Über den russischen Dichteresoteriker Nikolai Klujev

Klujev, altgläubiger dichter in schaftstiefeln und schafspelz, der von einem irdischen bauernparadies träumte und der wiederkehr Pugatschows, als kulak verteufelt, verhaftet, verbannt, ohne Kieferngeläut verscharrt wie ein räudiger köter im lager narym in jenen jahren…

Wulf Kirsten

 

Der russische Dichter des silbernen Jahrzehnts Nikolai Aleksejevitsch Klujev, Vertreter der sogenannten “neubäuerlichen” Richtung in der russischen Lyrik des XX. Jahrhunderts, ist am 10. (22) Oktober 1884 im abgelegenen nördlichen Dorf Koschtugi bei Wytegra des Olonetski Gouvernements (heutzutage Gebiet Wologda) in einer altgläubigen Bauernfamilie geboren. Seine Mutter Praskovja Dmitrijevna war Sagenerzählerin. Von ihr hat der zukünftige Dichter die Liebe zur Volksdichtung, zu Liedern, geistlichen Gedichten, Sagen und Legenden erworben. Sie hat ihm auch Lesen und Schreiben beigebracht. Ihr hat der Dichter später viele Gedichte darunter den berühmten Zyklus „Bauernhüttenlieder“ «Isbjanyje piesni» gewidmet:

 

Die Mutter ist tot» – vier raschelnde Wörter.

Tot ist auch der Melkeimer samt schmierigem Topf.

Es grämt sich der Kater, die Kuh ist voll Kummer,

Soviel sie als Tiere  begreifen den Tod …

 

1893-1895 besuchte Nikolai die Volksschule seiner Kirchengemeinde, danach die Zweiklassenschule in der Stadt. Nach deren Abschluss lernte er ein Jahr lang an einer Medizinfachschule in Petrosavodsk, die er aber infolge einer Krankheit verlassen musste. Seitdem führte er einige Jahre lang ein Vagabundenleben, weilte in altgläubigen Klausen und Klöstern, darunter auch im berühmten Solowezkij-Kloster. Im Auftrag der Hlysty-Sekte besuchte er China, Indien und Persien. Dort bekam er Zugang zu einer riesigen Wissensquelle. Man schrieb ihm sogar hypnotische Ausstrahlung auf andere Menschen zu. Der Dichter war vielseitig: er spielte einige Musikinstrumente, hatte eine erstaunlich schöne Stimme und besaß hervorragendes schauspielerisches Talent.

Anfang 1900 begann Klujev Lyrik zu schreiben. In den Jahren 1904/1905 erschienen in Sankt Petersburg seine ersten Gedichte „Die schönen Träume sind nicht in Erfüllung gegangen… “, “So unermesslich breit das Feld…“ und weitere. Am Anfang war er u. a. Alexander Block sehr verpflichtet, mit dem 1907 ein reger Briefwechsel begann. Block schätzte die Äußerungen Klujevs über das damalige volkstümliche Russland sehr: “Seine Worte scheinen aus Gold zu sein“, sagte er einmal über ihn. Unter Mitwirkung von Block wurden die Gedichte Klujevs z. B. in den Zeitschriften „Das goldene Vlies“ und „Nowaja Semlja“ gedruckt. Für den ersten Gedichtband von Nikolai Klujev “Kieferngeläut” (1912) hat Valerij Brüssov ein Vorwort verfasst.

In den Jahren der ersten russischen Revolution (1905-1907) nahm Klujev aktiv an der revolutionären Bauernbewegung teil. Anfang 1906 wurde er wegen Agitation verhaftet, sechs Monate lang ins Gefängnis gesperrt und danach einige Zeit von der Geheimpolizei überwacht.

Vor der Oktoberrevolution erschienen weitere Gedichtbände von Klujev: „Die brüderlichen Lieder“ (1912), „Waldsagen“ (1913) und „Weltrauch“ (1916).

Nicht nur Block und Brüssov, sondern auch Gumiljow, Achmatowa, Gorodetsky, Mandelstam etc. haben diesen eigenartigen, großen Dichter bemerkt. 1915 lernte Klujev Sergej Jessenin kennen, der ihn in der Folge seinen Lehrer nannte. Um sie scharten sich Dichter der sogenannten neubäuerlichen (volkstümlichen) Richtung wie A. Belyj, S. Klychkov, Iwanow-Razumnik, P. Oreschin, A. Schirjajevez usw., die alle der Gruppe „Skythen“ angehörten.

In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass die offizielle russische Presse am Vorabend und während des Ersten Weltkriegs unter dem Motto der Volkstümlichkeit und des Nationalismus auftrat. Diese Leitgedanken spiegelten sich auch in der Kunst jener Zeit wider. In den damaligen Kunstkreisen hat sich das Interesse für die Urquellen des russischen nationalen Lebens und seines volkstümlichen Charakters verstärkt, während in den literarischen Salons vor allem die Frage nach dem Schicksal Russlands diskutiert wurde. Besonderer Beliebtheit erfreute sich die slawische und russische Mythologie.

Kein Wunder also, dass und warum in einer solchen geistigen Atmosphäre die Veröffentlichungen Klujevs weithin Beachtung fanden und von den Kritikern wohlwollend aufgenommen wurden. Doch das sollte nicht so bleiben.

Viele Dichter jener Zeit hegten die Hoffnung, die Revolution werde eine Rettung für das Bauerntum sein und die Bauern würden sie ihrerseits verteidigen. Deshalb wurde auch die Oktoberrevolution von Klujev nachdrücklich begrüßt. Damit verband er die Erfüllung eines langen Traums der Bauern vom besseren Leben. In diesen Jahren schrieb er viel und mit großer Begeisterung. 1919 erschien der Gedichtband „Der kupferne Wal“, der revolutionäre Gedichte wie „Das rote Lied“ (1917) oder „Aus den Kellern, aus den dunklen Winkeln …“ enthält. Der Dichter war fest davon überzeugt, dass die Zeit des echten Christentum gekommen sei: „Christus wird sich von den Schlehennadeln erholen, und das Volk wird erleichtert aufatmen können“. Aus diesem Grund trat er 1918 der Russischen Partei der Bolschewiki bei.

Doch seine Erwartungen und die vieler anderer wurden bald enttäuscht.

Schon kurz nach der Revolution wurde klar, dass die neuen Herrscher Russlands vor allem auf die allgemeine Industrialisierung des Landes setzten. Der blutige Terror und das Ziel, die bäuerliche Kultur zu vernichten, veränderten die Meinung des Dichters. Kommunisten wurden für ihn “Lebensherren mit Hörnern”. Wegen seiner christlichen Anschauungen wurde Klujev 1920 aus der Partei der Bolschewiki ausgeschlossen. Statt Zeilen wie “Lenin hat den Wind und Sturm zum Engel gemacht”, schrieb er jetzt: “Wir glauben an vieläugige Brüder, Lenin dagegen an Eisen und den roten Geist”.

Nach dem Selbstmord von Jessenin hat Klujev das Gedicht „Ein Wehklagen über Sergej Jessenin“ (1926) verfasst, das aber kurz darauf verboten wurde.

Klujew trauert um ihn wie eine Mutter:

 

Du, mein Uhu klein, mein liebstes Vögelein!

Der Dichter sieht in Jessenin “ein Kind”, einen reinen Knaben vom Lande”, der als Opfer der Stadt fallen sollte, einer fremden und feindlichen Welt. Er ist sich im Klaren, dass die Machthaber die Volkspoesie nicht nötig haben: “Überall, wo der Hirt klopft – hört er nur das Bauchbrummen”.

In seinem Poem «Durch Brand geschädigt» (‚Pogorelschina’) beweinte er nun über Jessenin hinaus das ganze bäuerliche Russland. Dieses Poem ist eine Art Sage, die von der Vernichtung der Bauern als Klasse handelt. Man kann ihn deshalb als Dichter des alten, vergehenden Russlands bezeichnen, an das er mit Trauer denkt und von dem er sehnsüchtig träumt.

 

Der MG-Teufel übt seine Kraft vor dem Weihrauch aus:

Russlands Bettuch ist unverhofft hin.

Zöpfe kamen in Brand und Gewitter zerzaust,

Panzerbüchsen   zerstampften die Schwanengestalt.

 

Eine verhängnisvolle Rolle im Leben Klujevs hat der kritische Artikel von Leo Trotski gespielt, der 1922 in der Presse erschien. Jahrzehnte lang musste nun der Dichter mit dem Makel eines Kulakendichters weiterleben.

Ab 1931 wohnte Kljuev in Moskau, aber der Weg in die Literatur war für ihn versperrt: alles, was er einreichte, wurde von den Redaktionen abgelehnt. Der Dichter lebte deshalb in großer Not. Er wandte sich an den Dichterverband mit der Bitte um Hilfe und schrieb unter anderem Maxim Gorki an: «… Das Elend, das Herumschleichen um fremde Küchen zerstört mich als Künstler».

1933 wurde Klujev zunächst inhaftiert und danach für fünf Jahre aus Moskau in die sibirische Stadt Kolpaschevo im Narymbezirk verbannt. «Ich bin von meiner ‚Pogorelschina’ beschädigt worden – wie einst mein Urgroßvater, der Protopope Avakum, der seines Glaubens wegen auf dem Scheiterhaufen von Pustosersk verbrannt wurde. Mein Blut verbindet, wohl oder übel, zwei Epochen: die von den harzigen Scheiterhaufen und Salven der Selbstverbrennungen erleuchtete Zeit des Zaren Fiodor Aleksejevitsch und unsere so junge und deshalb unerfahrene. Mich hat man wegen des Poems ‚Pogorelschina’ in den sicheren und qualvollen Tod geschickt, nichts anderes habe ich verübt», schrieb er seinem Freund S. Klytschkov aus der Verbannung.

Mitte 1934 wurde Klujev durch Gorkis Fürsprache nach Tomsk gebracht. Er schrieb unter dem Eindruck seiner literarischen Isolation: „Es ist mir um mich als öffentliche Figur gar nicht schade, aber es tut mir leid um meine Lieder, süße, sonnige und goldene Bienen. Stark stechen sie in mein Herz“. 1934 sagte er in einem Verhör schonungslos: «Der sich in der UdSSR unter der Diktatur des Proletariats entwickelnde Sozialismus hat endgültig meinen Traum von der altertümlichen Rus zerstört».

Am 5. Juni 1937 wurde Klujev in Tomsk verhaftet, angeblich – so führte die sibirische NKWD aus – wegen konterrevolutionärer Tätigkeit und Vorbereitung eines Aufstands gegen die sowjetische Macht, in dem man dem Dichter eine führende Rolle zuschrieb. Nach seinem Tod schenkte man viele Jahre der Darstellung Glauben, Klujev sei an der Station Taiga nach dem Verlust seines Koffers mit den Manuskripten an einem Herzanfall gestorben. In Wirklichkeit aber wurde der Dichter im Oktober 1937 (am 23. oder 25.) auf dem Kaschtatschberg in Tomsk erschossen.

Zwanzig Jahre lang bis zur Rehabilitierung 1957 wurde sein Name in der UdSSR nicht erwähnt, und erst 1982 erschien das erste posthume Buch. Während der Glasnostzeit wurden einige Werke von Klujev veröffentlicht, die man lange für verschollen gehalten hatte, vor allem das Poem «Pogorelschina», das der Dichter einst dem italienischen Slawisten Lo Gatto übergeben hatte. 1950 wurde es im Ausland publiziert. Ironie des Schicksals ist, dass Klujevs unvollendetes und verloren geglaubtes Hauptpoem «Das Lied von der großen Mutter» ausgerechnet in den Archiven der KGB erhalten blieb.

«Das Lied von der großen Mutter» spricht von der Herkunft des Dichters und seinen Vorfahren. Diese lebten im Lande der Vepsen, Saamen, Loparen und Karelen – finnougrische Völker des russischen Nordens.

Sein Familienname wird mit «von Schnabel» übersetzt. In der Kultur finnougrischer Stämme war ein Kriegerhelm und überhaupt jede Kopfbedeckung von Männern sehr beliebt und wurde mit der Zarentracht verbunden. Außerdem bedeutete «kljuwyj» schön als Mann, wobei eine Adlernase besonders wichtig war:

Zu blaujungen Frühjahrsfluten

Hat an den Perlensandflußufern

Der  runde Nachen festgemacht.

Der Riesenkrieger ist gegangen

Ans Land, behelmt wie kopfbeschnabelt.

Die Heiden hiessen ihn von Schnabel,

Der Wundermütze — Ehrenplatz!

 

Lebendige russische Volksdichtung bedeutete für Klujev mehr als Literatur. Es war etwas Sakrales darin, was die «mythische Vogelsprache» dem modernen Menschen verheimlichte, was aber Bestandteil des Bewusstseins im Heiligen Rus war. In einigen Gedichten (unter anderem im «Schalenpsalm» (“Poddonnyj psalom”) versuchte Klujev sogar die Mystik des russischen Alphabets wiederzugeben sowie in die Tiefen der Muttersprache und ihre Vogelmelodie vorzudringen.

Als ob er sein Schicksal hätte vorhersehen können, schrieb der Dichter:

Die Beere wird reif für den Kropf eines Vogels,

Der Stein ist zur Masse und Schwerkraft bestimmt,

Der Mensch kommt zur Welt  um den Sarg zu vermessen,

Die Nächte schwarzdunkel und Tage verstimmt.

Doch eines hat er nicht im Voraus gewusst: Aus dem Dunkel, in dem er begraben schien, ist er „wieder auferstanden“ und damit der Vergessenheit entrissen. Seit 1984 wird in seiner Heimat in Wytegra jährlich an seinem Geburtstag ein großes Lyrikfest veranstaltet.

Dem Rat von W. Kirsten folgend haben wir dem Biberacher Hartmut Löffel vorgeschlagen eine Klujev-Auswahl auf Deutsch zu präsentieren. Leider war der Übersetzter  zu eifrig an die Tat gegangen. 2009 erschienen 28 von ihm übersetzte Gedichte in einer Buchform gedruckt (Kljuev N. «O Russland – das bist du!». Ausgewählte Gedichte, Russisch und Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Hartmut Löffel. Wiesenburg-Verlag, Schweinfurt). Der Nachdichter, ein Verehrer von Heine und seiner modernen Schreibweise, hat die deutsche  Tradition zu stark in die russische prosodische und äußerst individuell geprägte poetische Welt von Kljuev eingemeißelt. So dass dabei die unwiederholbare stilistische, inhaltliche und sprachliche Einzigartigkeit der Originaltexte verloren gegangen war und dem Leser ein moderner Dichter aller Völker und aller Zeiten präsentiert wurde (so der Eindruck eines deutschen Lesers). Man kann so eine Interpretation durch das Phänomen der sogenannten ästhetischen Interferenz erklären, wenn der nationale Kode einer heimischen Dichtung auf das fremdsprachige (-kulturelle) Literaturmodell übertragen wird und auf diese weise die   sinntragende Integrität des fremden Stoffes verletzt wird. Leider waren wenige, doch positive Rezensionen auf dieses Buch, in erster Linie von der Wichtigkeit des unternommenen Projektes  inspiriert, auf der Kühnheit des Übersetzers konzentriert, der Kopf über Hals das äußerst schwierige Material herangewagt hat, ohne über eine genügende sprachliche Kompetenz zu verfügen (Sieh. dazu: Данилевский Ю. Первый сборник стихотворений Н.А. Клюева в переводе на немецкий язык // Русская литература. № 4. 2011. С. 201–202; Rakusa I. Begnadeter russischer Sonderling // Neue Zürcher Zeitung. 18. März 2010. S. 50; Kasper K. Klopf ich beim Kerl, der Särge macht … // Neues Deutschland. 7. Juni. 2010. S. 15 // Osteuropa. N. 12. 2010. S. 143–144).

Es versteht sich, dass die Lyrik im Großen und Ganzen unübersetzbar ist, aber hoffentlich findet sich einer (oder eine), die einen Schritt in dieser Richtung weiter macht.

Hütten, Wege entfrostet…

von Nikolai Klujev (Übertragung Tamara Kudryavtseva).

Hütten, Wege entfrostet,
Niederwald, braun und licht,
Tannenkreuze im Elchtal
Scharf und deutlich in Sicht.

Von Südwest abgetrocknet
Brettel ruhn an der Wand,
Ähnelt löchriger Schnee
Fuchsrot Greises Gewand.

Weidenbäume verfeinert
Von der Morgenrotpracht,
Und der Waldbeerenbastkorb —
komm nun, Sonn`, an die Macht.

Tüchtig bleibt an der Sache,
Reizt `nen Kreuzschnabel der Specht,
Und für Auerhähne
Steht die Fangschlinge schlecht.

 

***

Prof. Dr. habil Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.