Verwunschener Ort

  Auf dem Lande, so geht das Klischee, ist die Welt noch in Ordnung; und auf dem Weg vom Urbanen in die Provinz meiner Jugend will ich das gern glauben. Wenn ich nämlich, zum Beispiel, am Sonntag vor Ostern, nachdem…

Von Maschinen und Erinnerungen

  „Denk mal logisch!“ Wie oft hat man das schon in der Schule gehört? Und zugegeben: Manch einer von uns musste bei diesem Satz wahrscheinlich schon mit acht Jahren die Augen verdrehen. Denn wie wir alle von klein auf wissen:…

Der freieste Schriftsteller

Auch heute noch, nachdem er sich 200 Jahre in der Lesewelt befindet, gilt von Laurence Sternes ‚The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman‘ das Urteil, daß es zu den 10 größten Büchern gehöre, die bisher in englischer Sprache geschrieben…

Erinnerungshilfen

  Und plötzlich ohne Vorwarnung durch einen akustischen Hammerschlag erzeugt, ist er in die Vergangenheit versetzt. Immer wieder passiert ihm dies und er kann sich kaum dagegen wehren. Musik und Gerüche sind die besten Erinnerungstransporter. Nur einige Töne oder Akkorde…

Verlassenheit

1 Nichts unterbricht mehr das Schweigen der Verlassenheit. Über den dunklen, uralten Gipfeln der Bäume ziehn die Wolken hin und spiegeln sich in den grünlich-blauen Wassern des Teiches, der abgründlich scheint. Und unbeweglich, wie in trauervolle Ergebenheit versunken, ruht die…

Von der Gewissensfreiheit

  Man sieht sehr gewöhnlich, daß gute Absichten, wenn sie ohne Mäßigung durchgesetzt werden, die Menschen zu sehr fehlerhaften Handlungen verleiten. In dem Streit, durch welchen Frankreich anjetzt durch den bürgerlichen Krieg beunruhigt wird, ist die beste und sicherste Partei…

Trauer ist subversiv

Was ist da unter dem Stein habe ich gefragt. Ein Körper, haben sie gesagt. Und warum die Kerzen? Für die Toten. Ach so. Ich habe genickt, die Hände in den Jackentaschen vergraben, die Nase unterm Ansatz des Rollkragenpullovers verkrochen. Verstanden…

Anmerkungen eines Ketzers

  Ich mag Science Fiction. Vor allem so Leute, die sich frei durchs halbe Universum bewegen, von Captain Kirk bis Perry Rhodan. Mit Raumschiffen und durch Wurmlöcher oder Stargates. Nun geht das nicht so einfach. Die Physik hat – zumindest…

Gedankenvoll verstreute Lebensmomente

Autofiktion bezeichnet in der Literaturwissenschaft eine Erzähltechnik, die das Genre Autobiografie mit fiktionalen Elementen verbindet.  Der Antagonismus zwischen dem Autobiografischen und dem Erfundenen ist so alt wie das Erzählen. Derzeit ist die Autofiktion eine sehr beliebte Gattung, weil sie Prosa…

Weltempfänger

Am 29. Oktober 1923 ging der erste zivile Radiosender in Deutschland on air. Schnell war das Radio ein gefeiertes Medium, in dem Neues ausprobiert wurde. In seiner hundertjährigen Geschichte hat sich der Rundfunk immer wieder neu erfunden. Das Radio begann…

Scheitern nach Plan

Noch länger hätte Oliver in dem Provinznest nicht bleiben können. Alles, was geschehen war, wollte er hinter sich lassen. Erst wenn man ihn vergessen hatte, wollte er noch ein einziges und letztes Mal zurückkommen, um Rache für das Unrecht zu…

DE-FINITO

Netzer kam aus der Tiefe des Raumes. Karl Heinz Bohrer am 27. Oktober 1973 in der FAZ   Nein, Aufklärungsarbeit wolle er durchaus nicht leisten, versichert er mir dann beim eigentlichen Einstieg in seine Geschichte, seine Position hinsichtlich dieses Projektes…

Über das Pathos der Wahrheit

Ist der Ruhm wirklich nur der köstlichste Bissen unserer Eigenliebe? – fragt Nietzsche in diesem Essay. Ein Thema, daß nichts an Aktualität eingebüst hat. KUNO zeigt den Zwiespalt auf, in dem sich die Kunst befindet. Sie kommt nicht an der…

Pokaltrainer

  An diesem sonnigen Samstagmorgen hatte er lange geschlafen, war erst gegen acht, halb neun vielleicht aufgewacht. Bei gutem Gewissen noch einige Seiten eines in sicherem Stil verfassten Buches gelesen. Chorleiter baut einen neuen Chor auf und scheitert schließlich an…

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  Meine Socken Sohlen üben gehen mit Füßen hinfallen und aufstehen aufstehen und hinfallen weißt du noch wie es war als dein pinkes Rad deiner Kindheit die Stützen verlor hingefallen Knie verletzt weiter gefahren Tränen kommen immer erst Jahre später…

Oskar Kokoschka

  Wir schreiten sofort durch den großen in den kleinen Zeichensaal, einen Zwinger von Bärinnen, tappischtänzelnde Weibskörper aus einem altgermanischen Festzuge; Met fließt unter ihren Fellhäuten. Mein Begleiter flüchtet in den großen Saal zurück, er ist ein Troubadour; die Herzogin…

Oh Haar mein Hut!

  Wenn das Haar ein Hut ist, der herrlichste Hut, den es seit Menschengedenken gibt, weil er jeden Tag ein anderer, veränderbarer ist, dann ist jeder Hut, der nicht aus abbrechbarem, nicht aus ausfallbarem Stoff besteht, ein architektonisches Element, sprich,…

Lyrik im öffentlichen Raum

  Das wilde Beschriften des urbanen Raums reicht zurück bis in die Antike: „ADMIROR TE PARIES NON CECIDISSE – QVI TOT SCRIPTORVM TAEDIA SVSTINEAS“ („Ich staune, Wand, dass du nicht zerfallen bist, / da du soviel Unflat von Schreibern ertragen…

Allerneuester Erziehungsplan

Zu welchen abenteuerlichen Unternehmungen, sei es nun das Bedürfnis, sich auf eine oder die andere Weise zu ernähren, oder auch die bloße Sucht, neu zu sein, die Menschen verführen, und wie lustig demzufolge oft die Insinuationen sind, die an die…

Philosophische Aussagen Georg Büchners

Grundsätzlich schreibt Büchner autobiographisch. Das Netz, das die Ideen aus dem Leben fischte, fand er in sich vor. […] Dichtend fand er Zugang zu den überfluteten Gebieten seines Selbst, die für andere Erkenntnisarten unzugänglich waren. Hermann Kurzke   Georg Büchner…

Die Grenzen des „Schöner Wohnen“

  Schön zu wohnen ist heute relativ einfach geworden. Das vielseitige Angebot ist fürwahr kein Garant für die richtige Wahl beim Erwerben der passenden Einrichtungsgüter, aber die Produkte sind hinsichtlich Qualität gestiegen und steigen weiter, auch dann, wenn sie in…

Eine Denkschrift

  Es war im Jahr 1815, nach Christi Geburt, daß mir der Name Börne zuerst ans Ohr klang. Ich befand mich mit meinem seligen Vater auf der Frankfurter Messe, wohin er mich mitgenommen, damit ich mich in der Welt einmal…

Hamburger Oktober 1923

  In großen Städten vergeht ein Aufstand spurlos. Eine Revolution muß groß und sieghaft sein, wenn die Spuren der Zerstörungen, ihre heroischen Wunden, die weißen Trichter der Kugeln an den Mauern, die mit den Pockennarben des Maschinengewehrfeuers bedeckt sind, sich…

Usch

  Das Jägerzimmer – Sammlung und Refugium – ist das frühere Kinderzimmer der Dreizimmerwohnung im Döllnitzer Weg 2, Halle-Süd, wo Usch dreiundsechzig Jahre lang lebte. Als Susanne auszog, die Tochter, um sich von der Enge und den elterlichen Zwängen zu…

Gezeitengespräch 10

Vorbemerkung der Redaktion: In diesem Jahr machen wir das vergriffene Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse auf KUNO recherchierbar.   Zeitfern: Fragen wollen wir beantworten. Ja. Nicht jetzt. Da drängen andere „Sachen“. Heute ein Gespräch gehabt mit einem geschätzten Menschen.…

Social Beat & Beat

  2021 gab es von Januar bis Mai eine Ausstellung über den legendären Social Beat im Literaturhaus Stuttgart. „Social Beat & Beat: Ein literarischer Urknall“ hieß das Ganze. Bei Killroy Media gibt es jetzt die DVD zur Ausstellung. – Ein…

KURZE HAARE

Beantwortung einer rundfrage Drehen wir die frage um. Fragen wir die frauen, was sie zu den kurzen haaren der männer sagen. Sie werden wahrscheinlich antworten, daß das eine sache ist, die die männer allein angeht. In Zürich hat der leiter…

Frisur, Ideologie, Gendering

  Jede Gruppe, jede Vereinigung, jede Partei, jedes System hat Köpfe, warme und kalte Köpfe, weiche und harte Köpfe, nachdenkliche und gedankenlose, lose und windige, bartlose haarlose Köpfe. Beginnt die Frisur am Kinn? Warum trägt ein Haarloser Bart, ein Bartloser…

Kurze Begegnungen

1 Sie trafen sich am Beethoven vor der Alten Post. Die junge Frau im blauen Rock war ganz aufgeregt vor ihrem ersten Rendezvous. Fast pünktlich erschien ein Herr, der zur Beschreibung passte – ein Kopf größer als sie selbst, so…

Glosse

  Da in früheren Jahren der mir feindselige Kretinismus zu dem Argumente gegriffen hat, daß es meine Beschäftigung sei, die Druckfehler der Tagespresse zu korrigieren, so will ich diese Meinung einmal ins Recht setzen und mitteilen, daß ich bei der…

mut

    wer will. es lässt sich am leben witschen. ehrlich: rutschgefahr. wahlweise flatter programme, neben wirkungen unbekannt.     *** Vor zehn Jahren erschien: die gezirpte Zeit, von Sophie Reyer Neue Lyrik aus Österreich Band 2., 64 Seiten, 12 x…

Digitales Sammeln

  „Wenn im Herbst die Sonne durch das Oktoberlaub scheint, wenn sich zwischen den gräulichen Wolken ein strahlend blauer Himmel zeigt, dann zieht es immer mehr Wanderer in den Wald. Dann werden die Schuhe geschnürt und durch die Landschaft geht…

Dekonstruktionen der Heimat

„Es lebe Bonn! Es lebe Deutschland! Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!“ Charles de Gaulle   Mein Vater, Theo Schnarhelt, geboren 1908 auf einem Bauernhof in einem damals kleinen Dorf im Südoldenburgischen, (in der Nähe von Bremen in Norddeutschland) war der…

Die analoge mail • Revisited

Ein Briefwechsel ist ein Gespräch unter Abwesenden. Die wahrscheinlich erste rhetorische Brieftheorie über diesen Austausch stammt vermutlich von Artemon aus dem 1. Jahrhundert. Im Vorwort seiner Aristoteles-Briefausgabe nennt er den Brief die eine Hälfte eines Dialoges, den Briefwechsel „ein Gespräch…

Ein Gespenst

  Es war ein Abend meines siebenten oder achten Jahres vor unserer babelsberger Sommerwohnung. Eins unserer Mädchen steht noch eine Weile am Gittertor, das auf, ich weiß nicht welche, Allee herausführt. Der große Garten, in dessen verwilderten Randgebieten ich mich…

DIE ALTE

  ich liege reglos auf einer wiese und feiner blütenstaub bedeckt mich, den insekten zerstäuben, wodurch er ständig aufwirbelt und niederfällt. und ich spüre, wie in mir der wein verbrennt, den ich zuvor getrunken habe. plötzlich sehe ich rauch aus…

Das leise Verstören

  Was und wie es aus der Kopfhaut herauswächst, bleibt unkontrollierbar und ungestalt. Es ist das Haar, das als Wort ausgesprochen und in all seinen möglichen und aussprechbaren Buchstabenvariationen Aggressionen provoziert: raah!, raha!, arah!, aarh!, rhaa! Es wächst lautlos, unsichtbar,…