Offener Brief an Bertram Reinecke

Nach der Lektüre des Gedichtbuchs Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst

Dein schönesBuch … eine geglückte Dichterey … eine … v-e-r—r-ü-c-k-t-e (geschmug­gelte?) Tour de Force … eine reichlich bestückte Wilder-Art … ist eins von denen, deren Wörter, Wörter, Wörter mich – herrlich, herzlich – toll und ganz in Anspruch nehmen während der silben­weisen Lektüre der Gedichte (schalkhafte Augen reizend aufge­schlagen), die die sternlose Nacht erfüllen (wenn Leiber sich in Brunst zusammenknüllen), und schwärmend bin ich froh, noch ein gutes Weilchen weiterlesen zu können, um mit großen hungernden Augen noch auf diesen Blutfink und jenen Gücker zu treffen: Mit Stahlseiten wird hier zum Himmel geharft. Ich lese und sehe Lyrik, ja, die Gesamtheit der Literatur, am liebsten als ›ein Bild‹, als von ALLEN belebte universale Gestalt (La poésie doit être faite par tous, non par un · Isidore Lucien Ducasse), als mikromonumenta­les Mosaik (exemplarisch manifestiert durch die Sammlung der Bücher, die ich im Laufe der Jahre zusammengelesen habe). Darin ist das von dir verfaßte ein weiteres – glänzendes – Teilchen (ich sag es frey: Wer Ohren hat, der öffne sie).

 Zitternde Träume

In der vergangnen Nacht habe ich die Ge­dichte bis zur Seite 48 gelesen (wir haben Lust, noch einige zu ›kaufen‹), gleich geht’s weiter (wiäächt-wiäächt), nachdem ich den Morgen damit zugebracht habe, intensiv am B·u·c·h·s·t·a·b·e·e·t zu texteln und werkeln (ich halt es mit Kurt Schwitters: Wir spie­len, bis uns der Tod abholt) – was auch mit der Verinnerlichung dieser vorzüglich – aus vorgefundenem (durchaus disparatem) Sprachstoff – montierten ineinander hängenden Stücke zu tun hat, die mir temperasappermenttoll zitternde Träume mit schönen sil­bernen Leuchtern bescheren, seh mich mit winzigen Buchstaben, aufglimmenden Reimwörtern tanzen. Ich weiß nicht, wie oft und wie lange ich den Traum träumte, ›gefühlt‹ war’s die ganze Nacht.

Seesterne

Seit Fertigstellung der drei großen literarischen Vorhaben (Herausgabe von Matrix 28. Atmen­des Alphabet für Friederike Mayröcker / Matrix 29. Jeder auf seine Art für Hans Bender / Das gewonnene Alphabet), die mich von Anfang Januar bis Mitte Oktober 2012 auf so wunderbare Weise in Atem gehalten haben, erlese ich nun, in diesen wohltuend winterli­chen Wochen, in toller Tönung die – erneut bildformwortstarke, immer wieder für Überraschungen gute – Lyrik 2012 im deutschen Sprachraum (zusätzlich angereichert durch eine ganz Reihe von Gedichtbüchern, die glücklicherweise aus anderen Sprachräumen herübergetragen wurden: So bin ich, beispielsleise, elektrisiert von der feinwitzigen Art, wie Dagmara Kraus die funkelnden polni­schen Verse und Wörter Miron Białoszewskis in Wir Seesterne verdeutschlicht – deutsche Sprache, leichte Sprach: Geht doch!) – singe, wie seit fünfzig Jahren schon, »Ihr Bücherlein kommet (o kommet doch all)«, als gäb’s kein Sorgenmeer, und staune, wie stets in den vergangnen Jahren nach 2000, über Vielfalt, Virtuosi­tät und Vitalität, die ich erneut in der Mehrzahl der Lyrikbücher wahrnehme. Ja, dieser unerschöpfliche Innovationssaft der Spra­che. Ja, diese unerköpfliche Buchlust der Autoren und Verleger. Und, ja, dieses unkillbare Lechzen des Lesers nach Buchstaben und Wörtern, Versen und Strophen. Immerwährend, Tag für Tag, gibt es gute Gründe, sich hinter origischnellen, schwangtollen Gedichtbüchern zu verstecken, ungeleimt Gereimtes zu entdecken, Magenbitterverse zu schmecken, zu spüren, wie Wortwellen Vers­füße lecken. (Eines Tages, dös is eh klar, werd ich wohl lesend verrecken.) Gerade auch in entlegnen Ecken hab ich mal wieder besonders gelungnes Gesungnes vernommen.

 So oder so

Auch das will noch, und es hat nichts und alles mit deinem Buch zu tun, niedergeschrieben sein (ansonsten gibt Quer keine Ruh): Immer und immer wieder denke ich, insbe­sondere jedoch beim Lesen von Friederike Mayröckers Von den Umarmungen am 1. Juli (es wuchtet mich gegen die / Wand die Wintersonne bohrt sich ins Auge die Wunder die Wunden / der Krankheit), beim Lesen von Hans Benders Auf meine Art am 10. Juli (Ohne Halt, ohne Ruh / eilt der 3. Satz / Allegro vivace / dem Ende zu), beim Lesen von Jürgen Beckers Scheunen im Gelände am 20. Dezember (So oder so, es gibt / keinen Grund, Methode und Machart zu wechseln, / das alte Gerät ächzt nur ein bißchen), an die famose Verläßlichkeit der Alten, die auch 2012 halten, was sie v∙e·r·s·p·r·e·c·h·e·n und zeigen, wo Bartholomäus die Post holt. Auf daß die Versvöglein fliegen.

Hals über Kopf

Ich habe übers Jahr verteilt naturgemäß auch schon eine ganze Reihe neuer Gedichtbände gelesen, aber erst während der letzten Wochen von Ende Oktober bis Ende Dezem­ber 2012, in denen ich noch einmal ganz gezielt hier und da und dort (usw.) suche, finde und lese, beginnt sich zu vollenden, was ich im B∙UCHSTA∙B∙EE∙T als Abbild von Lyrik 2012 zu gestalten versuche. Jetzt, gerade auch während der Hals-über-KopfLektüre deines Buches, das ich von Beginn seiner Veröffentlichung an im Visier hatte und das ich eben erst jetzt lese, weil ich es mit dir gegen mein neues Gedichtbuch tauschen wollte, spüre ich, daß es balde ›gut‹ sein wird. (Na, so ganz sicher bin ich mir nie.) Verzweinzelt werde ich noch das eine oder andere Buch bestellen (unbedingt, beispielsweise, Jochen Winters Spuren im Unermessli­chen), aber seit dieser Woche glaube ich (oder gehe ich bloß einer Allusion auf den Leim?), mir einen Reim (Nach unseren Begriffen / ist der Reim – / Dynamit. // Ein Pulverfaß · Wladimir Maja­kowski) auf den Sound machen zu können, der beim e·u·k·a·k·o·p·o·l·y·p·h·o·n·i·s·c·h·e·n Lyrikkonzert 2012 durch den deutschen Resonanzraum hallt.

Sleutel voor de Spraakkunst

Heut morgen kommt (naturgemäß nicht zum ersten­mal) der beblümte Gedanke, ob es nicht das schillernde ›slüzzelîn‹ schlechthin zu Strophen, Wörtern, Versen ist, wenn ich nach der Lektüre dermaßen weidensaftig von ihnen träume: das spiel der formen, sprengsatz in meinen händen. Ich seh wimmelnde Wörter, gespenstische Bilder, schier unkontrollierbar Buchstaben traben, kreisch Calcium im Dezember … und immer wieder seh ich jenes eine Wort in diesem Blau, wie es im Grün verdimmt

Und nun – – – schweigen dürfen.

 

 

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Bertram Reinecke, Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst, herausgegeben von Ulf Stolterfoht, 83 Seiten, Broschur, Roughbooks, Leipzig, Berlin und Solothurn 2012.

Miron Białoszewski, Wir Seesterne, zweisprachige Ausgabe, polnisch – deutsch, herausgegeben und übersetzt von Dagmara Kraus, Erinnerung von Gerhard Rühm, Nachdichtungen von Kenah Cusanit, Dagmara Kraus, Norbert Lange, Kerstin Preiwuß, Bertram Reinecke, Monika Rinck, Schuldt und Ulf Stolterfoht, 118 Seiten, Broschur, Verlag Reinecke & Voß, Leipzig 2012.

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.