Der Garten der Geschwister II.

Richard klopfte an das Tor. Oben am linken Fenster erschien der Kopf eines halbwüchsigen Mädchens, ihr Haar war blond und fiel ihr ins Gesicht, als sie sich aus dem Fenster beugte und zu ihnen herabsah.
- Was gibt es? fragte sie unwirsch.
- Wir haben kein Benzin, sagte Richard.
Das Mädchen verzog das Gesicht.
- Ja und? Was soll ich da machen?
Richard hatte den Kopf nach hinten geneigt und beschirmte mit der Hand seine Augen. 
- Vielleicht kannst du uns sagen, wo wir Benzin bekommen können.
Er lächelte liebenswürdig und unverschämt. 
- Nein kann ich nicht.
- Kannst du vielleicht einen Augenblick zu uns herunterkommen? 
Das Mädchen seufzte gequält.
- Wenn es unbedingt sein muss.
Ihr Kopf verschwand aus dem Fensterausschnitt, kurz darauf stand sie in der Tür. Sie war dreizehn oder vierzehn, das Haar reichte ihr bis zur Schulter, sie trug Shorts und einen kurzen beigen Baumwollpullover, der zweifingerbreit ihren nackten Bauch freigab. Oberhalb ihres Nabels steckte eine kleine silberne Kugel in ihrer Haut. Sie musterte Gloria und Richard unverhohlen und ohne Sympathie. 
- Was wollt ihr?
- Sind deine Eltern zu Hause? fragte Richard.
- Nein, nur der Kleine und ich.
- Wir brauchen Benzin. Gibt es hier in der Nähe eine Tankstelle?
- Glaube ich nicht. Es ist mir jedenfalls noch nicht aufgefallen.
- Habt ihr vielleicht Benzin im Haus?
- Benzin? Wozu sollten wir Benzin im Haus haben?
Sie schien die Frage für völlig idiotisch zu halten.
- Oder weißt du wo wir welches bekommen könnten?
- Keine Ahnung.
Sie lehnte mit verschränkten Armen in der Tür und zuckte ungeduldig mit den Schultern. 
- Wie weit ist es zum nächsten Nachbarn? fragte Richard.
- Wir haben keine Nachbarn.
- Hör zu, das Problem ist, dass unser Tank so gut wie leer ist. Und ohne Benzin können wir nicht weiterfahren. Wir brauchen eure Hilfe. Wir sitzen hier sozusagen fest. 
Dieser Gedanke gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie verdrehte die Augen, die Aussicht, Richard und Gloria hier im Haus zu haben, war das letzte, was ihr noch gefehlt hatte.
- Na ja. Vielleicht kann euch mein Bruder weiterhelfen, der weiß in solchen Sachen eher Bescheid als ich. Aber er schläft noch. Wenn ihr wollt, könnt ihr ja auf ihn warten. Da hinten im Schuppen sind Gartenstühle.
Sie trat einen Schritt aus der Tür und deutete mit spitzem Zeigefinger nach rechts.
- Nehmt euch zwei Stühle und setzt euch hier vor dem Haus in die Sonne. Da ist es warm, und ich kann euch im Auge behalten.
Sie machte auf dem Absatz kehrt, ohne ihre Zustimmung oder Ablehnung abzuwarten, und warf die Haustür hinter sich zu. 
- Komm wir fahren. Wir versuchen es woanders, sagte Gloria.
Sie wandte sich zum Gehen, aber Richard hielt sie auf.
- Das hat keinen Sinn. Mit dem Rest Benzin, den wir noch haben, kommen wir nirgendwo mehr hin. Wir werden wohl oder übel hier bleiben und auf ihren Bruder warten müssen.
Er ging zum Schuppen, holte zwei Liegestühle, klappte sie auf und stellte sie nebeneinander, mit dem Rücken zur Hauswand. Es waren alte Liegestühle aus Holz mit einer bunten, längsgestreiften Segeltuchbespannung, deren Farben von der Sonne ausgeblichen waren. Richard zog die Jacke aus und warf sie über die Lehne.
- Ich werde einmal fragen, ob wir etwas zu essen bekommen können. 
- Sie hat nicht gerade so ausgesehen, als ob sie erpicht darauf wäre, uns hier zu bewirten, entgegnete Gloria.
- Aber sie wird es mir nicht abschlagen.
Nein, natürlich würde das Mädchen Richards Bitte nicht abschlagen. Niemand schlug Richard etwas ab, wenn er es darauf anlegte, etwas zu wollen. Keiner wusste das besser als sie. In all den Jahren war es ihr nie gelungen, Richard etwas zu verwehren. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte. Aber Richard hatte ihren Widerstand nie zugelassen. Sie hatte in all den Jahren eine kleine verkrüppelte Armee an geschlagenen Widerständen in ihrer Brust versammelt, eine hoffnungslose Armee, die sich in hoffnungslosen Momenten hoffnungslos zusammenrottete. Feindselig und unfähig, voll ersticktem Groll. So wie jetzt. Aber sie würde niemals eine Schlacht gewinnen. Auch das Mädchen würde sich nicht gegen Richards Wünsche wehren. Niemand tat es.

Die Luft war dick und süß wie Honig. Es roch nach warmem moosigen Erdboden und vermoderndem Laub. Gloria hatte sich in den Liegestuhl gesetzt. Bequem war es nicht, und die Sonne brannte auf ihrem Gesicht. Ihr Herz klopfte schnell, es schlug um sich, wie ein Ertrinkender, der aus der Tiefe eines Gewässers an die Oberfläche aufzutauchen versucht. Ein leichtes Gefühl von Schwindel erfasste sie und verschmolz mit dem Licht und der Wärme der Sonne, die hoch und beinahe sommerlich am Februarhimmel stand. Es musste schon längst Mittag sein. Richard trat aus dem Haus, er hatte zwei Flaschen Cola, Hals an Hals zwischen die Finger der einen Hand geklemmt, und in der anderen Hand balancierte er drei in Plastikfolie verpackte Fertigsandwichs. Er stellte die Flaschen zwischen ihren Liegestühlen am Boden ab und legte ein Sandwich in Glorias Schoß. Sie lächelte schwach. Richard setzte sich neben sie, riss die Verpackung auf und biss in die übereinandergelegten, rindenlosen Weißbrotdreiecke, zwischen denen das grünes Säumchen eines Salatblattes hervorlugte. Er aß mit dem gesunden Appetit der Unschuldigen und Gerechten. Wo um alles in der Welt er diese Unverfrorenheit hernahm! Gloria beneidete ihn darum in diesem Moment. 
- Iss, forderte er sie auf, es wird dir gut tun.
Gehorsam schlitzte sie mit dem Fingernagel die Verpackung auf. Es hatte keinen Sinn darüber zu diskutieren. Sie fühlte sich zu schwach für eine Auseinandersetzung. Es war einfacher zu essen, als darüber zu streiten. Kalt und leblos fühlte sich das Brot an, an dessen Schnittstellen eine Krem aus Majonäse und Thunfisch herauszuquellen drohte. Gloria verzog unwillkürlich das Gesicht. Richard übersah es. Oder er tat zumindest so. Es kostete sie Überwindung in das Brot zu beißen, aber danach stellte sie fest, dass das Essen ihr weniger Mühe bereitete, als sie befürchtet hatte. Im Gegenteil, das betäubte Bedürfnis nach Nahrung war mit dem ersten Bissen wieder erwacht. Immerhin hatte sie seit ungefähr vierundzwanzig Stunden nichts gegessen. Ein gemischter Salat und ein Ei zum Mittagessen am Vortag in der Kantine der Versicherungsgesellschaft, war ihre letzte Mahlzeit gewesen. Sie hatte auf das gewohnte Menü mit Suppe und Hauptspeise verzichtet, obwohl sie es gerne mochte. Sie hatte ihren Hunger aufsparen wollen, weil sie abends zum Essen verabredet gewesen war. Mit Sten. Mit Sten, der nicht wusste, weshalb sie nicht gekommen war, und es nie erfahren würde. Sie durfte nicht an Sten denken, nicht jetzt. Richard zerknüllte die leere Verpackung und ließ sie auf den Boden fallen. Er fischte die Jacke hinter seinem Rücken hervor, suchte nach Zigaretten. In der Sonne glänzte sein braunes, gelocktes Haar wie Gold. Viel zu schön für einen Mann, und er wusste es nicht einmal zu schätzen. Er hatte immer noch das gleiche dichte, leuchtende Haar wie früher. Er war vierunddreißig, nicht alt, aber in einem Alter, in dem der Glanz der Jugend verblasste. Bei Männern begann das Haar meist auszudünnen und die Stirn an den Ecken tief in den Haaransatz hineinzuwandern. Das Haar altert zuerst. Glorias Haar war schon vor der Zeit gealtert. Sie war siebzehn gewesen, als sie das erste graue Haar entdeckt hatte. Mit Staunen hatte sie es herausgepickt aus dem sanften Rieseln eines schattigen Meeres aschblonden Haares. Zu dieser Zeit war das warme Kinderblond bereits nachgedunkelt, wie von Grünspan überzogen. Ein irrtümliches Missgeschick, hatte sie über dieses erste graue Haar zuerst gedacht. Aber das Missgeschick hatte sich fortgesetzt, war nicht aufzuhalten gewesen, und die grauen Haare hatten sich immer weiter in ihr Blond eingeschlichen. Der Unfall, hatte Richard gesagt, es war der Unfall, so etwas kommt vor. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass Richard wirklich daran glaubte, dass ein Schock die Haare beinahe über Nacht grau werden ließ. Das war so eine Geschichte, die er ihr erzählte, damit sie nicht weiter darüber nachgrübelte. Mach dir keine Gedanken, du bist schön hatte er ihr immer wieder versichert. Und doch war er es gewesen, der ihr angeraten hatte, ihr Haar zu färben. Seit sie zwanzig war, seit sechzehn Jahren, färbte sie ihr Haar, versuchte chemisch jenes Blond wiederherzustellen, das ihr abhanden gekommen war. Sie hatte keine Ahnung wie ihr Haar jetzt in seinem naturbelassenem Zustand aussehen mochte, und sie wollte das auch gar nicht wissen. Es deprimierte sie auch so schon, wie es war, dünn und kraftlos, in seiner gelogenen Honigfarbe. Der Anblick von Richards Haar machte sie immer neidisch. Er hatte seinen Pullover ausgezogen, die Ärmel von seinem Hemd bis zu den Ellbogen aufgekrempelt und rauchte. Die Haut auf seinen Unterarmen war sandfarben, mit wenigen, dunklen Härchen versehen. Er roch nach Salz und Nikotin und dem Tweedstoff seiner Jacke. Glorias eigener Geruch, der ihr aus dem Ausschnitt ihrer Bluse in die Nase stieg, erinnerte sie an Muscheln und Brackwasser, der abgestandene Geruch von Angst. Die Sonne brannte auf ihren Körper herab. Wenn man die Augen schloss, konnte man meinen es wäre Mai oder Juni, einer jener frühen Sommertage. Die Wärme nahm sich unnatürlich aus in der winterlich abgestorbenen, nackten Landschaft dieses Gartens. Apokalyptisch, dachte Gloria, sie schwitzte und doch konnte sie sich nicht richtig erwärmen. Ein schattiger, kühler Unterton saß ihr in den Knochen und ließ sie frösteln. Sie hatte nicht genug geschlafen, sie war übernächtig. Das bekam ihr nicht, und alles andere bekam ihr schon gar nicht.

Das Mädchen trat aus der Tür und setzte sich auf die Schwelle. Sie schlüpfte ihre Füße in ein dunkel glänzendes Paar Skaters. Mit einem skeptischen, seitlichen Blick nahm sie Richards und Glorias Anwesenheit zur Kenntnis. Diesem Blick war nicht zu entnehmen, ob sie zufrieden war, dass sie hier geduldig saßen und warteten, ohne sie weiter zu belästigen, oder ob sie gewünscht hätte, sie wären ohne Aufhebens, einfach wieder verschwunden. Sie beachtete sie auch nicht weiter. Während sie mit steifen, klackenden  Schritten zu dem Schwimmbecken stakste, steckte sie die Ohrenstöpsel eines Discman in die Ohren. Sobald sie den Betonstreifen, der das Schwimmbecken säumte, erreicht hatte, wurden ihre Bewegungen weich und fließend. Sie war eine geübte Läuferin. Ihre Beine waren kraftvoll und durchtrainiert, ihr Lauf geschmeidig und leicht. Scheinbar mühelos glitt sie dahin, wie eine Tänzerin auf Eis. Sie trug immer noch Shorts und ein weißes T-Shirt, um die Hüften hatte sie lose die Ärmel eines dunkelblauen Sweaters geknotet. Das schulterlange Haar war mit einem roten Haargummi straff am Hinterkopf zu einem wippenden, pinselartigem Schwanz zusammengebunden. Ihr Gesicht sah jetzt älter aus als zuvor, aber verletzlicher. Gloria fragte sich, ob das an der Frisur lag, oder an der Hingabe, mit der sie in ihrem Lauf versunken war. Das einzig lebendige in diesem Garten unter dieser ungewöhnlichen Februarsonne und dem Gezwitscher unsichtbarer Vögel, war das Mädchen. Richard und sie selbst zählten nicht, sie waren nicht lebendig, nicht in diesem Sinn. Sie waren Zaungäste am Rande eines fremden Lebensgartens. Ihre eigene Geschichte spielte ganz wo anders, unter anderen Bedingungen und anderen Gesetzen. Gloria sah auf ihre Armbanduhr, es war zwei Uhr Nachmittag. Allmählich wurde sie unruhig.
- Wo bleibt bloß ihr Bruder, es wird schön langsam Zeit, dass wir etwas unternehmen, sonst wird es  Abend, bevor wir von hier losfahren können.
- Er wird schon kommen.
Richard saß da, wohlig wie eine Katze in der Sonne, mit halbgeschlossenen Lidern und beobachtete amüsiert, wie das Mädchen ihre hypnotisierenden Kreise zog. Als hätten sie alle Zeit der Welt.
- Ich werde jetzt zu dem Mädchen gehen und ihr sagen, sie soll ihn wecken, falls er immer noch schläft.
- Du siehst doch, sie ist beschäftigt.
- Das ist mir egal. Wir können nicht ewig warten.
- Warum nicht?
Richards Gelassenheit war fehl am Platz und brachte sie auf. 
- Man wird bereits nach uns suchen!
- Keiner wird uns suchen, geschweige denn hier finden.
Gloria schnalzte ungehalten mit der Zunge, ein hoffnungsloser Laut des Ärgers.
- Vertrau mir, Gloria.
Richards Stimme war so sanft wie seine Hand, die er auf ihren Arm legte. Eine Beschwörungsformel. Die Verletzung auf seinem Handrücken leuchtete roh und wund im Licht der Sonne. Es war eine Brandwunde, dessen war Gloria sich nun ganz sicher, aber sie sagte es nicht noch einmal. Sie entwand ihm ihren Arm. Das Mädchen hatte den gleichförmigen Rhythmus ihres Laufes unterbrochen. Die Beine parallel gestellt, rollte sie aus, streckte ihren Oberkörper, ihre Arme, ihr Kinn in die Höhe, andächtig, als schüttete der Himmel seinen Segen über sie aus. Fromm und selbstvergessen war der Ausdruck ihrer Körperhaltung und ihres blanken Gesichtes. Ein Ausdruck, dachte Gloria, der täuschte, dahinter lag die beinharte Kalkulation, dass man sich seinen Anteil am Segen mit dem Himmel durchaus aushandeln konnte, solange man sich im Zustand der Gnade von ungebrochener Kraft und Selbstvertrauen befand. Es war kein vorsätzlicher Schwindel, bloß eine Selbsttäuschung mit unabsehbarem Risiko. Denn war dieser Zustand einmal gebrochen, war es auch mit dem Segen vorbei. Auch das wusste Gloria, hatte es selbst erfahren, früher, endgültiger und unmissverständlicher als andere. Der Himmel machte kein Geschäft mit den Schwachen. Das Mädchen wusste das noch nicht. Sie beugte ihren Oberkörper sanft nach vor, bis der Kopf vor ihren Knien baumelte, eine Reverenz, die sie einem geheimnisvollen Gott erwies. Langsam richtete sie sich wieder auf, streckte sich, schüttelte ihre Beine aus, lockerte die Muskeln. Ein  Augenblick unsichtbarer Stille umgab sie, aus dem sie einem scheinbar plötzlichen Impuls folgend, heraustauchte und mit energischen Schlittschuhschritten erneut zum Laufen ansetzte. Aber im Gegensatz zu der mechanischen Gleichförmigkeit ihres vorherigen Laufes war nun eine Zielgerichtetheit hinzugekommen. Als sie genügend Schwung gewonnen hatte, breitete sie die Arme wie Flügel aus, faltete sie mit leicht gespreizten Ellbogen konisch über ihrem Kopf und drehte sich um ihre eigene Achse, einmal, zweimal.
- Die Kür, und nicht die Pflicht, kommentierte Richard.
Er hatte die Zigarette zwischen den Lippen geklemmt, und die Gestalt des Mädchens verschwamm im Rauch, der zwischen seinen Worten von seinen Lippen aufstieg. Richards Sicht lag immer im Focus auf sich selbst. Was die Dinge selbst darstellten, sah er nicht.
- Was verstehst du schon davon? 
Glorias Stimme klang gereizt. Das Mädchen senkte die Arme, ließ die Drehungen ausklingen und begann rückwärts laufend Achterschleifen zu ziehen.
- Frauen in ihrem Alter lassen keine Gelegenheit aus, ihr Körper in Szene zu setzen.
- Sie ist keine Frau, sie ist ein Kind! schnappte Gloria zurück.
Richards Lächeln wurde breit und anzüglich.
- Na gut. Weibliche Kinder in ihrem Alter lassen keine Gelegenheit aus, ihren Körper in Szene zu setzen.
- Was meist du damit?
- Das was ich sage.
- Es ist eine Anspielung auf mich, nicht wahr?
- Wie kommst du drauf, was hast du mit ihr zu tun?
- Sie ist wie ich.
- Zum Teufel Gloria, hör auf immer alles auf dich zu beziehen.
- Ich war auch einmal jung. Und ich habe meinen Körper sportlich in Szene gesetzt, wie du das nennst. Hast du das vergessen?
- Nein das habe ich nicht.
Ärgerlich schnippte Richard den Stummel seiner zu Ende gerauchten Zigarette auf den Boden und zermalmte die Glut mit dem Absatz seines Stielfels.
- Aber ich habe auch nicht daran gedacht. Ich habe nicht ständig jedes beliebige Detail deiner Vergangenheit im Kopf parat, um es dir in böser Absicht vorzusetzen.
- Es ist nicht ein beliebiges Detail meiner Vergangenheit. Es ist die einzig glückliche Erinnerung, die ich an meine Jugend habe.
Glorias Hände lagen in ihrem Schoß zerbrechlich und schlaff, wie Vögelchen mit gebrochenem Genick. Sie spürte wie das Unglücklichsein ihren Ärger unterwanderte und sie lähmte, in jenem langgezogenen Atem, in dem es keine Zeit und keine Erlösung gab. 
- Das weiß ich.
Richard beugte sich zu ihr herüber, packte sie an der Schulter, zwang sie ihn anzusehen.
- Und gerade deshalb solltest du es auch in guter und unversehrter Erinnerung behalten!
Seine Hände hielten sie fest, sein Blick bohrte sich in ihre Augen, als wollte er durch ihre Pupillen in ihr Gehirn eindringen, um alle schlechten Gedanken darin auszulöschen und seine eigene Sichtweise darüber zu legen. Wie oft hatte er das schon versucht. Sie kannte das zur Genüge, aber es würde ihm nicht gelingen. Sie schloss die Augen. Abrupt ließ er sie los und erhob sich. Ihr Unglücklichsein machte Richard meistens böse. Es war die einzige Waffe, die sie gegen ihn besaß. Eine Waffe, die gegen sie selbst losging. Aber die Erinnerung an ihre Kindheit war auch eine Wunde. Vor allem eine Wunde. Das war kein Ort, den man im Schatzkästchen seines Herzens bewahrte, um ihn gelegentlich aufzusuchen, wie Richard sich das vielleicht vorstellte. Richard würde es für sich selbst so halten. Er kannte keinen Schmerz, und selbst wenn er ihn kennen würde, würde er ihn fortwischen, ausradieren. Es war leicht das Bedauern über einen verlorenen Zustand zu verachten, wenn man selbst nie etwas verloren hat, das man bedauerte. In gewissem Maß konnte sie Richard sogar verstehen.

 

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Auszug aus dem Roman Garten der Geschwister. Roman von Patricia Brooks, Molden 2006

Weiterführend

Wir verleihen Patricia Brooks für ihr erzählerisches Werk in 2017 den KUNO-Prosa-Preis, lesen Sie hier die Begründung. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.