Das Auge der Welt

 

Tods knochenharte Hand ließ Kautsky wieder los, als er in den Armen der Zauberin lag. Tod sah in ihr eine Kollegin, weil sie eine Betäuberin des Lebens war, die das Sein in einen anderen Aggregatzustand verwandelte. Sie trieb Kautsky auf den Gipfel des Nichts, sie tötete sein Gedächtnis. Er verlor die Erinnerung, bis sich Tod wieder in ihm regte. Er sprach in Kautskys Hirn, als wäre er in seine Glieder gekrochen: „Suche dich in der Welt, in der du dich verloren hast!“

Tod ist der größte Lehrer, dachte Kautsky. Er hatte sich selbst verführt, nun musste er wieder zurück ins Leben. Es fiel ihm schwer sich aus den Beinen der Zauberin zu lösen. Ich bin stärker als mein Verlangen, sagte er sich, ich zerschlage die Macht des Weibes. Er stieß sie sanft: „Ich werde dich nicht vergessen, ich habe dein Bild!“ Ja, das war gut gesagt, er nahm ihre Schönheit in sich auf, er verwandelte nun seine Liebe in die Suche nach sich selbst und brach mit festen Schritten auf zum Rand der Welt.

In der Ferne leuchtete die Silhouette der großen Stadt, unter ihm stampften die schweren Beine der tanzenden Elefanten, die mehr wussten. Kautsky beugte sich über den Rand der Welt, wo das Wasser über die Ufer des Lebens trat. Ich bin in der größten Gefahr, dachte er. Ich riskiere alles ohne Überlegung, weil ich die Vernunft hasse. Kautsky kletterte an einem der Wasserfäden, die wie Taue in die Tiefe fielen, in die Sphäre der Zeitdreher, bis er auf dem Rücken des Elefanten stand, der die Gebirge trug. In den Falten der dicken Haut stieg Kautsky abwärts, an den müden Augen vorbei, die ihn nicht sahen, bis zu den weißen Stoßzähnen, die mit der Spitze fast den Panzer der Schildkröte berührten. Kautsky glitt schnell auf der Elfenbeinbahn hinunter. Auf dem Panzer der Schildkröte sprang er rasch zur Seite um von den Beinen der Weltumdreher, der grauen Beweger der Zeit, nicht ins Horn der letzten Welt gerammt zu werden. Er schaute eine Weile den Elefanten zu, dem schweren Tanz der Zeit. Der Panzer war unter ihren festen Tritten glatt poliert. Unter den schweren Hufen sterben alle, die vom Teller der Welt  springen, die zu weit gehen. Der Panzer der Schildkröte ist die Grenze zur Totenwelt. Vielleicht ist die Welt, in der wir leben, aus dem Panzer der Schildkröte geboren, dachte Kautsky, und das Meer aus den Tränen derer, die weinten, als sie ihr Leben erschufen, weil sie wussten, dass sie scheitern – wie ich.

Er lief zum Rand des Panzers über dem Halspol, legte sich flach auf einen Krater des harten Horns, schob den Kopf über den Rand und schaute in den Nacken der stummen Schildkröte. Er schloss die Augen. Da lief er – er lebte! – mit leichten Füßen auf dem unteren Augenlid der Schildkröte entlang und stieg in die Augenhöhle! Ich will ins Hirn der Kröte vorstoßen! Er schrie – aber er hörte sich nicht, die Luft trug ihn nicht in die Tiefe. Mit den Armen hebelte er einen Spalt ins schläfrige Lid, durch den er schlüpfte. Er schien überhaupt keine Angst zu haben. Wahrscheinlich spürte die Schildkröte ihn überhaupt nicht. War sie blind? Lag die Schildkröte im Tiefschlaf einer sich ewig ausruhenden Welterfinderin – oder war sie schon längst gestorben? Die uralte Weltkröte, die immer da war, die ihre eigene Geburt sah, lebte noch. So eine Kröte stirbt ewig, sie wird nie ganz tot sein, sie lebt nur immer langsamer, das ist alles.

Kautsky schrie seinen Namen in den Spiegel dieser toten Welt, aber er hörte nichts.

Die Töne erstickten in den langsamen Molekülen der Regenbogenhaut, in der sich der Polykosmos so eigentümlich spiegelte, dass Kautsky für einen Augenblick glaubte, die Schildkröte blinzelt ihn an. Aber das bildete er sich nur ein. Keine Schildkröte kann sehen, was in ihr geschieht. Alles, was wir denken, ist eine Fata Morgana der ewigen Wiederholung des Seins. Kautsky sah in das Auge der Welt. Er holte tief Luft und sprang.

 

 

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KUNO erinnert an: Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.

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