Notizen zu Friederike Mayröckers Werk nach 2000

ihre dichtung hat eine meinen hals ausrenkende höhe erreicht, die so sehr weiter zu steigern ihre absicht ist, daß sie das alter von 150 zu erreichen proklamiert hat.

Ernst Jandl

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Zurück vom rundweg ›himmlischen‹ Gang durch weißen, schweigenden Wald mit ›unheimlich‹ wirkenden Fern­blicken, bei dem uns das allu­sionäre · bild­starke · cha­ris­mati­sche · katachre­tische · liebe­tempe­rament­wunder­wort­klang­volle · sinn­liche · syn­ästhe­tische · strah­lende · tränen­echo­reiche · wilde · zarte · tag­täglich fort­ge­schrieb­ne Lyrik­prosa­lebens­werk von Friederike Mayröcker begleitet, in dem ich, zu­hause mich fühlend wie Family Vogel in dem Nest, das sie seit Jahren im Kie­fer­haus­baum bewohnt, unent­wegt am liebs­ten lesen wollte, greif ich erneut nach dem Buch, zu dem ich mich, vom ersten Moment an, so heftig hinge­zo­gen fühle. Friederike Mayröckers dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif überragt alle von mir gelesenen Lyrik­titel des guten Jahrgangs 2009 dermaßen, daß der Peter-Huchel-Preis fast schon wieder zu klein ist für dieses große, lebendige Buch. Ich gehe in diesem Augenblick des Schreibens noch einen Schritt weiter und benenne dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif als das mich am meisten begeisternde unter den von mir zur Kenntnis genommenen Gedicht­büchern im deutschen Sprach­raum nach 2000. Bei jeder Gelegenheit wiederhole ich gern: Friederike Mayröcker (Man müszte wenigs­tens zweihundert Jahre alt werden): spätestens seit 1999 ein lyrischer Lieb­ling ··· [Die in diesen Essay mon­tierten FM-Zitate exzerpiere ich, mit großer Lust, aus einem Interview sowie Lyrik- und Prosa­büchern Friederike Mayröckers der Jahre 2000 bis 2010.]

für CF am frühen Morgenist das 1 Gedicht, sagt CF, ja
das ist 1 Gedicht : indem ich sage das ist
1 Gedicht ist es 1 Gedicht. Meine
Ärztin sagt, essen Sie 1 Gedicht, ich
weisz nicht wie man es kocht, sage ich. Wenn Antoni
Täpies sagt, diese weisze Form ist 1 Sessel, erkenne
Ich in dieser weiszen Form einen Sessel, ins
Zentrum gerückt . Indem ich von einem Urinoir sage, das
ist 1 Kunstwerk, sagt Marcel Duchamps, ist
es 1 Kunstwerk. Indem ich sage, die
weiszen Schäfchen am Himmel, sind es die
weiszen Schäfchen am Himmel15.1.05

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Nach einigen Hochsommerwochen fast absoluter [gräßlicher] Unfähigkeit zu lesen (in solchen Zeiten bin ich froh, am Abend – vielleicht – eine oder zwei Seiten aufzunehmen, nachdem ich den ganzen Tag lang um die Bücher herumschleiche, versuche, mich ihnen zu nähern, es kaum einmal schaffe, eins in die Hand zu nehmen und zu öffnen, bin gleichsam Trakls Wanderer im schwarzen Wind), die mich in den letzten Jahren immer wieder einmal überfällt [vom Schreiben ganz zu schweigen], lese ich seit ein paar Wochen wieder einigermaßen in der Art, wie ich immer gelesen habe (und wie ich lesen will, nein, muß), seit ich lesen kann, ein Buch zieht das andere unmittel­bar nach sich, kaum ist das eine ins Regal gestellt, greife ich nach dem nächsten, und so lese ich vor wenigen Tagen mit großer Anteilnahme Ernst Wiecherts vorzüglichen Roman Das einfache Leben – – –, nun lese ich, während es draußen wunder­voll regnet (die wenigstens Menschen, die ich kenne, wissen den Regen zu schätzen, ich liebe ihn, fühle mich ihm nah, geh oft in ihn hinein, auch mitten in der Nacht, selbst wenn ich schon im Bett liege, Anfang Juli blicke ich am späten Nach­mittag während des Gewit­ters hinauf in den dunkel­grauen Himmel, als dort ein Feuerball erscheint, ein Blitz direkt über mir, wie ich ihn noch nie gesehn, der unmittelbare Donner reißt mir beinahe die Füße unterm Körper weg, und ich flüchte um die Hausecke, luge einige Sekunden später gen Himmel, um zu sehen, ob die Luft rein ist), Friederike Mayröckers lyrische Prosa ich bin in der Anstalt und bin glücklich, voll­kommen nackt in diesem Wörter­meer, in dem ich dann und wann Swantje Lichten­stein begegne, zu schwimmen, in die Wörter hinein­zu­tauchen, mal mit weit ge­öff­neten Augen, mal mit geschlos­senen, mal blinzelnd, mal fixierend, und die Wort­kaskaden prickeln wie irre auf der Haut. Wenn ich nicht verbrenne beim Schreiben eines Gedichtes, ist es kein gutes Gedicht und wird den Leser kalt lassen. (Hier ist die Autorin, wie so oft, wie so gern, ganz nah bei Augustinus: In dir muß brennen, was du in anderen entzünden willst.) Ich lasse mich hierhin und dorthin treiben, von Wellen wegtragen, die wasser­klaren Wörter strömen über mich hinweg und wirbeln heiß durch mich hindurch, und es tobte in mir aber ich konnte es nicht unterdrücken und mein Herz wallte und mein Blutdruck war in die Höhe geschnellt und meine Hand zitterte dasz ich meine Notizen nicht mehr ent­ziffern konnte, und die Finger­spitzen in der Butter­dose und der Suppen­löffel im Honigglas, und die Walze des Kopierapparates griff nicht mehr nach dem eingelegten Papier und die letzten Mai Tage waren kalt und es war 1 kalte Sonne und 1 wütender Wind und 1 Übelkeit hatte mich befallen. Heute ist der 30. August 2010, 8°, es regnet und stürmt, ich höre Schuberts 8. Sinfonie – usw.

[…] und dann baden wir im BALATON und ich merke dasz ich nicht mehr schwimmen kann, also bin ich unsicher im Schwimmen wie ich unsicher im Gehen bin, und eines bedingt das andere, und das Wort Balaton habe ich nur eingesetzt weil es 1 blauer Halbedelstein ist und das in seinem Blau so heftig spiegelte dasz es meinen Augen wehtat, Balaton, sagt er, ich war nie dort aber er leuchtet in meiner Vorstellung wie 1 Ästchen in 1 Frühlingsgebüsch und dann klirrt es mir in den Augen weil das Oberlichtfenster unter dem ich stand zerbrach und ich war erschrocken denn das Rieseln des Glases war in den Augen, dann war ich wie 1 Rebhuhn und muszte Ecke stehen

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Friederike Mayröcker (Wörter wie rasende Stern­schnuppen nieder­prasselnd) denkt vermutlich eher selten daran, auf ein Gedicht zu verzichten (wie ich es immer wieder tue / 2010 habe ich bislang – heute ist der 31. August – zwei Gedichte geschrieben) – wie auch, arbeitet sie doch Tag für Tag gleichsam immer bloß an dem einen Gedicht (habe jetzt einen flow von Gedichten), das sie früh erfunden und lebenslänglich veredelt hat. Ruhig lächelnd und hochkonzentriert sehe ich sie in diesem Augenblick konsequent und lässig ihr oft mit Komma abge­trenntes, unverwechselbares usw. auf das in die Schreib­maschine eingespannte Blatt tippen: Ich kann alles durch meine Augen in mich aufnehmen und aus mir heraus­schreiben. Seit 1939 – seit mehr als siebzig Jahren also, schreibt die unermüd­lich das Leben besin­gende Rhapsodin (die wahrhaft jüngste – ich fühle mich nicht alt und manchmal geht es sogar so weit, dasz ich wieder bloßfüßig in Deinzendorf herumlaufe als Kind. Und das ist nicht die übliche Erinnerung der Erinnerung des alten Menschen, sondern die Kindheit. Es ist das Gefühl, ich fange erst an. Manchmal denke ich, mein Leben beginnt überhaupt erst – unter den zahl­reichen jungen Dichte­rinnen deutscher Sprache – und zwar eine von Weltformat: Auch als ich die 99 Briefe in Paloma lese, werde ich wie immer schon eingefangen von federleichten, luftigen, musikalischen und doch so reso­nanten Wort­montagen) an diesem hoch­musika­lischen, in noch immer höhere Höhen sich schwin­genden WORK IN PROGRESS, diesen frei­metrischen, langzeiligen, zwischen Synästhe­sie und Katach­rese schwin­genden Gedicht­montagen. 2009 erweitert sie mit Scardanelli und dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif ihr in jeder Beziehung großes Werk um zwei weitere Bücher, deren virtuose Verwand­lung der mit jedem Tag als immer zersplitterter erlebten Welt in Mayröckers Sprache mich wie jedes Mal bezaubern.

lieber Freund,die weiszen Lilien die du mir zur Tür gelegt hast, sind eine grosze Lust mein Schreibzimmer voll Glanz und Duft : das wird mich anfeuern zu schreiben – sonst geht es mir gut, ich schreibe fast nur noch Gedichte. Bei mir um die Ecke ist gerade der Flieder aufgebrochen. Die Vielfalt im Fenster vis-à-vis hält mich in Atem (Arzt und Alzheimer) : da wechseln die Gegenstände wie Bühnen Kulissen, corso, es ist sehr erbaulich : heute gelbe Gieszkanne neben Azaleenbusch und gelber Fleck einer auftauchenden Person, ein dämmriges Interieur, Umarmung3-5-06

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Gestern fielen die ersten Kastanien dieses Herbstes / vor meine Füße, es waren elf, elf Wochen auch bis / November, die Nebel wären willkommene Gäste / zu meinem Geburtstag, lese ich bei Francisca Ricinski, und ich frage mich just in jenem Augenblick: Ist Dichtung eine Form der Berührung von möglichen und wirklichen Welten? Ähnlich äußert sich Friederike Mayröcker (die Titel locken aber die ungeheuren Bücher ungelesen, auf dem Fußboden neben dem Bett), die in ihren neuen Gedichten frischer und luftiger und befrei­ender wirkt denn je (am 20. Dezember 2014 wird sie das 90. Lebensjahr vollenden, worüber sie in ich bin in der Anstalt schreibend sinniert). Was aber sind mögliche Welten, was wirkliche Welten? Sie wird es nicht wissen, ich weiß es nicht. Es ist auch nicht weiter wesent­lich. Es gibt, glücklicherweise, diese dritte Welt, in der sich die beiden Welten be­rühren, zu einer neuen ver­schmelzen. Und was für einer.

MANCHMAL BEI IRGENDWELCHEN ZUFÄLLIGEN BEWEGUNGEN
streift meine Hand deine Hand deinen Handrücken
oder mein Körper der in Kleidern steckt lehnt fast ohne es zu wissen
einen Augenblick gegen deinen Körper in Kleidern
diese kleinsten beinahe pflanzlichen Bewegungen
dein abgewinkelter Blick und dein Auge absichtlich ins Leere wandernd
deine im Ansatz noch unterbrochene Frage wohin fährst du im Sommer
was liest du gerade
gehen mir mitten durchs Herz
und durch die Kehle hindurch wie ein süszes Messer
und ich trockne aus wie ein Brunnen in einem heiszen Sommer

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Was Friederike Mayröcker mir an lyrischen Berührungen und poetischen Ver­schmelzungen schenkt, kann ich mit Wörtern schwer bloß beschreiben. Bei Richard Dove, dem englischen Dichter deutscher Sprache und Über­setzer Friederike Mayröckers, lese ich auf Seite 170 des großARTigen Gedicht­buchs Syrische Skyline: FM c’est moi. Total und ursprüng­lich wirken die von der Mayröcker in schwung­voller Sprache und kapri­ziöser Form entworfenen, stets unver­mittelt ein­setz|endenden Gedichte, deren Sound sich entfal­tet aus durch Allite­ration, Anapher, Antithese, Asso­nanz, gelegent­lich aufblit­zendem Bin­nen­reim, Parono­masie, Varia­tion, Wort­häufung, (verfremdetes, übermaltes) Zitat usw. verknüpften Asso­ziationen, in denen buchstäblich ALLES zwischen Himmel und Erde – Alltag, Begegnung, Ekstase (T. S. Eliots grimmigem Gedicht­auftakt April is the cruellest month begegnet sie trunken frohlockend: mich betäubt dieser April dieser süsze Monat so grün und zart), Emotion, Erin­nerung, Farbe, Freundschaft, Liebe, Literatur, Korres­pondenz, Kunst, Melan­cholie (ich weine viel), Musik, Natur (Baum, Vogel, Pflanze), Reise, Sehn­sucht (ich möchte leben Hand in Hand mit Scardanelli), Sprache, Traum, Umwelt, Wind und Wolken, Zufall, »usw.« – zu einem großen synÄSTHETI­Katachre­sischen Ganzen zusammen­fließt und die mich auf diese kunst­lust­volle Art und Weise teilhaben lassen an der Erschaffung des Friederike-Mayröcker-Kosmos: Ich lasse mich von meiner Sprache tragen, als sei ich ausge­stattet mit Fittichen und es trüge mich in die Lüfte, aber ich sehe es nicht und es musz von alleine kommen ..

Im Gedenken an Oskar Pastior

Schwärme von schwarzen Vögeln des Sommers
Honig Atem vorüber der rote Hibiscus im grünen
Gebüsch diese Gefühle vogelfrei : klugäugig nämlich
dein hohes Herz ein Blatt von einem Pflaumenbaum aus
grünbemalter Quelle Quitte ein Glyzinien Flor und
Wiegendruck Oktober ach die Votivgaben des Sommers die
dichtenden Vögel deine pulsierenden Verse eine
Viole am Himmel

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[…] ach diese Belesenheit, Unbelesenheit, weil kein Buch zu Ende gelesen, während man 1 Dutzend Bücher am Bettrand stapelt, eins nach dem anderen auf­geschlagen, darin gelesen, wieder zuge­schlagen, das Lese­zeichen da­zwischen gelegt, Kaulquappe, Ringlein und Brosche, ach diese Anfälle von Lese­fieber dieses Erlöschen von Lese­fieber, Zwirnfaden, zwitter­farbener Stift, diese mehrfachen Lese­zeichen im näm­lichen Buch, um Stellen, die einem besonders den Atem rauben, zu markieren, wie eingelegte Melodien, Maria Callas Arie zwischen die Seiten gelegt, daß es hervor­singt, sobald man das Buch öffnet, daß es gleich HERMES heraus­wirbelt oder Wolken Teppich den Wolken Teppich eingelegt wie er brandneu. Unmittelbar kommt mir, naturgemäß, Ernst Jandl in den Sinn: Ich meine, Lyrik, oder jede Art von Literatur, auch Prosa, oder was immer, kann nur entstehen gegen den Hintergrund oder auf der Basis von aller bisherigen Literatur oder Lyrik. Da ein Weniges ein wenig anders gemacht zu haben, als es schon war, ist ziemlich alles, was man erreichen kann. Ein Weniges ein wenig anders machen. Ganz kleine Verschiebungen. Sich vorzustellen, man könnte nun alles ganz anders machen, das würde etwas ergeben, was nicht mehr als Gedicht oder nicht mehr als Prosa erkenn-bar sein kann. Wie ja auch eine Plastik immer noch eine Plastik bleibt, auch wenn sie ganz anders gemacht wurde als je eine zuvor. Und die Künstler, sie finden sich alle in den gleichen Musentempeln ein – ob das Beuys ist, Rühm, Schwitters, Artmann oder Webern. Alle in den gleichen Musentempeln, wo die Jahrhunderte und die Jahrtausende schon gespeichert sind.

Friederike Mayröcker, die sich zu ihr Werk beeinflussenden Menschen wie H. C. Artmann, Roland Barthes, Georges Bataille, Samuel Beckett, Hélène Cixous, Jean Cocteau, Jacques Derrida, Gerhard Rühm, Friedrich Hölderlin, Ernst Jandl, Marguerite Duras, Jean Paul Sartre, Arno Schmidt, Claude Simon und Gertrude Stein bekennt, gehört zu den von mir ganz besonders bevorzugten Lieblingen unter den Lyrik schrei­benden Menschen. So lautet heute mein radikal sub­jektives Verdikt natur­gemäß: Von der Mayröcker muß ich unbedingt jedes neue Buch lesen. In dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif treffe ich auf das Gedicht

»ich bin in Trauer tiefer als du denkst« (Dusan Kovacivics)flackernder Schädel, meiner. Ein schräger Schein der Morgen-
sonne im Fenster Viereck graues Gewölk . . die zarte
Figur des Freundes der Freundin, danke mein
Kind
: die Stimme am Telefon, der alten Putzfrau der ich versprach
1 wenig Geld, danke mein Kind – es erinnerte mich an
T.S.Eliots WASTE LAND (danke mein Kind) oh ich sitze im kl.Garten
Am Mittelmeer, heute noch auf dem Wege zu dir aber
Nach Ischl. Die Meridian Rede des Paul Celan, hingeworfene
Vögel. Trage die alten Kittelchen : seien wärmer als frisches
Gewand usw., (be)schreibe die Wirklichkeitsform, sah aus dem blutenden
Fenster mit entzündetem Vergnügen und es heult der Wind („will
Immer studieren“) zieh mich rasch an / religiöses Wolkenmeer, denke
so viel an dich möchte dich wiedersehen, so verzaubert die
Schreibkammer dasz ich weinen musz . . dies getippteste
Begräbnis : eine Art Waldes Maschine, wie die Wolken rasen
über den Himmel, als ich im kalten Zimmer (in Nässjö)
unter die Decke (raubte) VERLESEN während
die Schwalben funkelten und ich im Kalender schaute der wievielte
August, Klaus Schöning sagte in unserem Alter ist alles symbolisch6.08.05
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Ich bin wieder einmal in besonderem Maße beseelt von der Lektüre der extrem verdich­teten, permanent pulsie­ren­den – affinen – Lyrik Friederike Mayröckers (dieses licht­blaue Paradies im offenen Fenster) und Gerard Manley Hopkins‘ (Sweet fire the sire of muse), deren Gedicht­bücher mich in diesen herbstlich anmutenden Spät­sommer­tagen 2010 zum wieder­holten Male auf eine der­maßen unerhörte Art und Weise beglücken, berauschen, daß ich phasen­weise wie von Sinnen bin und die Gedichte ununterbrochen so lange lese, bis die Wörter wie die sattgrünen Blätter vom nun schon tagelang anhal­tenden Sturm verwirbelt werden. (FM: die gelenkige Sprache das Englische)

Ich habe mich nie vor der Welt geekelt. Das Drauszen habe ich immer in meine Gedichte aufge­nommen, besonders in den letzten Jahren sind meine Gedichte sehr welthaltig. Ich gehe auch viel raus. Ich habe das Gefühl, ich atme die ganze Welt ein. Und sie ist dann in mir drin. Mir ist sehr wichtig, mit großen Augen zu schauen, was die Welt mir bringt. Ansonsten bin ich furchtbar scheu und habe die Kommuni­kation mit den Menschen schon fast verloren. Ich fürchte mich, wenn ich mich nach außen stülpen musz, ja es ist wirklich ein Nach-außen-Stülpen.

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Ein paar von Friederike Mayröckers Marken­zeichen: Leerstelle vor dem Doppelpunkt, sz, usw., Halbklammer (als ich die Besprechung meines jüngsten Buches in 1 Tageszeitung gelesen hatte (»wo ist die 2. Klammer geblieben?«) nahm ich mir vor, mich dem Kritiker zu erklären »es ist als würden Sie die Tür halboffen lassen wenn Sie von 1 Zimmer ins andere gehen« und ich hatte den (zarten) Wunsch den Schreiber sogleich kennen­zulernen – es war 1 außer­gewöhn­licher Wunsch da ich mich ganz zurück­gezogen hatte mir vorgenommen hatte niemanden zu treffen keine neuen Kontakte zu knüpfen), Kursivsetzung – usw.: Das Kursiv­gedruckte simu­liere ich auf meiner Schreib­maschine, indem ich die Worte unter­streiche. Das heißt dann, dass es ganz wichtig ist und anders aus­gespro­chen werden muss. Wenn ich Groß­buch­staben ver­wende, dann muß es laut gesagt, ja fast geschrieen werden. Ich freue mich jedes Mal aufs neue, dem usw. zu begegnen, es läßt mich (wie bei der am Ende weg­gelas­senen Klammer unterwegs ins Offene sein, mäandern, mich winden, mich schlängeln, mich im Zickzack verlaufen, mich kringeln, mich krümmen, mich ringeln, usw.

In den frühen sechziger Jahren hatte ich das Gefühl, ich kann so nicht mehr weiterschreiben wie in den Fünfzigern. Ich habe der Alltagssprache zunächst vertraut und mich ganz auf das Emotionale verlassen. Aber das war mir plötzlich zuwider. Ich hatte das Gefühl, ich will zu viel, und das geht alles nicht in die alten Muster hinein. Es war ein Protest in mir, ein Protest gegen meine eigene Sprache. Ich habe dann zum ersten Mal die Montagetechniken versucht, und das hat mir einen ungeheuren Sprung nach vorne ermöglicht. Im Rückblick muss ich sagen, das waren krude Montagen, ich habe buchstäblich alles montiert. Straßenaufschriften, Gespräche, Briefe, Bücher. Das war der Anfang der experimentellen Literatur. Mir konnte nichts experimentell genug sein. Ernst Jandl hat zur selben Zeit mit den Lautgedichten begonnen.

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Friederike Mayröcker ist naturgemäß die Erfinderin des ursprüng­lichen · augen­schein­lichen · unbe­schönigten · synchronen lyrischen Ichs: Dieses FM-ICH ist allezeit lyrisch durchtränkt, ALLgegenwärtig, egal, wo dieses Ich sich gerade aufhält, egal, ob dieses lyrische Ich (Das Ich der Mittelpunkt der Welt, Annette von Droste-Hülshoff) spricht, denkt, schreibt (exzerpiert, mon­tiert, notiert), flaniert, schläft, ißt und trinkt, liebt, kor­respon­diert, telefoniert oder Blumen gießt – wie zart ich gewesen war, obwohl. Total aufs Ganze gehend sind diese be­herzten, eigenWILLigen, hals­brecherischen, toll­kühnen, unmittel­bar dem natür­lichen Atmen, Denken und Sprechen an­ver­wandelte Gedichte, die mich teil­haben lassen an der Erschaf­fung einer dritten Welt namens Freiheit.

einige Verse fehlenwir lehnen am Fenster drauszen
der Regen, dieses ja und doch nicht, diese
Gegenstände und doch Phantome, habe mir Beckmann
geliehen 3 Bände Beckmann, Steine aus Korsika, Kreta,
Stein gebunden an Herz Herz schwer wie Stein, möchte
hören deine Stimme am Telefon weisz aber nicht was
ich sagen soll, Falte im Trinkglas, so 1 Tag
in der Tiefe, Pergola mit Klematis und Waldrebe,
Ginster. Ameisen in der Küche und über dem nackten
Fuß, Ameisen von der Wiese wo der brausende
Falter, so rauscht die Blüte (Thomas Kling) – steck
Meine nasse Wäsche in deine Tasche, sagt er, die
Ärztin beklopft seine feuchte Brust, durch
das Gehölz schaukelt hårlock, wenn man (ewig)
allein ist. also das Sausen, Lispeln der Baumschöpfe, jemand
am Nebentisch murmelt : ich schreibe und speise. Du
wirst mich umhüllen, aber er sagt : ich
möchte ins Krankenhaus, da gibt es
regelmäszig zu essen, und Wangenfleisch.
Der Regen trippelt
gegen die Scheiben, es rieseln die Turnschuhe
im Nachbarfenster, dies Element
von Marienzeug, so kann ich hügeln und . .

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Sie wissen es ja längst, und doch muß ich es wieder und wieder nieder­schreiben: Friederike Mayröcker gehört zu den von mir ganz besonders bevor­zugten Lieb­lingen unter den Lyrik bzw. lyrische Prosa schrei­benden Menschen. Jede An­kün­digung eines neuen Buches löst einen Endor­phin­schub aus. In den immer schneller werdenden Jahren 2000 bis 2010 ist rund ein Dutzend neuer Titel erschienen. (Was für ein Schreib­pensum – unfaßbar. Das ist chronisches, einge­wurzel­tes, immer­währendes Non-stop-Schreiben, Tag und Nacht und offen­bar darüber hinaus.) Neun davon habe ich bislang mit größtem Gewinn gelesen: Magische Blätter I – V, Mein Arbeits­tirol (das u.a. eine ganze Reihe von Ernst Jandl gewidmeten Gedichten enthält), der von Marcel Beyer edierte, rund tausend Gedichte auftafelnde Band Gesammelte Gedichte (der zusammen mit der Neuausgabe von Rolf Dieter Brinkmanns Westwärts 1 & 2, Paulus Böhmers Kaddish sowie Felix Philipp Ingolds Wortnahme mein vierblättriges Klee­blatt der herausragenden Gedicht­bücher nach 2000 bildet), Und ich schüttelte einen Liebling, Magische Blätter VI, Paloma, Scardanelli, dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif sowie ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nicht­geschriebenen Werk, das Buch, das mich veran­lasst, diese Jubelarie zu singen.

[…] ehe wir weggehen, frage ich sie, welche Kleidungsstücke, ob ich den schwarzen Schal ob ich die Pullman­kappe den warmen Mantel oder lieber den Umhang das Paletot die Leder­jacke ob ich die Schnee­schuhe die Flügel­sandalen die Schnürstiefel oder lieber die Pulswärmer das T-shirt den Cardigan EIN REINES HERZ dann ist wieder das Notieren (»das Kritzeln«) das Wich­tigste auf der Welt = nach 2-tägiger Schreib­abstinenz, ich meine es gibt gar nichts anderes und ich befinde mich wieder im Mittelpunkt meines Wesens

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Gehört Friederike Mayröcker zu den ausdruck­stärksten, lebendigsten, see­len­vollsten Dichte­rin­nen und Dichtern, ihre lyrik­sprü­henden Bücher nach 2000 zu den eindring­lichsten, inten­sivsten, nach­haltigsten, die diese Welt zu bieten hat? Ich mutmaße: ja. Immer bringen ihre wuseligen Wörter es fertig, mich glücklich (ohne unbedingt weniger melancholisch zu sein, die melancho­lische Grundierung ist meine lebens­längliche Grun­dierung, also immerzu da, vorzeitige Ent­lassung wegen guter Führung scheint es in dieser Welt nicht zu geben) zu stimmen, meine Gedankenwelt klar, offen, weit zu gestalten. Visagen des Waldbodens, Veilchentür am Saume des Gartens, wir gingen durch 1 waldige Gasse, ich krieche ins Ambulanz­häuschen, ich hatte dann die Wäsche vergessen in der Waschmaschine ich hatte dann das Geschirr ver­gessen in der Spül­maschine aber der rechte Handballen klebte von Honig während ich 1 Zusammenbruch : 1 Zornes­ausbruch hatte, auch wegen des kalten Wetters (31.5.09) wünschte mir warme milchige tage an welchen die haare sanft wehen, und der VOGELKLANG. Ich sehe Friederike Mayröcker in ihrer von Zetteln und Büchern übersäten Wohnung – über Papier­berge steigend, Blätter beiseite schiebend, Versand­taschen aufeinander stapelnd. Ihre in zahllosen Büchern auf­notierten Wörter zeigen sie so durch und durch als Mensch, daß ich vermute, daß sie sich zwar über Preis und Lobpreis freut, keineswegs jedoch in den Himmel gehoben werden will. Obwohl – was wäre dagegen einzu­wenden? Ich hebe sie in den Himmel: eine Wienerin im Himmel. Halleluja.

UNTER BÄUMEN TRÄNENMORGENunter Bäumen saszen wir und Waldes Brausen unter
Bäumen sprachen zu einander schwiegen blickten
in den Wald der schon die Blätter warf und fegte
Lindenblütenblätter auf den Wegen unter Bäumen saszen
wir und schwiegen unter Bäumen ich allein und
schweigend ohne dich unter Bäumen du allein und
schweigend ohne michfür Ernst Jandl

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ich bin 1 Bettlerin des Wortes, sage ich zu Ely, ich sitze im Arbeits­winkel, die QUELLCHEN sind : Jacques Derrida, Jean Genet, Roland Barthes, Giogio Agamben, Milorad Pavic – vielleicht mit dem Foto 1 kl.Quelle im Hintergrund (19.11.09) Thomas Kling unterstreicht: Die Mayröcker gehört zu den Unikat­künstlern, und nicht zuletzt dieses Verdienst des unermüd­lichen Fort­setzens von Versuchs­anordnungen ist es, das ihr seit langem den Respekt von Autoren sichert, die gerade halb so alt sind wie sie oder noch jünger. Sie hat viele beeinflußt, das stellt sich immer deut­licher heraus. Zu diesen zählen u.a. Marcel Beyer, Richard Dove, Ulrike Draesner, Michael Donhauser, Thomas Kling, Michael Lentz (Die deutsch­sprachige Poesie ist derzeit die international bedeutsamste. Allein schon Friederike Mayröcker zu nennen genügt) und Peter Waterhouse. Am 3. November 2009 entsteht die erste Fassung dieses Gedichts, das ich am 10. Juni 2010 zuletzt bearbeitet habe:

abendfühlendwenn ich hier »funknschlagnd« noTIER:
sprüht denn ein funkekstatischmürrisch schwitz ich [in fiesem spelunkeneck] und trink
nur bier (kann auch sein: wein) schreib (formidabel)~ schlingernd zwischen synästhesie und katchrese ~
ich möchte leben hand in hand mit scardanelli

die zeigefingerbeere tastet an der maus – – –
das licht geht aus ● »usw.«

Ich sehe also Friederike Mayröcker (ein endloser Augenblick : das ist die Beschreibung meines Lebens, ein endloser Augenblick) weiter in ihrer von Büchern, Briefen, Heften, Zetteln übersäten vertrauten Wiener Wohnung, nun vor der Schreibmaschine sitzend und schreibend · schweigend · schreibend: jedes Gedicht ein Gesicht voll Anmut und Liebe und Wehmut und Zärtlichkeit, auf dem Bett liegend, schlafend (ich träume in der Nacht immer in Sätzen und in Wörtern, ich wache dann mitten in der Nacht auf und mache Notizen, weil ich mich am Morgen an nichts mehr erinnern kann), im Schreibzimmer erklingt Musik, beispielsweise Johann Sebastian Bach (habe Bach aufgelegt), und ihre Seele spannte / weit ihre Flügel aus, / flog durch die stillen Lande, / als flöge sie nach Haus, usw.

WÜRDE ALLES TUN WENN
du nur lebtest!
Als erstes würden wir zur Albertina,
ins Museumscafé dann zum Feldhasen, 1 Blick
in dein Auge würde mir sagen ob du müde
bist oder ob es noch weitergeht. Weinen
würden wir trotzdem oft, weil
der Abschied noch vor uns läge –

 

***

Friederike Mayröcker · Ausgewählte Bücher 2000 – 2010

  • Magische Blätter I – V · 2001
  • Mein Arbeitstirol · Gedichte 1996 – 2001 · 2003
  • Gesammelte Gedichte · 1939 – 2003 · 2004
  • Und ich schüttelte einen Liebling · 2005
  • Magische Blätter VI · 2007
  • Paloma · 2008
  • Scardanelli · 2009
  • dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif · Gedichte 2004 – 2009 · 2009
  • ich bin in der Anstalt · Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk · 2010

Wenn ich ein, zwei Tage nicht schreiben kann, bin ich verzweifelt und fürchte, es ist aus. Dann, durch irgendetwas, einen Brief, häufig durch Lektüre, komme ich wieder hinein. Jacques Derrida hat mich sehr angeregt mit seinen literarischen Texten. Beckett hat mich sehr geprägt. Roland Barthes hat es mir angetan. Claude Simon, Marguerite Duras und Georges Bataille, besonders sein Roman Das Blau des Himmels.Das schreibe ich mir alles heraus. Wo ich nichts exzerpieren kann, lese ich auch nichts. Wie eine Lumpensammlerin notiere ich Sätze und Wörter, die ich oft auch völlig überarbeite.

Friederike Mayröcker

 

 

* * *

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.