Überprüfung der historischen Fakten

 

Der seit 1904 als Korrespondent und Journalist in Paris lebende Hermann Fernau galt als entschiedener Kriegsgegner, der in seinem Tagebuch „Paris 1914“ die militärischen und psychologischen Vorbereitungen auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die ersten Wochen der Kriegshandlungen kommentiert hat. Seine zehnjährige Tätigkeit als Korrespondent deutschsprachiger Zeitungen in der französischen Hauptstadt und seine überzeugte Haltung als Pazifist bildeten die Voraussetzungen für seine spezifische Sichtweise des Kriegsausbruchs. Als er im Sommer 1919 sein Tagebuch in Zürich veröffentlichte, begründete er seine dezidierte Meinung wie folgt: „Es zeigt, wie ich schon zu Beginn des Krieges fühlte und gegen die Sache der Hohenzollern-Partei ergriff, die ich als deutscher Demokrat niemals als die Sache meines Vaterlandsempfand empfand. Spätere genaue Nachprüfungen haben meine Ansicht über die Schuld der kaiserlich deutschen Regierung am Kriegsausbruch nicht geändert.“ (in: Fernau, 2014, S. 66)

Diese Überprüfung der historischen Fakten im Kontext der Biografie des Korrespondenten übernimmt Lothar Wieland in seinem einleitenden Essay „Ein Deutscher in Paris. Hermann Fernau (1883-1935) und sein Tagebuch von 1914…“. In seinem 50-seitigen Text, mit mehr als 200 Fußnoten versehen, vergleicht er Fernaus Tagebuch-Aussagen mit den dort verwendeten französischen Zeitungstexten, deutschsprachigen Korrespondenten-Berichten, mit den Ergebnissen historiografischer Untersuchungen zur deutschen und französischen Öffentlichkeit zu Beginn des Ersten Weltkriegs, benutzt Archivquellen, er verweist auf die Beobachtungen Fernaus in Paris Ende Juli /Anfang August 1914, und kommt zu folgendem Schluss: „Allein aufgrund der Faktenlage und seiner täglichen Beobachtungen gelangt er zu der Überzeugung, dass die Dynastien der Mittelmächte die Verantwortung für den Krieg trügen, …“ (S. 17)

Auch im Hinblick auf die deutsche Apologetik der 1920er Jahre, die auch bis in die 1960er Jahre sich von jeglicher Schuld an der Auslösung des Weltkrieges freisprach , vertrat Fernau eine dezidierte Haltung, zu der der Historiker Fritz Fischer nach langjährigem Quellenstudium gelangte. Es waren zwei wesentliche Thesen, die, so Wieland, vor allem die deutsche Historiografie bis in die jüngste Gegenwart vertrat. 1) Der angebliche französische Revanchismus (Annexion von Elsass-Lothringen) wie auch die immer wieder von deutscher Seite angeheizte Atmosphäre einer deutsch-französische Erbfeindschaft. Beide Behauptungen habe Fernau ebenso widerlegt  wie die bis in die jüngste Gegenwart in deutschen Schulbuchwerken vertretene Behauptung, „die nationalistische Propaganda (habe) in allen europäischen Staaten … dafür gesorgt, dass die Europäer mit grenzenloser Begeisterung und nationalem Pathos den Krieg begrüßten, er somit unvermeidbar gewesen sei.“. (Fernau, S. 20) Vielmehr registrierte Fernau unter der Pariser Bevölkerung unmittelbar vor den Kriegserklärungen große Angst, Verzweiflung und Erbitterung.

In seinen weiteren, stets durch Quellen abgesicherten Ausführungen belegt Wieland die konsequenten Bemühungen Fernaus um Aufklärung über die Hintergründe nationalistischer Propaganda. Für ihn sei die militärische Auseinandersetzung zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich auch die Konsequenz des ideologischen Kampfes zwischen Republik und Dynastie gewesen. Basierend auf der nationalistischen Propaganda (Dolchstoßlegende) der 1920er Jahre, sei diese Hetzpropaganda von den Nazis fortgesetzt worden.

Hermann Fernaus journalistische Tätigkeit ist nach 1916, nach seiner Übersiedelung in die Schweiz,  von der Recherche für eine Publikation geprägt, die 1917, nach ihrer französischen Ausgabe in Genf/Paris, unter dem deutschen Titel „Durch! .. zur Demokratie!“, erscheint. Von französischen und amerikanischen Regierungsstellen finanziell gefördert, wird die Schrift – auch aufgrund ihres  überzeugenden Bekenntnisses zur Demokratie und ihrer Vorschläge zum Umbau der deutschen Monarchie  – ein Verkaufsschlager. Das bis dahin freundliche Verhältnis zur französischen Republik veränderte sich allerdings nach Kriegsende, als Fernau die Haltung Frankreichs gegenüber Deutschland nach dem Versailler Vertrag scharf verurteilte. Seit 1920 wieder in Deutschland lebend, wurden seine Veröffentlichungen stets von nationalistischen Kreisen attackiert. Sie betrachteten sein republikanisches und pazifistisches  Gedankengut als eine Gefahr für Deutschland. Die 1933 an die Macht kommenden Nationalsozialisten verboten seine Schriften, auch weil, wie Wieland recherchierte, die Nazis ihn als einen jüdischen Autor bezeichneten. Die Hintergründe seines plötzlichen Todes im Jahr 1935 sind, so Wieland, nicht bekannt.

So intensiv eingestimmt auf Leben und Werk von Hermann Fernau, erweisen sich die Tagebuch-Aufzeichnungen mit ihren 285 Seiten Anmerkungen als ein bedeutendes, nach 1984 endlich wieder abgedrucktes Dokument. Gestützt auf zahlreiche Archivberichte, abgesichert durch erläuternde Sachberichte aus Zeitschriften, geht von jedem einzelnen Tagesbuch-Eintrag die Aura des unmittelbar erlebten Eindrucks aus, der im Anschluss daran mehrfach gefiltert wurde. Der zweite Text, das erste Kapitel aus Fernaus Schrift „Durch!.. zur Demokratie“ über „Einige Feststellungen künftiger Geschichtsschreiber“, zeichnet sich durch ein hohes Maß an analytischer Betrachtung von Kriegsgeschichte aus. Er wendet sich an Geschichtsschreiber, die ihre Berichte überarbeiten müssten, weil sie von ideologisch beeinflussten Sachverhalten ausgingen und oft trotz besseren Wissens zu Schlussfolgerungen gelangten, die eine Verfälschung von Tatsachen bewirken. So kommt Fernau zu dem Ergebnis, dass „dieser entsetzliche Krieg nicht Schicksal und Notwendigkeit, sondern Vorsatz und Wille, auf alle Fälle aber kein Verteidigungskrieg Deutschlands gegen feindliche Überfälle war.“ (s. 218)

Es zeichnet diese geschichtsdokumentarische Publikation aus, dass der Herausgeber der Reihe „Geschichte & Frieden“, Helmut Donat, in seinem abschließenden Essay sowohl Fernaus Wochenschrift für  unabhängiges Europa „Der Weltbürger“, Zürich 1919, als auch Max Müllers Tagebuch „Frankreich im Kriege“ (26. Juli -26. August 1914) als Hintergrund für seine Überlegungen zur Auslösung des Ersten Weltkriegs benutzt. Er würdigt den „Weltbürger“ als eine im Geiste des Pazifismus publizierende Zeitschrift, die „die Abkehr von ‚Gewaltpolitik‘ und vom ‚Großmachtgedanken‘ in der Tradition Bismarcks“ propagierte und demokratische Grundreformen anstrebte. Deshalb hebt er besonders die publizistischen Bemühungen von Alfred Hermann Fried, Richard Grelling, Wilhelm Muelon, Karl Max Fürst von Lichnowsky wie auch Hans Paasche hervor, die sich in ihren meist in der Schweiz veröffentlichten Schriften gegen die imperiale Kriegsführung Deutschlands wandten und eine Demokratisierung Europas forderten. Donat kritisiert in seinen Ausführungen auch einen Teil der gegenwärtigen Kriegsdeutungsliteratur, die, wie Christopher Clark in „Die Schlafwandler“ von der dokumentierten Kriegsschuld der deutschen und österreichischen Militärs ablenkt und die These von der gesamteuropäischen Schuld an der Auslösung des Jahrhundert-Verbrechens aufstellt.

Die Publikation ist mit einer Reihe von Abbildungen im Innenteil ausgestattet. Auf der Vorderseite des Paperback-Umschlags ist der gallische Hahn vor dem mit Sandsäcken geschützten Frontportal der Nôtre Dame abgebildet. Mit dieser Illustration erinnern die Herausgeber an die Bombardierung der französischen Hauptstadt im August 1914 durch deutsche Flugzeuge. Auf der Rückseite des Umschlags sind die wichtigsten Daten zu Leben und Schaffen von Hermann Fernau, nebst seinem Konterfei, abgedruckt. Sie verweisen auf die dezidierten Bemühungen Fernaus um die Aufklärung über die Hintergründe der Auslösung eines Jahrhundert-Verbrechens. Eine geschichtswissenschaftliche Publikation also, die hundert Jahre nach diesem Verbrechen die Verursacher und ihre verständnisvollen Geschichtsdeuter an den Pranger stellt!

 

 

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Paris 1914. Tagebuch eines deutschen Republikaners und Pazifisten (25. Juli – 22. September 1914). von Hermann Fernau. Herausgegeben, kommentiert und mit Beiträgen von Helmut Donat und Lothar Wieland. Bremen (Donat Verlag) 2014