DER GESANG DER SÄULEN

 

Selige Säulen, mit
Tag auf den Hüten und
wirklicher Vögel Schritt
rings um ihr obres Rund.

Selige Säulen, wie
Spindeln der Melodie!
Jede singt, da sie steigt,
Schweigen, das einig schweigt.

Was ists, was ihr so erhebt,
ihr euch Gleichen an Prangen?
Dort wird, was uns schön durchstrebt,
ohne Mangel empfangen!

Wir singen, ans Tragen zugleich
dieser Himmel gewöhnt!
O einziger Klang, der im Reich
auch der Augen ertönt!

Siehe die Hymnen, die reinen!
Welche Fülle von Klang
folgt unserm eigenen Scheinen
an der Klarheit entlang!

Meißel aus unseren Wiegen
holten uns, golden und kalt,
wie die Lilien stiegen
wir in diese Gestalt!

Plötzlich erweckte man
uns in dem Bett von Kristallen,
und metallene Krallen
faßten uns formend an.

Daß wir den Mond bestehn,
Sonnen- und Mondglanz hätten,
hieß es jegliche glätten
so wie Nägel der Zeh’n!

Mägde wir, ohne Knie,
Lächeln ohne Gesichter,
vor uns die Schöne: die
Schenkel werden ihr lichter.

Alle, aus Ehrfurcht, Gleiche,
die Nase unter dem Band,
vom Weißen der Last das reiche
Ohr ganz abgewandt,

auf den Augen die Frone
des Tempels für alle Zeit,
gehn wir im Schwarzen ohne
Götter zur Göttlichkeit!

Unser Jungsein, das alte,
Schatten im Matten, die strahlen,
ist stolz, daß es Reize enthalte,
die sich erzeugen aus Zahlen!

Töchter der goldenen Zahl,
stark durch der Himmel Verein,
über uns stürzt manches Mal
golden ein Gott und schläft ein.

Schläft zufrieden, der Tag,
er, den wir täglich frisch
opfern, so wie erlag,
auf den Stirnen als Tisch.

Schwestern, mit Reinheit begabt,
halb erglühte, halb linde,
die wir zu Tänzern gehabt
welke Blätter und Winde,

und der Jahrhundert’ je zehn
und der Völker Zug,
das ist ein tiefes Vergehn
und vergeht nie genug!

Unter der Liebe, die bleibt
und die Welt überwiegt,
ziehn wir durch alles, was treibt,
wider Wellen geschmiegt!

Wir durchschreiten die Zeit,
unser Leib setzt weit
unbeschreibliche Schritte;
in Sagen bleiben die Tritte …

 

 

***

Gedichte von Paul Valéry, übertragen durch Rainer Maria Rilke. Weimar: Cranach Presse für Leipzig: Insel-Verlag, 1925.

Weiterführend KUNO dokumentiert den Beginn einer Wahlverwandtschaft.

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