Bei Julius Lieban

 

Ich bitte Herrn Lieban, mir einen Nachtigallenspaß aus seinem Leben zu erzählen. Wir sitzen in seinem kleinen Gemach auf gemondeten und gestreiften Diwans, Herr Lieban, sein Töchterchen Eva und ich. Herr Lieban erzählt von Wanderzügen nach dem Süden. Wunderbar ahmt er die Begeisterung des temperamentvollen Publikums nach; eine ganze Reihe verschiedener Mienen huschen auf seinem Gesicht vorüber. Noch heute spricht man in Florenz davon, wie er eines Tages angeflogen kam und gesungen und es hinausgejubelt hat das feurige Lied an die Teure seiner Heimat: »Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!!« Und wieder zarter einsetzend: »Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben …« Und bei seiner Abreise haben sie auf dem Bahnsteig, auf dem Trittbrett und im Waggon gestanden. Jedes trug ein leuchtendes Herz am Busen geheftet. »Arivederla, Signor Giulio, arivederla!« Ein halbes Kind war er damals noch, aber Herr Lieban ist noch heute neunzehnjährig mit seinen kurzen, schwarzen Ringelrangelrosenlocken und den dunklen Schalkaugen. – Mutwillig, sturmwillig über die weichen Teppiche – hin und her flattern die Portieren. »Hab’ im eigenen Hause keine Ruhe – hören Sie, da klingelt’s wieder.« In diesem Salon unterschreibt Maestro ein Engagement, in jenem erwarten ihn bittende Lippen. Einige Damen in Pelz und Federhüten sehe ich durch den Perlenvorhang auf niedlichen Rokokostühlen sitzen. Herr Lieban soll in einer Wohltätigkeitsvorstellung singen, Herr Lieban kann nicht abschlagen, das wissen alle schon. Mit zugehaltenen Ohren eilt er plötzlich wieder an uns vorbei; aus dem Studierzimmer dringen schmerzliche Töne einer harrenden Schülerin. »Sie stimmt ihre Kehliatur«, flüstert mir schelmisch Eva ins Ohr. Und Herr Lieban weiß gar nicht, was er zuerst erledigen soll. Klein-Eva und ich sind ganz alleine – Klein-Eva hat ebenfalls einen Kobold im Auge sitzen und Goldflatterhaare hat sie; sie will nicht zur Bühne gehen – der Vater hat ihr zu viel Schlimmes von dort erzählt. Und als Herr Lieban sich uns wieder widmen kann, bitte ich ihn, auf sein Töchterchen zeigend, mir auch etwas Schlimmes von dort zu erzählen. Er nickt einige Male ernsthaft mit dem Kopf, er nickt seinem Liebling zu; der scheint zu wissen, was seinen Vater so verwundet hat. »Ja, ich kann’s nicht verschmerzen«, sagt Herr Lieban, »genau fünfundzwanzig Jahre sind’s her, ich spielte den Mime in der Premiere des ›Siegfried‹ im Berliner Viktoriatheater. Wagner stand hinter der Bühne, und es geschah, daß man mich nach dem zweiten Akte verlangte und den Schöpfer vergaß. Wagner stürmte fort und ließ sich am Abend nicht mehr sehen. Aber das, was ich nicht verschmerzen kann, ist: als wir am andern Tag den Erfolg des Meisterwerks feierten und wir Mitwirkenden uns am Eingang des Theatersaals aufgestellt hatten, Wagner unsere Ehrfurcht in Form einer Gabe zu Füßen zu legen, daß er da jedem von uns lebhaft die Hand drückte, an mir vorüberschritt, meinen Gruß nicht beachtete und mir zurief: ›Sie haben mir ja den gestrigen Abend umgeschmissen.‹ Sehen Sie, das habe ich nie verschmerzen können, gerade weil er ein Gottkünstler ist.« Eva sagt: »Vater hat’s gedruckt im Buch stehen« – sie springt aus der Türe und holt das vergilbte Buch vom Schreibtisch. Herr Lieban muß lächeln. Aber seufzend mit der Puppe im Arm begleitet mich Eva die Treppe hinunter. Durch die Villenallee nach Hause zu lese ich im Vorübergehen an der Litfassäule Julius Liebans Namen. Er singt heute Abend den David, den finsterulkigen Schusterjungen. Den David kann kein anderer singen. Seine Stimme sind Saiten einer Leier, die einmal an einem Freudentage ein Gott erschaffen hat. Seine Lieblingslieder rauschen durch Seidengärten, und mit Silberglocken behangen klingen seine Schelmengesänge und tragen bunte Tracht. »Es ist zum Küssen …« einer sagt’s dem andern unter den großen Lichtsternen entzückt ins Ohr.

 

 

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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920

Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.