen, sich entschwingend seiner Gebundenheit, in sich sein Höchstes fühlend und in diesem Höchsten den gebietenden Hinweis auf noch Höheres: da schwebt und webt ein nicht Auszusagendes, eine Gegenwart: Mensch und doch mehr als Mensch: ein Heros – Beethoven.

So wie er selber, wühlend in Phantasien, die Melodie heraufbeschwor, so beschwören seine Werke ihn herauf – und das ist nicht ein Miterinnern, wie bei Bach: daß wir, im Dom dieser Musik stehend, den Baumeister des Domes mitdenken – nicht, wie bei Haydn, der mitschwebende Gedanke an einen guten beseligten Menschen – es ist ein unbedingt Wirksames, das da auf uns eindringt, eine heldenhafte Gegenwart, ein Etwas, eine heroische Materie, aus der auch nicht unbedingt ein Musiker hätte werden müssen.

Tragisches erleben wir, und sind Chorus, mitbeteiligt und mitgeheiligt; in uns ist dies: er wäre nicht, wenn wir ihn nicht erlitten – und wenn wir aus dieser Funktion entlassen werden, so sind wir stumm – bis zum Vergessen. Darum ist das, was wir da erlebt haben, schwer auszusagen, weil es sich um Einfachstes handelt; wir aber sind gewohnt, im Zusammengesetzten zu leben, das ist unsere Schwäche.

Vielleicht aber gibt es noch einen anderen Weg, zu ihm zu kommen, und diesen, scheint es, haben Sie mir vorgezeichnet, als Sie mich hierher beriefen, den Dichter, um über den Musiker zu reden, vielleicht in halbunbewußter Erinnerung daran, daß ein österreichischer Dichter an seinem Grab die Totenrede gehalten hat. Es ist der, ihn als ein geistiges Phänomen aus der Situation heraus zu verstehen.

Vor ein paar Wochen in Wien hörte ich das Wort eines französischen Musikers, eines jungen Meisters, der nach Debussys Tode von vielen für den Repräsentanten der französischen Musik angesehen wird – und dies Wort ging, nach einer großen enthusiastischen unbedingten Huldigung für den Genius Mozarts, dann zu Beethoven oder über Beethoven hinweg mit den Worten: »C’est Beethoven qui a introduit la littérature dans la musique.« – Wirklich? sollen wir – wenn dies mehr als eine boutade ist – eine Art von Dichter in ihm erblicken? Sollen wir die Grenzen überschreiten von der sinnlichsten der Künste, die aus dem Wehlaut und dem Jauchzen des Leibes entstanden ist, zur geistigsten? von der jüngsten zur ältesten, die uns mit den Urzeiten des Menschengeschlechtes verbindet? und muß uns nicht bangen vor der Verwischung der Grenzlinien und vor dem gefährlichen Uneigentlichen des Ausdrucks?

Aber dennoch, denken wir an Mozart, so ist dies klanggewordenes Volkselement: aus der Tiefe des Volkes ist das Tiefste und Reinste tönend geworden, und es sind Töne der Freude; ein ruhiges Gefühl des Lebens; die Abgründe sind geahnt, aber ohne Grauen; das Dunkle noch durchstrahlt von ewigem Licht; es ist eine zweite Antike, schön und faßlich wie die erste, aber unschuldiger als die erste, gleichsam gereinigt: eine christliche Antike. Wie ein Paradies, ein unzerstörbares, liegt diese Musik da – dann aber kommt der Genius der Nation dahergeschwebt mit vorgestrecktem Schöpferfinger und weckt noch einen: da steht Beethoven da, da ist Adam da, und die Gebärde des Menschen vor Gott; da ist der eine Mensch als Stellvertreter des Menschengeschlechtes; damit er alles ausspreche, was die stumme selige Natur nicht ausspricht; damit er sein Herz anstatt ihrer aller Herzen hinauftrage vor Gott wie ein verdecktes Opfergefäß – und noch mehr: daß er hinaufgehe vor Gott, wie Moses, und Gott von Angesicht zu Angesicht sehe.

Soll ich nicht, muß ich nicht ihn zu den Dichtern stellen – hat er nicht dem Begriff des Dichters viel von seiner Erhabenheit mitgegeben, von dem eigentlich Heroischen seiner Erscheinung? und ist es nicht die ungeheure geistige Situation – die ungeheure europäische und darüber hinaus die ungeheure deutsche Situation dieser Jahrzehnte 1770–1800, die ihn herausgeschleudert hat, so wie sie uns herausgeschleudert hat: denn alles, was wir sind, ist nichts anderes als halberkaltete – vielleicht im innersten Kern aber doch noch gluterfüllte – Materie des gleichen, ein halbes Jahrhundert erfüllenden vulkanischen Ausbruchs, dessen innerster Feuerstrom ihn herauswarf, wie er Goethe, wie er Herder und Schiller und Jean-Jacques Rousseau herausgeworfen hatte.

Jean-Jacques – an ihn haben ihn zuweilen die Zeitgenossen angeknüpft, so wie ihn die Jugend nachher mit Schiller verknüpfte um des Pathos und der Erhabenheit und der Seelenführerschaft willen und wie ihn die Romantiker an Goethe knüpften um des Höchsten und Letzten: um der Magie willen.

In den ersten Jahren des Jahrhunderts kommt ein Franzose ihn besuchen, einer der ersten Fremden ist das, von dem wir Aufzeichnungen besitzen, der Name entfällt mir – es ist ein nüchterner Franzose nach den Fiebern der Revolution und vor dem Fieber des Empire – und er schreibt in sein Notizbuch: »Es überraschte mich, zu gewahren, daß Beethoven einige der Irrtümer Jean-Jacques Rousseaus teilt.« Aber es sind nicht »einige Irrtümer«, die er teilt, das ist ein dürftiger zeitgebundener politischer Ausdruck, sondern was Beethoven mit dem großen Genfer Rhetor teilt, das ist ein Ewiges, etwas das außerhalb der historischen Bedingtheiten steht und immer wieder kommt, immer wieder, und so auch jetzt als eine furchtbare, umstürzende Kraft in die historischen Bedingtheiten hineingreift: das ist die Vision des primitiven Menschen als Ideal, die aurea aetas, die Utopie – der Glaube an die Reinheit aller ursprünglichen Natur; und dahinter liegt der Glaube an die Ganzheit des Menschen, und die Kraft und der Drang, Tiefstes zum Höchsten hin zu sehen, den Menschen zu Gott hin, nicht niederwärts zum Chaos. Ich schlage nur diesen Ton an, und Sie denken augenblicklich und unwillkürlich an Schiller, der so vieles gemein hat mit Jean-Jacques, an den großen kühnen Wortführer dreier aufeinanderfolgender europäischer Nationen, an ihn, der die Größe selber, das Unsagbare, die Idee, oder wie er es nannte: das Ideal – ich spreche vom jungen Schiller – unmittelbar auszusprechen sich vermaß, der nicht Künstler sein wollte, nicht Dramatiker, sondern ganz etwas anderes; dem die Schaubühne eine moralische Anstalt war, das heißt eine Tribüne, und das Pult des Historikers, die Zelle des Philosophen eine Tribüne, der der Anwalt sein wollte der Menschheit vor einem freilich überpolitischen Forum; den Prozeß der Menschen führen vor Gott, vindizieren ihr Anrecht auf die unmittelbare Verwirklichung der Ideale, das ist mit anderen Worten: der sich nichts Geringeres zu sein vermaß als einer der Propheten … und blitzt Ihnen hier nicht wieder die Verwandtschaft mit Beethoven auf, nicht im Greifbaren, Wägbaren, aber im tiefsten Drang: das Letzte zu sagen, die Idee selber auszusprechen, nicht den Wohllaut der Worte zu suchen, sondern ihre erhabene unmittelbar wirkende Gewalt – und ist es nicht bedeutungsvoll, daß dann, wenn Beethoven über die Grenzen der Musik hinaus will, er nach Schillers Rhythmen und Worten greift für dies Hinauskommen?

Aber wie ein Licht von einem stärkern Lichte verzehrt wird und sich mit diesem verbindet, so können wir in solchem Zusammenhang nicht einen Augenblick an Schiller denken, ohne daß sich der Gedanke an Goethe einstellt, wenn wir an das in Goethe denken, worauf es uns hier ankommt, auf ein Gemeinsames, das in allen diesen Genien wirkt, herausschlägt … Und was ist es denn, was ich hinter all ihrer Verschiedenheit als Gemeinsames erkenne, daß ich es mit Namen nenne oder deutlich darauf hinweise: es ist ein ungeheures Generationserlebnis, es ist das Erlebnis, zu dem wir im Verhältnis des Gegenerlebnisses stehen. Epoche war damals, ungeheure Epoche: das eingeschränkte Individuum hatte sich frei gemacht, ja mehr als frei; von titanischen Kräften fühlte es sich durchströmt, Herr fühlte es sich über sich selber und über sein Schicksal, Herr einer Welt fühlte es sich, ahnte es sich – ja[72] Schöpfer seiner Selbst, und ebenbürtig seinem Schöpfer – das war das Generationserlebnis: daß das Individuum vor Gott hintreten wollte und Gott schauen von Angesicht zu Angesicht, und von dort, vom Anschauen Gottes, zurückkommen und das Wort des Lebens zurückbringen: das Wort, das selber Gott ist; die unmittelbare Magie.

Das ist der Kern vom Kern von Goethes damaligem Dasein und Schaffen: der Kern des Faustmonologes – und dies auszusprechen, dies Letzte, dies Höchste, trug Goethe Macht und Willen im Busen und dazu hatte er sich, dazu hatte Herder ihm – wer vermöchte so Verwobenes jemals zu lösen – die Sprache geschaffen, in der das ganze Leben eines Volkes tönend geworden war: in der die Unschuld der Volkssprache, das zeitlose Leben der Dialekte miteingeschmolzen war, und der Ton der Altvordern, Rhythmus und Gehalt von Luthers deutscher Bibel, Rhythmus und Klang der Ballade und des Volksliedes, und tausendfache Herzenssprache einzelner, so vieler Ketzer und Halbketzer des achtzehnten und noch des siebzehnten Jahrhunderts, so vieler »Stillen im Lande«, so vieler einsamer Seelen Herzenslaut und Angst- und Sehnsuchtslaut … so war das Leben der Nation in Einem Wesen geworden – und dies, dies war nicht entweiht, dies war noch Geheimnis, ungesagtes Wort, noch! – geistigste, unverwirklichte Gegenwart … – denn als Beethoven jung war, war ja der »Faust« nicht am Tage, auch nicht in seiner fragmentarischen Gestalt, sondern es war die Ahnung da: ein solches Werk, titanisch und kühn über jedes Beispiel, hatte der gewaltige Mensch, der mit zweiundzwanzig den »Werther« schrieb, an seinem Busen; wie ein brauendes Gewitter, ein Kern ungeheurer geistiger Elektrizität lag dies in der europäischen Atmosphäre, in dieser wunderbaren, beispiellos aufgewühlten: denn da war ja auch noch Rousseau, nicht als ein Lebender, aber als ein voll ausschwingendes gewaltiges Geistiges, und da waren Schillers Jugenddramen, von den »Räubern« bis »Don Carlos«, wahrhaftig aus dem Nichts geschaffen. Nichts als Elektrizität, Spannung, Anklage, Generosität, ungeheure, großherzige Anmaßung – und diese Spannungsfelder treffen sich irgendwo … dieser Sturm Rousseau und dieser Sturm Schiller, sie stießen irgendwo, und tausendfach, in der Brust von Menschen aufeinander und bildeten Wirbel, Zyklone – (welch ein Zyklon in der Brust Ihres Landsmannes Johann Caspar Schweizer, aus dem heraus er, dieser alle Fieber seiner Zeit mitfiebernde unvergeßliche Mensch, nachts im Tuilerien-Garten, seine Zettel an die Freunde daheim aus dem Paris von 1793 hinkritzelte!) – und da zitterte ja noch ganz Deutschland nach von dem Fieber des »Werther«, und nun griff dieses Fieber nach Europa über und griff nach einem solchen Herzen wie dem Napoleons, und da waren Goethes Hymnen und die titanischen Fragmente nicht kalter registrierter Literaturbesitz, sondern aufregende Entladung, Potenz, Möglichkeit, Gebet und Rebellion zugleich – und da war »Egmont« eben endlich fertig, dies scheinbar bürgerliche Stück mit der furchtbaren Finsternis des fünften Aktes, dieses Stück, das zweideutigen Ruhm genießt, schwach den Schwachen, stark den Starken – dem Beethoven dann seine Musik gab – weil es ihm, dem Stärksten, seine ganze Stärke geoffenbart hatte –; und in dies von Blitzen schwangere Kräftefeld trat Beethoven hinein, der Jüngling – und hier unterbrechen Sie mich: Tritt wer hinein? rufen Sie in Ihrem Innern mir entgegen: Ludwig van Beethoven, ein junger Musiker aus dem Kölnischen, ein anfangender Komponist, ein naiver, dumpfer, breitbeiniger, junger Mensch mit brennenden Augen im breiten Gesicht, mit breitem Nacken, beflissen nur seiner Kunst, begierig, sich in ihr zu vervollkommnen, zu ringen mit Virtuosen und unter ihnen der erste zu werden; begierig nach Wien zu übersiedeln, unbekümmert um Jean- Jacques und Goethe und Herder und Schiller, begierig, zum allermeisten – wie heißt das prophetische Wort im Brief des Grafen Waldstein: zum Lohn unablässigen Fleißes aus der erkaltenden Hand des alten Haydn das Erbe Mozarts zu empfangen. Was soll es, daß ich ihn mit diesem Sturm der Geister in Beziehung bringe: aber er war ja kein Jüngling, er war kein werdender Kompositeur: er war ein Geist, der letzte und der gewaltigste, den der Genius der Nation noch hinaufrufen konnte und hineinstoßen in diese ungeheure Epoche. Dies alles war für ihn da, im höchsten Sinne war es gerade für ihn da – nicht wie für einen Bücherleser, nicht wie für einen aufgeregten, genießenden Romantiker, sondern wie für einen Helden. Wie sollte sich der Held dem Höchsten entziehen, das in der Epoche da ist? Für ihn ist es ja gerade da: als höchste Aufforderung. Und seine Naivität: gerade dieser bleibt ja nichts vom Wirklichen verborgen. Nur den Ballast der Zeit, all das scheinbar Geistige, womit die Gegenwart den Lebenden Sand in die Augen streut, das stöbernde Kleinzeug, nur dies läßt sie unangerührt liegen. Aus einem solchen Wesen, wie er war, unzerklüfteten, unschuldigen Gemütes, aus einer solchen Brust, unsäglicher Leiden fähig, aber auch zartester Hingabe und titanischen Aufschwunges, aus einer solchen bricht der höchste Geist hervor, denn der höchste Geist ist immer dort, wo die größte innere Bedrängnis ist – und in nichts anderes als in die größte entscheidende Situation der Epoche wächst ein solcher Geist hinein; und dieses war sie: um Rede hatten sie alle gerungen, um magische Redegewalt: um ein Aussagen von Gott, wie der von ihm aussagt, der ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen hat – um die Rede Mosis, um das Hinreißen der Mitmenschen zu Gott – um die Sprache, die alles sagt. Und er, er hat diese Sprache, in ihm wohnt sie – so kann ich ihn ja nicht losreißen von den Dichtern der Nation, wenn ich in so feierlichem Augenblick auf das schaue, was über den Künsten da ist: auf das Walten des Geistes, der sich offenbart in den Zeiten.

Aber zunächst in Wien ist er ja ein Musiker und nichts als ein Musiker, und ist ein Virtuose und ringt mit Virtuosen und erfüllt die Formen, die geschaffen sind von den Vorgängern, und es entstehen die lieblichen Werke der ersten Periode, in denen so viel von Mozarts Geist ist und noch mehr von Haydns Geist und doch schon Beethovens Impuls und Anruf an die Seele; aber noch ist dies alles Musik, nichts als Musik, und wer hätte den Mut, diesen jungen Meister der Tonkunst neben jene Heroen zu stellen ohne ein Paradoxon, aber dann – lassen Sie mich dies aussprechen – dann verstummen diese Münder, im letzten geheimsten Sinn verstummen sie und es ist niemand mehr da, der sich vermäße, das Letzte, Höchste unmittelbar herauszurufen als dieser einzige Mund: Beethovens. Ich will im nächsten Augenblick versuchen, es zu rechtfertigen, inwiefern ich dies auszusprechen wagen durfte; inwiefern ich das, was um 1800 in Goethe, in Schiller, in Herder vorging, ein Verstummen nennen darf. Aber nehmen Sie es für jetzt hin: sie verstummen – und Beethoven allein ist da, vor Gott zu reden für die Menschen.

Was vollzieht sich da? Nur hindeuten darf ich darauf, aber hindeuten als auf ein Wirkliches: denn wirklicher ist der Geist der Zeitalter als der der Individuen; und so sehr erscheint mir Europa als eine Einheit, daß ich mich getraue, es zu sagen: so wie an einer Stelle der europäischen Welt Gewalt und Geist sich verschmelzen und in einem dämonischen Individuum der Geist Tat wird – ich rede von Napoleons Hervortreten und sehe ihn jetzt im gleichen, fast überhistorischen Sinn, wie Goethe ihn gesehen hat –, so zieht sich die dämonische Überkraft, der heroische Drang, der auf mehr als Poesie zielte, der auf unmittelbares gottverwandtes Wirken zielte, aus den gewaltigen Individuen heraus, die seine Träger waren: Goethe, Schiller und Herder sind noch immer da, sie geben noch immer Herrliches als Dichter, als Künstler, als Denker, sie geben das, was für das Fortleben ihrer Gestaltung entscheidend ist – Goethe die Romane, die naturwissenschaftlichen Werke, den zweiten »Faust«, Schiller die Reihe seiner klassischen Dramen, von denen eines ein Palladium Ihrer Nation ist – aber dies vollzieht sich unter einem Verzicht auf die letzte Dämonie: der titanische Drang für die Myriaden stummer einzelner Individuen, welche im geistigen Sinne die Nation ausmachen, für diese das Unermeßliche in Worte zu drängen, der eigentliche Prophetendrang, der erlischt; der wahrhaft musische – das Wort in seiner höchsten Anspannung genommen – Charakter fällt von ihrem Wirken ab. Unter Verzicht auf die titanische Aspiration seiner Jugenddramen stellt Schiller die Reihe der klassischen Dramen hin, worin das Ringen der Idee in geschichtliche Situationen hineingewebt, das Individuum als Träger der Idee im Kampfe mit den Gegebenheiten aufgezeigt wird – herrlich aufgezeigt, aber eben im Bilde aufgezeigt, dargestellt –, nicht wie in jenen Jugenddramen aus dem Nichts hervorgeschleudert mit dem titanischen Vermessen, unmittelbar in die Welt hineinzugreifen, zu revolutionieren, aus den Angeln zu heben … Und Goethe, ist nicht dieses ganze Schaffen des reifen, des zweiten Goethe das wahre Beispiel für den Übergang vom Unmittelbaren zum Mittelbaren? Anstatt des titanischen, lyrisch-dramatischen Ich-bin-da!, Adsum! des ersten »Faust«, anstatt dieses Titanenwillens, durch die Wort gewordene Seele unmittelbare Gewalt zu üben bis zu den Sternen hinauf, als Einzelner fürs ganze Geschlecht – nun jenes Sich-Beugen unter den Bogen des Gesetzes, jenes erkennende Sich-Demütigen vor den Formen: ist nicht im letzten Sinn in diesem Gestalter-Werden doch eine Resignation? Und der Ausdruck dieser Entsagung, sprechend für den, der erkennen will, ist es nicht – lassen Sie es mich heraussagen, obwohl es sich um das größte Werk der Nation handelt –, ist das nicht der Bruch zwischen dem ersten und dem zweiten »Faust«, und nicht wunderbar deutlich ausgesprochen im »Faust« selber: wie der Titane Faust, dieses lyrische Ich Goethes, Gott gleich sich wähnend ringt um das unmittelbare Anschauen Gottes – und wie der Faust des zweiten Teiles (in den wundervollen Terzinen des Sonnenaufgangs, der niemals ohne eine schweizerische Landschaft unsterbliche Form geworden wäre), wie er sich abwendet vom Anblick der Sonne, die in der Chiffren-Schrift dieses symbolischen Gedichtes nichts Geringeres ist als Gottes unmittelbar geschautes verzehrendes Antlitz, und sich demütig dem Wasserfall zuwendet und dem Regenbogen, demütig den Vorhang küßt vor dem Heiligtum des Unschaubaren, und seiner Demut sich rühmt mit dem Worte der Weisheit: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.«

Und Herder? Selbst dieser dritte, hochgerühmte, wenig gekannte, große Geist, er, der an dem Werden unserer Geistessprache mit gewaltiger Hand mitgewoben hat – sehen wir den gleichen Schatten der Resignation nicht auch ihn überfliegen, wenn er, der geträumt hatte wie einer von einer alles sagenden Sprache, der gerungen hatte wie einer und mit Riesenkräften, den Weg zu weisen, wie das Unendliche, ja das schlechthin Unsägliche wäre in Worte zu drängen – hören wir um die gleichen Jahre nicht auch aus seinem Munde in so tiefsinnigen Schriften wie der »Plastik«, in den Blättern der »Adrastea« solche Worte: »Gib mir den Wink und Blick der Seele, gib mir die Gebärde, sie ist mehr als Worte« … und als weise er auf den einen hin, dessen Namen er nicht nennt und vielleicht nicht kennt, nun das Wort: daß Töne, um das Unsägliche zu sagen, Töne allein der Musik gleich stehen – Töne also! die Musik heraufgerufen, um den Geist unmittelbar zu beschwören, wo sein Mund, wo Schillers und Goethes Mund verstummen, wer bleibt da, zu reden für den tiefsten Drang einer im Tiefsten transzendenten, also religiösen Nation, wer bleibt, hinaufzugehen vor Gott und sei es auch beschwerten, behinderten Wortes wie Moses, der erste der Propheten – wer bleibt als er: Beethoven.

Da – geheimnisvolle und notwendige Fügung – wie in den andern großen Menschen das Heroisch-Prophetische zurücktritt, sich umbildet zum Wesen, zum Bildnerischen, zum Religiösen einer andern Ordnung, da tritt es in ihm gewaltig hervor, da wird er, Zug um Zug, zu der mythischen Gestalt, der größten, welche die neuere Zeit hervorgebracht hat. Da haust er einsam mitten unter Menschen, wie Philoktet auf seiner Insel, in dem leichtlebigen menschenwimmelnden Wien. Und da zieht er von einem Haus ins andere. Da sind diese neunundzwanzig Wohnungen in allen Bezirken Wiens und in ihnen dies maßlos einsame Leben und die törichten und halbahnungsvollen Besucher, denen er entgegentritt wie ein »grauer Löwe« oder wie eine »Gewitterwolke, durch die die Sonne sich hindurchdrängt« oder wie ein »ungestalter, aber leidensvoller Riese«. Da hebt diese Abwendung an vom sinnlichen Wohllaut der Musik, daß er Rossinis Musik, von der Wien erfüllt ist, nicht mehr ertragen kann, ja daß ihm selber die eigene Musik nicht mehr genügt und er an ihren Grenzen hinstürmt wie der Behemoth und über ihre Grenzen hinausbricht. Da kommt, wie wenn der Finger Gottes ihn unmittelbar berührt hätte, die Taubheit, das Ersterben des Sinnes selber, der ihm das Übersinnliche zugemittelt hatte. Da fängt der unerklärliche Prozeß an, wodurch schließlich sein Antlitz zu einem Geisteszeichen wird und uns genau so anblickt wie seine Werke, mit der gleichen Mischung von titanischem Trotz und Ergebung in Gottes Willen. Da führt er in starrender Einsamkeit dies tönende Gespräch mit dem eigenen Herzen, mit der Geliebten, die nie sein Finger berührt hat, mit Gott. Da verschmäht er den Wohllaut, wo er nicht wie Aufrauschen des Engelsfittichs ist – da läßt er die Melodie wie ein launisches Mädchen sich von uns abkehren und plötzlich wieder nach furchtbaren Finsternissen mit verklärter geheiligter Miene uns anlächeln.

Da wird er, einsam mit seinem Gott, aus unzerbrochenem, frommem Gemüt Schöpfer einer Sprache über der Sprache. Da redet er nicht zum Volk, auch nicht für das Volk – aber doch für jeden einzelnen und noch für die Geschlechter, die da kommen werden. Da erbaut er in jedem Musiksatz den Thron geistiger Leidenschaft. Da fühlt er, tiefer als Worte es sagen können, auch das ganze Gewicht des eigenen Wesens: Da weiß er, daß er einen Napoleon, Geist gegen Geist gewogen, aufwiegen oder wohl gar überwiegen würde. Da bricht in einzelnen zornmütigen oder stolzen, aber immer naiven Worten das Gefühl seiner Heldenhaftigkeit hervor; da kommen, wenn seine Lippe sich löst, die Worte »Mut, Glaube, Kraft« so groß und unentweiht aus seinem Mund, wie aus keines Sterblichen der neueren Zeiten. Da wird alles an ihm symbolisch, Gestalt, Gesicht, Einsamkeit, Behausung – da wird er zu etwas, dessengleichen nie da war, und so sehen ihn die Augen der Besten: so hat ihn wohl nicht Goethe gesehen, aber Bettina, das Geschöpf aus Goethes Element, und Theodor Amadeus Hoffmann, und Bettina spricht es aus: »Der fühlt sich als Weltherrscher, als der Begründer einer neuen Basis im geistigen Leben.« So umgeben sie ihn mit einem Schauder; er ist ihnen ein Magier, und so sehen sie ihn hineinschreiten in ein dunkles Unbekanntes: das ist die Nachwelt.

Und diese Nachwelt sind wir. Das ist ein ernster, sonderbarer, bemühender Gedanke. Ein solches Stück Europa wie wir hier, eine solche Versammlung unter dem zweideutigen Licht dieses 1920, unter der rasenden Unruhe dieser geistigen Revolutionen, die durcheinander hinfressend einander bald verstärken, bald ersticken – wir sind seine Nachwelt. Ohne uns wäre er allein in diesem Augenblick. Aber wir haben keine Stimme, gewaltig und wie aus einem Munde zu ihm zu rufen in dieser feierlichen Stunde. Denn abermals zeigt sich das Zeichen der ungeselligen, unberedsamen Nation. Abermals wie vor einhundertundfünfzig Jahren ringt die Nation um eine wahrhaft gemeinsame Sprache, um Worte, das Unermeßliche in sie zu drängen. Aber nicht wie damals ist es, daß die Sprache zu arm und dürftig wäre, sondern in ihrem unermeßlichen Reichtum geschieht es, daß sie die Menschen nicht zusammen-, sondern auseinanderhält. Es ist etwas Unreifes in diesem Reichtum und ein Unvermögen; die Gegensätze, die sie setzt, sind uns seichte Gegensätze. Die Magie der Worte ist nicht kräftig genug, eine Welt zu tragen, in der die Dinge, nein! auch noch die Maße der Dinge in ihrer Relativität enthüllt sind. Die Sprache scheint alles nur noch ironisch zu betasten, nichts mehr zu beherrschen. Ihre eigentliche Zaubergewalt, das Göttliche in ihr, das Unmittelbare ist dahin, die Philosopheme lösen sich auf in dem Spiel der Relativitäten – die Geschichte will sich auflösen wie ein Nebel – jedes Beharrende wird bezweifelt, die Gestalt wird bezweifelt, sie, die in Politik und Kunst die wunderbare Überwindung der Materie ist –, die Form wird bezweifelt – in der Musik, in den bildenden Künsten, in der Dichtkunst –, jede Gemeinsamkeit wird bezweifelt – Ironie webt über dem allen –, und die Nation, um sich zu heilen, fällt wieder in die Einzelnen auseinander, wie sie vor einhundertundfünfzig Jahren glorreich in die Einzelnen auseinandertrat.

Der Einzelne aber, das Individuum, es ist nicht mehr das eingeschränkte Individuum von damals mit seiner dumpfen Not – heute liegt eine neue Not auf den Individuen: das Allzuviel von Freiheit, wie damals das Allzuviel von Bindung. Aber eben in dieser Not liegt eine neue Hoffnung. Eben weil alles überwunden ist, und ein angstvolles Fühlen des Abgrundes, der unter den Dingen ist und unter den Theoremen und unter den Erkenntnissen, uns durchzieht wie ein beständiger Schwindel, eben darum ist allem unserm Tun eine latente Religiosität beigemischt, ein Drang nach dem Form-Gebenden, Leben-Verleihenden, nach dem, was nirgends an der Materie, auch nicht an der geistigen Materie, an der Formel, haftet: nach Gott.

Wieder ist in einer durch das ungeheuerste gemeinsame Erlebnis aufgewühlten Generation – und der Krieg ist für die, die ihn wahrhaft erlebt haben, ein ungeheures Erlebnis gewesen – eine ungeheure Aspiration lebendig, und wieder ringt ein Geschlecht um die Schöpfung der Sprache aus dem tiefsten Erlebnis: dem Erlebnis grenzenloser Einsamkeit und grenzenloser Verwobenheit zugleich.

Aber- und abermals fehlt der Nation der Seelenmittelpunkt – so liegt sie da, wie ein Krankes, des eigenen Daseins nicht mächtig, und mit fremden verworrenen Gedanken. Aber die Einzelnen sind des Hohen noch eingedenk: in einer vorbildlosen geistigen Situation, umgeben von der Auflösung jedes Festen, schöpfen sie aus der Not selber, aus der Einsamkeit selber einen ungeheuren Mut, der etwas hat – lassen Sie mich es aussprechen – vom Mut der Verzweiflung.

Wo nirgends mehr heiliges unbetretbares Gebiet ist – alles entheiligt – alles erkannt als Relation und Konvention – doch irgendwo in sich, im einzelnen Ich, drangvoll trotzend dem Ungeheuren, selbst ein Ungeheures – fühlen sie ihn errichtet, ihn, den Beethoven in jedem Musiksatz aufbaute, den Thron der geistigen Leidenschaft, von wo der glühende Gedanke, nach allen Seiten ausladend, hineilt, zu umfassen ein Ewiges, nie ganz zu Umfassendes. Dem Wort mißtrauend, sind sie, die Besten – die, in denen wahrhaft die Nation sich erneuert –, unberedsam aus Keuschheit, oder aber ihre Beredsamkeit ist unanmutig, ist ein ungelenkes Kämpfen mit einer überreichen Sprache, deren Geistigem sie mißtrauen, weil es in tausend sich kreuzenden Reihen ein Technisches geworden ist.

In diesem feierlichen Augenblick treten sie ernst zueinander und wo ihrer nur zwei oder drei beisammen sind, da ragt über ihnen ein Haupt, unausdeutbaren Ausdrucks, störrisch und fromm zugleich: templum in modum arcis, ein Gottestempel in Gestalt einer Burg: Beethovens Haupt.

Er ist ein Geist, und wir gedenken seiner in dieser Stunde, die wir Geister sind. Möge er in der gleichen Stunde unser gedenken und durch uns hinziehen mit dem Wehen seiner Kraft und Reinheit.

 

 

Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid

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Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.

 Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

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