Sekunden der Ohnmacht

 

Seit über vierzig Jahren ist das poetische Werk des 1937 im litauischen Klaipeda geborenen Tomas Venclova von den gesellschaftlichen und politischen Verwerfungslinien in Osteuropa geprägt. Dennoch gehören seine Gedichte nach Durs Grünbein „zum Unzeitgemäßesten, was die zeitgenössische europäische Poesie zu bieten hat“. Wenn dieser offensichtliche Widerspruch eine der Ursachen für die dichterische Bedeutung des „Odysseus aus Vilnjus“ sein sollte, dann sind Topoi und Verfahrensweisen zu benennen, die dieser Dichtung durch die semantisch-syntaktischen Übersetzungskonturen hindurch eine solch nachhaltige, bewundernde Rezeption in Europa und Nordamerika verleihen.

Der vorliegende Band, nach Venclovas Gedichtband Vor der Tür das Ende der Welt im Hamburger Rospo-Verlag 2000, die zweite umfangreiche Gedichtauswahl im deutschsprachigen Raum, kann in mehrerer Hinsicht eine Antwort darauf geben. Er umfasst rund ein Drittel des poetischen Werkes von Venclova; seine inhaltlichen Assoziationsfelder reichen von der tragischen Niederschlagung der ungarischen Republik im Jahr 1956 bis zu philosophischen Reflexionen „im friedlichen Winkel Europas zwischen Wannsee und Potsdam“ im Jahr 2003. Auf diesen Feldern zeichnen sich die Ereignisse um den Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die Tschechoslowakei 1968 ebenso ab, wie die Werftarbeiterstreiks im Dezember 1970 in Polen.

Die Ermordung des russischen Dissidenten Konstantin Bogatyrjow im Jahr 1976 erfasst Venclova unter Verweis auf die berühmte erste Strophe aus Dantes Göttlicher Komödie; die durch Mauer und Stacheldraht geteilte Stadt Berlin im Jahr 1979, zwei Jahre nach seiner erzwungenen Emigration, gerät in das Visier des nunmehr ruhelos reisenden Dichters und Essayisten: in zahlreichen Subtexten setzt er sich mit Anna Achmatowas und Joseph Brodskys Poemen über Petersburg auseinander; in seinen hoch verschlüsselten Texten über die in Grautönen gehaltene litauische Landschaft tauchen Partisanen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit auf, in einem Drei-Strophen-Poem wagt Venclova im Winter 1991, während der militärischen Auseinandersetzungen um Vilnjus, nach einem Vortrag an der Yale-University eine Prognose über die Zukunft Litauens; in einer urbanistischen Reflexion aus dem Jahr 2000 über eine „Neue Postkarte aus der Stadt K.“ zeichnet er die materialen und psychischen Verwüstungen im einst ostpreußischen Königsberg auf.

Worin besteht nun, angesichts der intensiven, tief greifenden Diagnosen der Zeitenläufe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das „Unzeitgemäße“ der Poetik von Venclova? Aus welchen Quellen speist sich „eine Stimme von so lakonischer Schwere, so unerschütterlicher Gefasstheit“ (Durs Grünbein)? Auf welche Weise bildet sich in diesen Gedichten eine oft abgeklärte, beinahe elegische Stimmung in enger Verbindung mit strengen metrischen Strukturen heraus? Wo sind die Ursprünge der philosophisch und poetologisch aufgeladenen Texte zu suchen?
In seinem Nachwort verweist Grünbein zu Recht auf die enge geistige und dichterische Verwandtschaft Venclovas mit Joseph Brodsky und Czesław Miłosz, mit denen er „ein Dreieck aus russischen, polnischen und litauischen Traditionen“ bildet. Von den Russen, nicht nur von seinem langjährigen Freund Brodsky, habe er ein System verstecktester Anspielungen und eine Akrobatik der Verskunst erlernt, sei von der klassischen Poetik (Puschkin) wie auch der frühen Moderne (Mandelstam, Blok, Achmatowa) inspiriert worden und nicht zuletzt auch vom Jazz der Leningrader Szene der frühen 70er Jahre.

Natürlich sei ihm auch die „gedankenstrichschnelle“ Marina Zwetajewa ebenso vertraut gewesen wie das poetologische Konzept des dichterischen Zeitgenossen, wie es Mandelstam entworfen habe. Und wo dieses dichte und zugleich zarte Geflecht nicht ausreichte, da habe er auch aus antiken und christlichen Quellen geschöpft, um die geistige Verlorenheit der Sowjetära, die urbane verödete Landschaft im Osteuropa der 50er bis 70er Jahre mit einem neuen, geheimen Kanon aufzuladen.

Daraus habe sich eine doppelte Belichtung von Vergangenheit und Gegenwart entwickelt, die Venclova in eine Gegenposition zum Zeitgeist treten lassen, die ihn gleichsam zu einer Gegenkraft seiner Epoche machen. Die sich dabei herausbildende Zähigkeit im Umgang mit den gigantischen Torheiten des kommunistischen Systems und der vielstimmigen zeitgenössischen Alogik der liberaldemokratischen und starrsinnigen republikanisch-nationalen Ordnungen, so könnte man hinzufügen, bilden weitere Quellen der Poetik Venclovas.

Wer sich aufmerksam in die Tiefendimensionen der vorliegenden, von Claudia Sinnig (Interlinear- und literarische Übertragungen aus dem Litauischen) und von Durs Grünbein übersetzten Poeme einliest, der wird vor allem in den Abschnitten I und II einprägsame, wenn auch manchmal schwer zu entschlüsselnde Bild- und Gedankenmuster von politischen, geologischen und geisteswissenschaftlichen ost- und ostmitteleuropäischen Landschaften erhalten. Mit dem Blick auf den durch die Rote Armee blutig niedergeschlagenen Budapester Aufstand im Spätherbst 1956 notiert das lyrische Ich eine Geschichte überschreitende Agonie:

Nur eine Sekunde der Ohnmacht.
Nun kommen wir nie mehr dorthin,
o blutrot im Wasser der Donau
Das Bild des Novembers verschwindet.

Im September 1968 widmet Venclova in „Gedicht über die Freunde“ der auf dem Roten Platz mit einigen Freunden gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestierenden russischen Dichterin Natalja Gorbanewskaja eine fast gnostische Hymne:

Und wieder, mit rührender Großmut, Herbst,
Über Häusern und Gleisen der fremden,
Von ein paar Seelen erretteten Stadt
Beginnt in dieser Stunde der September.

Im „Gespräch im Winter“ gedenkt er von Litauen aus der Opfer der Werftarbeiterstreiks in Stettin und Danzig, wobei er aus großer zeitlicher Distanz von einer „Gravitation des Todes“ spricht, die „an den Pflanzen, Menschen / Und Dingen“ zerrt. 1979 markiert ein kollektives Ich den politisch-geographischen Standort Berlin:

Wir sehn den umgestülpten Himmel, Soldaten patrouillieren.
Blaulicht, das peitscht. Ein Fleck prangt herrisch an der Mauer.
Die Leere, richtungslos.

Venclova, in den 80er und 90er Jahren nicht nur in Europa unterwegs, reflektiert 1996 bei einem Besuch in Peking den Zustand der chinesischen Gesellschaft nach der Niederschlagung der Studentenrevolte auf dem „Platz des Friedens“:

Hundert oder fünfzig Meter von hier
stand der unbewaffnete Mann, der einen der nahenden Panzer
für kurze Zeit zähmte. Irgendwo ist er noch, nicht gefangen,
und weiß nicht, dass seine unfassbare Geste der Welt den Atem raubte.

Dass Venclova den Status eines Dichters aufweist, der historische Zusammenhänge über große geographische Distanzen hinweg erfassen kann, ohne freilich eine überzeugende sachlogische Erklärung für die nachhaltige Wirkung von welthistorischen Ereignissen liefern zu können, verdeutlicht das Poem „Die Dünen in Watemill“. Es setzt ein mit einer einfachen Naturbeschreibung („Long Island“) und beschreibt dann die in der Tat bedeutende Rettungsaktion des japanischen Konsuls Chiune Sugihara in Vilnjus des Jahres 1941. Er versorgte – gegen die konsularischen Vorschriften – Tausende litauischer Juden mit Transitvisa für Japan und rettete ihnen damit das Leben, wie in den Kommentaren zu diesem Band von Claudia Sinnig zu lesen ist.
Einen besonderen Aspekt bilden in den Poemen Venclovas die zahlreichen zoomorphen Wesen, die als Metaphern die psychischen Befindlichkeiten der Protagenisten markieren. Einige Beispiele mögen solche Verfahren verdeutlichen. In „Emigrantin“ aus dem Jahre 2000 setzt er sich mit dem schweren Los einer möglicherweise aus Litauen ausgewiesenen Frau auseinander, die in dem US-amerikanischen Exil in wachsende Isolation gerät. Die dort auftauchenden Tiere (Waschbär, Eichhörnchen, Ameisen) versinnbildchen deren Annäherung an die Großstadtwelt der Menschen, die in einer offensichtlich immer größeren Entfremdung voneinander leben:

All diese Ströme ins Nichts. Ein Waschbär schleicht um die Garage,
Klopft mit der Schnauze ans Tor. Eichhörnchen lodern im Nadelgestrüpp.
… Unter Blättern erschauert der Zweig.
Ameisen schuften.

Ebenso bildmächtig beschreibt ein kollektives lyrisches Ich – auf der visuellen Wahrnehmungsebene – in dem Gedicht „An den Seen“, das Claudia Sinnig gewidmet ist, die Seenlandschaft um Potsdam. Doch in den Tiefenschichten von Natur- und Kulturraum lauert auch dort die totalitäre Vergangenheit:

Die Ebene ist angefüllt mit dem Wasser
des Todes des Lebens,

ein Schatten liegt auf
der Vergangenheit (wie auf der Gegenwart),
im Licht der ersten heiteren Wochen.

Und nur wenig später erweist sich das nachdenkende Ich als hilflos bei der Bewertung der Vergangenheit, aus der die Phänomene Riefenstahl, Häftling, schwarze Namenszüge oder Flüchtling auftauchen:

Die Vergangenheit bringt keine Erleuchtung, doch versucht sie,
etwas zu sagen. Vielleicht begreift ja die Krähe uns
und den Schmutz der Geschichte besser als wir.

Es zeichnet sich also, je mehr wir in die Tiefenstrukturen dieser so sinnmächtigen Poesie vorstoßen, eine eigenwillige, „unzeitgemäße“ Beleuchtung eines Jahrhunderts der Kriege, Massenerschießungen, Vertreibungen und eines nicht auslotbaren psychischen Leids ab. Sie wird von einem Scheinwerfer ausgelöst, der gleichsam tastend die sichtbare Wirklichkeit erfasst, um deren Rätselhaftigkeit mit gnostischen Erläuterungen zu versehen. Dieser „Mangel“ an Effekthascherei, wie sie vor allem die postmoderne Poesie pflegt, erweist sich als die Wirkmächtigkeit von „Bildern“, die sich auch nach einer Schichten-Analyse nicht in phänomenologisch verdichteten Aussagen auflösen, sondern als gleichsam menetekelhafte Schlaglichter unser Unterbewusstsein aufscheuchen.

Dass in der vorliegenden Ausgabe zahlreiche, für den einfühlsamen, aber ahnungslosen Leser „dunkle“ Felder beleuchtet werden, ist einer vorbildlichen editorischen Arbeit zu danken. Zahlreiche Gedichte sind mit Erläuterungen versehen, die den biographischen und geschichtlichen Hintergrund mancher lyrischen Protagonisten aufhellen. Das Nachwort von Durs Grünbein zeugt von einer fundierten Kenntnis einer eigenwilligen Poetik, die durch die sprachliche Vermittlung von Claudia Sinnig und manches Gespräch mit dem Autor eine deutende Vertiefung erfahren hat.

Es ist deshalb zu wünschen, dass die Botschaften einer bedeutenden europäischen Dichterpersönlichkeit aus dem amerikanischen Exil von einer größeren deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit aufgenommen werden. Vielleicht war die Lesereise von Tomas Venclova durch Deutschland im November 2008 ein anregender Auftakt zu einer eingehenden Begegnung mit seiner Poesie.

 

 

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Tomas Venclova. Photo: Mariusz Kubik

Vor der Tür das Ende der Welt: Gedichte von Tomas Venclova, Rospo-Verlag, Hamburg

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.