Rautenmuster

 

In der Küche liegt ein ganzer Stapel an nicht mehr ganz frisch gebackenen Waffeln. Der derzeitige, offiziell so benannte Dauergast, der längst zum partiellen echten Mitbewohner geworden ist, hatte einfach Lust darauf zu backen. Er hatte sich das alte klassische Rezept der Großmutter hervorgekramt, lediglich die Speckschwarte weggelassen, mit der vor Jahrzehnten noch das Eisen gefettet werden musste. Mehl, Butter, Eier, Mandelmehl, Backpulver und Vanille. Klar, zum Abschmecken musste auch noch etwas Salz verwendet werden. Berechnet für sechs Eier. Das allerdings muss man sich mal vorstellen, auf der Zunge zergehen lassen. Sechs Eier für zwei Esser. Der rote Rührtopf, jene Plastikschüssel, die von irgendeinem gemeinsamen Kochen mit Freunden liegen geblieben war, war schwer befüllt. Ein leckerer Teig mit der richtigen Konsistenz. Drei Esslöffel für eine Füllung. Doch mit dieser Menge Teig hatten sie den halben Nachmittag backen müssen. Früher reichte die Portion normalerweise für vier bis sechs Besucher, dann mit Schlagsahne und heißen Kirschen.

Jetzt sind die Waffeln schon zwei Tage alt, nicht mehr gerade ganz frisch eben. Der Duft, der in der Wohnung hing, ist lange verflogen. Zum Frühstück, zum Abendessen wird nun Waffel gegessen. Mit Frischkäse zu empfehlen oder mit Kornelkirschenmarmelade. Im Grund egal mit was, aber die Waffeln müssen dringend weg.

Während Herr Nipp so vor sich hin mümmelt, eine Tasse Kaffee in der Hand, er hat noch einige Stunden Zeit, bis seine Schicht beginnt, betrachtet er die Rauten. Schon als Kind, wenn er ohne Probleme zehn oder elf dieser Gebäckstücke in sich schieben konnte, durfte, hatte er sich immer wieder über verschiedene Dinge gewundert, die Cloer-Waffeleisen betreffend. Warum haben die Waffeln fünf Herzen und nicht vier, das wäre doch viel praktischer? Man könnte sie viel besser in der Mitte falten, zweimal, damit man sie effektiv in den Mund schieben kann. Warum sind Waffeln so groß? Kleine Waffeln könnte man weghapsen, mit einem Mal quasi einatmen. Warum sind die Rauten so gleichmäßig auf das einzelne Herz bezogen auf die Mitte ausgerichtet? Das ist so verwirrend, wenn man ständig das gesamte Rad drehen muss, um die Rauten in die richtige Position zu bringen. Immerhin wechseln dabei die Schattenspiele fast malerisch. Immer wieder gehen ihm diese Gedanken durch den Kopf. Rechte Winkel, und spitze, Quadrate und Rauten, Farbe und Form, immer wieder werden die Waffeln auf dem weißen Teller gedreht. Zerlegt, gekostet und schließlich verspeist. Vielleicht ging es den Erfindern ja auch einfach darum, immer wieder Menschen dazu zu bringen, abzuschalten, über einen Weltzustand zu sinnieren, der eigentlich gar keine Bedeutung hat.

In diesem Moment kommt der derzeitige WG-Genosse herein. Mit dickem Grinsen. Er hat bei Ebay ein belgisches Waffeleisen geschossen. Das macht zwei quadratische Gebäckteile nebeneinander, verbunden mit einem dünnen Steg.

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421