Hinterlassenschaft

 

Tagebücher hat der 1891 in Kiew geborene und seit Anfang der 1920er Jahre in Moskau lebende Michail Afanassjewitsch Bulgakow (1891-1940), Autor des legendären Romans „Der Meister und Margarita“, nur bis zum 13. Dezember 1925 geschrieben. Im Mai 1926 wurde seine Moskauer Wohnung von der OGPU (Gesamtrussische Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution) durchsucht und „seine Tagebücher dabei  beschlagnahmt“ (S. 85). Diese editorische Anmerkung enthält auch die Vermutung, dass dieser kriminelle Tatbestand die Ursache dafür gewesen sei, den Autor davon abzuhalten, „ seine Gedanken weiterhin in privaten Notizbüchern festzuhalten.“ Briefe wie auch handschriftliche Notizen sind in der vorliegenden Publikation den Bänden 13 (Halbband 1 und 2, 1996) der Gesammelten Werke von Michail Bulgakow (Verlag Volk & Welt 1992-1996), dem Band  „Briefe, 1914-1940“ wie auch dem Band 5 „Die rote Krone. Autobiographische Erzählungen und Briefe aus der Ausgabe des Verlags „Volk & Welt“ entnommen. Worin unterscheidet sich diese Ausgabe von den bisherigen Veröffentlichungen? Die Übersetzer Renate und Thomas Reschke ergänzten fehlende Quellen, indem sie auf zwei russische Ausgaben „Mikhail i Yelena Bulgakovy: Dnevnik Mastera i Margarity“, hrsg. von V.I. Losev, Moskau 2004 und „Dnevnik, pis‘ma 1914-1940“ (Moskau 1997) zurückgreifen konnten. Die vorliegende Ausgabe bezieht sich auf die ausgewählte Wiedergabe der Briefe im Zeitraum von 1921 bis 1940. Sie konzentriert sich damit auf das literarische Schaffen Bulgakows, das aufgrund seiner ärztlichen Tätigkeit bis 1919 erst mit dem 30. Lebensjahr einsetzte. Der umfangreiche Anmerkungsapparat zu den Tagebüchern und Briefen (vgl. S. 271-295), ein Überblick über Leben und Werk von Bulgakow wie auch eine Auswahlbibliographie lag in den Händen von Susanne Krones.

Diese Vorbemerkungen erweisen sich insofern als notwendig, weil Bulgakow aufgrund der ihm auferlegten Publikationsverbote seine kritische Haltung gegenüber der Sowjetmacht in seinen Tagebüchern meist ungeschminkt zum Ausdruck brachte. Erst nach der teilweisen Aufhebung der Zensur während der Perestrojka-Phase zwischen 1986 bis 1991 konnten die geretteten Tagebuch- und Briefdokumente veröffentlicht werden. Sie erbringen den Nachweis für die couragierte Haltung des verfemten Autors, unter äußerst schwierigen materiellen Bedingungen für die Freiheit des literarischen Wortes zu kämpfen. Er vertritt sie auch in dem Verhörprotokoll der OGPU nach der Beschlagnahmung seiner Tagebücher und einigen Manuskripten sowie in seinem Brief an Josef W. Stalin und andere Politik- und Kulturbevollmächtigte im Juli 1929. Dort klagt er die Verantwortlichen im Kulturapparat an, sie würden gegen ihn eine Vernichtungskampagne führen, indem sie seine wenigen erlaubten Inszenierungen an Moskauer Theatern diffamierten und für Publikationsverbote seiner Erzählungen und Satiren sorgten. Seine abschließende Bitte, man möge ihn aus der UdSSR ausweisen, wird ihm verwehrt, wie auch seine weiteren Gesuche, ihm und seiner Frau Jelena wenigsten eine einmalige Auslandsreise zu erlauben. Diesem Tatbestand geht der englische Slawist Roger Cockrell in der Einleitung der vorliegenden Publikation nach. Er kommt zu dem Schluss, dass es trotz des verdeckten, unerklärlichen Wohlwollens von Seiten des Diktators gegenüber Bulgakow schließlich Willkür gewesen sei, die dessen Ausreise aus der UdSSR verhinderte. Und dennoch seien, so Cockrell, „seine Erzählungen, Romane und Theaterstücke, ob sie nun zu seinen Lebzeiten veröffentlicht und ausgeführt wurden oder nicht“ (S. 11), zu einer machtvollen Erwiderung auf Stalins Russland geworden.

Bulgakow war sich spätestens Ende der 1920er bewusst, dass er „zum Schweigen verdammt“ war, so in den Briefen 1929/30 an seinen in Paris lebenden Bruder Nikolai Afanassjewitsch (1898-1966). Am 28. März 1930 wendet er sich an die Regierung der UdSSR, weil in ihm der Wunsch gereift sei, „meine Qualen als Schriftsteller zu beenden.“ (S. 119) In diesem mutigen, elf Punkte umfassenden Brief bekennt er sich zur Pressefreiheit, prangert die verleumderische Presse in der UdSSR an, die ihn vernichten will, und bittet noch einmal um die Erlaubnis, mit seiner Frau sein Heimatland verlassen zu dürfen. In welch verzweifelter Lage sich der Schriftsteller befand, verdeutlicht der Inhalt eines weiteren Briefs an den Generalsekretär des ZK der KPdSU am 31. Mai 1931. Er bekennt Stalin, dass er in dem weiten Feld der russischen Literatur ein einsamer literarischer Wolf ist, der jahrelang in einem eingezäunten Hof gejagt worden sei. Es gibt nur wenige vergleichbare Manifeste, in denen sich ein verfemter russischer Autor, der sich selbst als Häftling bezeichnet, mit einer solchen Vehemenz, Offenheit, Verzweiflung und zugleich erstaunlichen Vaterlandsliebe an seinen Gebieter wendet.

Die eingehende Lektüre der Briefe aus den 1930er Jahren, besonders derjenigen, die Bulgakow während der riesigen Verhaftungs- und Liquidierungswelle nach 1936 an Verwandte und Künstlerkollegen schrieb, verweist jedoch auch auf ein seltsames Phänomen. Es ist eine sonderbare Mischung, bestehend aus Nachrichten über Absagen und Verbote seiner Theaterstücke, Bekenntnissen über seine psychische Befindlichkeit und Antworten auf Anfragen, wie zum Beispiel, ob er denn nicht ein Stück über den 20. Jahrestag der Oktoberrevolution verfassen könne (vgl. Anfrage der Sektion Dramatik im Schriftstellerverband im August 1937, vgl. S. 226). Der nichteingeweihte Leser würde an dieser Stelle verwundert fragen: War er etwa doch ein „vertrauenswürdiger“, regimetreuer Autor, obwohl …? Mitnichten, der Henker im Kreml, auf dessen Veranlassung viele Schriftsteller und Künstler liquidiert wurden oder im Gulag verschwanden, brauchte einige Alibi-Figuren als Legitimation für die „Toleranz“ eines Herrschers über Leben und Tod. Außerdem erwies sich Bulgakow mit seinen Erfolgsstücken über den Bürgerkrieg der frühen 1920er Jahre, wie z.B. „Die Tage der Turbins“, für den Diktator als Zeuge einer künstlerisch gelungenen Abbildung revolutionärer Auseinandersetzung zwischen den Roten und den Weißen. Und der so kluge Zeitzeuge erwies sich leider auch als naiver Bewunderer eines Schurken, für den er noch 1939, kurz vor seinem Tod, ein Stück („Batumi“) über die Jugend von Dschugaschwili (so sein Geburtsname) schreiben wollte. Und das „Vertrauen“ in diesen skrupellosen Diktator war so groß, dass er sich im Februar 1938 an Stalin mit der Bitte wandte, er möge doch den Dramatiker Nikolai Erdman nach dessen dreijährigen Verbannung in Sibirien erlauben, wieder nach Moskau zurückzukehren (vgl. S. 232).

Diese wenigen Beispiele können nur im Ansatz verdeutlichen, welch vielschichtige Persönlichkeit sich aufgrund vor allem der Lektüre seiner Briefe (die sicherlich auch kontrolliert wurden) dem Leser erschließt. Wertvolle Ergänzungen dazu findet man unter der Rubrik ‚Materialien zu Michail Bulgakows ausgewählten Briefen und Tagebüchern (vgl. S. 303 – 349)‘, in der auch der immer wieder verhinderte Rezeptionsprozess auszugsweise dokumentiert wird. Und je mehr ein an dem Schaffensprozess von Bulgakow interessierter Leser sich in die Hintergründe der Entstehung dieser Werke vertieft, desto mehr sollte ihm bewusst werden, in welcher Weise während der Stalin-Ära literarische und theatralische Abläufe gelenkt, zensiert, verboten und auf gnädige Weise auch erlaubt wurden. Eine Lektüre, die nicht nur die düsteren Hintergründe einer in vieler Hinsicht verhinderten Werk-Rezeption ins Licht rückt, sondern aufklärt über die Mechanismen von Willkür und Terror, und fortwirkt, wenn auch unter den abgemilderten Bedingungen einer gelenkten Demo-Kratur.

 

 

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Ich bin zum Schweigen verdammt. Tagebücher und Briefe von Michail Bulgakow. Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke. Einleitung, Nachwort und Anmerkungen aus dem Englischen von Sabine Baumann. München (Luchterhand) 2015