Wunderbares poetisches Kleinod · Friederike Mayröcker · Von den Umarmungen

Drei Jahre nach Erscheinen des fulminanten, knapp 350 Seiten um­fassenden Lyrikbuches dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif wurde im März 2012 mit Von den Umarmungen ein weiterer Gedicht­band von Friederike Mayröcker veröffentlicht. Die schön gestaltete Ausgabe gehört zum Jubiläumsprogramm »100 Jahre Insel-Bücherei« und enthält neben mehreren Zeichnungen der Wiener Autorin 28 Ge­dichte, die von Januar bis Anfang Juli 2010 entstanden sind.

In einer FAZ-Rezension über den 2010 mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeich­neten Vorgängerband befand Wulf Segebrecht es als »sehr merk­würdig«, daß Leser, Dichterkollegen und Literaturkritiker, die sich über die Poesie Friederike Mayröckers geäußert haben, begeistert und hingerissen, aber auch zutiefst irritiert seien. Bei aller Bewunde­rung ihrer Gedichte würden sie zugleich bekennen, daß sie sie über­haupt nicht oder allenfalls nur ansatzweise verstünden.

Die filigrane, assoziationsreiche Lyrik der größten deutschsprachigen Dichterin der Gegenwart entzieht sich gewiß dem schnellen Verste­hen. Wer aber in den Kosmos dieser unverwechselbaren Poesie ein­taucht, wird schon bald vom unwiderstehlichen Sog eines sich immer wieder verzweigenden und zusammenfließenden Sprachstroms ergrif­fen, der einen gefangennimmt und die Frage nach dem Verste­hen nicht unbedingt als vorrangig erscheinen läßt. Friederike Mayrö­cker ist eine im besten Sinne Sprachbesessene, deren unstillbarer Le­bens­hunger auch noch im hohen Alter – trotz Wehmut, Trauer und Tränen – aus ihrer Literatur spricht.

Wie in zahlreichen früheren Gedichten klingt auch in Von den Umar­mungen ein elegischer Grundton an, der allerdings selten in Trübsal mündet wie im Eingangsgedicht vom Umschlingen der Sperlings­wand mitten im Epheu mit dem großartigen Schlußbild Trübnisse : Dunkel­rosen der Nacht. – Folgt man Hans Magnus Enzens­bergers An­sicht, daß es in der Lyrik letzten Endes darauf ankomme, den uner­hörten Vers zu treffen, dann wird man bei Friederike Mayrö­cker im­mer wie­der fündig. Weitere Beispiele aus dem neuen Gedichtband belegen es: und der Winter tappte / gegen die Scheiben nämlich die tappende Jahreszeit · die Weiden des Stadtparks haben sich / gewölbt über meine Tränen · Kommunion / von Schnee und zer­schlissenem Herzen · das schwirrende Ohr des Sommers : mit Libellen Schmetter­lingen / und Käfern.

Wenn in vielen Gedichtüberschriften auch vom Umarmen und vor allem vom Küssen die Rede ist, bedeutet das nicht immer, daß Zärt­lichkeit angesagt ist. So knallhart wie in vom Küssen der Füsze der Braut geht es allerdings sonst in Von den Umarmungen nur selten zu: ich habe diese Haut dieses Fell meiner Haut meine Haut zerrissen meine / Haut in Fetzen zerfetzt zerschossen dieses Fell mei­ner Haut und dasz / ich winsele heule wer nimmt mich in seine Arme diese Haut diese Wolken- / haut so zerstört und der Myrthenkranz tief in die Stirn gedrückt damals / März 24 ….

In anderen Gedichten des kleinen Lyrikbandes sind die Nähe Friede­rike Mayröckers zur Natur und ihre Vorliebe für den Frühling spürbar. Hier offenbart sich auch wieder der Lebenshunger der Autorin, die selbst unscheinbarste Dinge zum Gegenstand ihrer faszinierenden Poesie macht – und sei es eine Wäscheklammer:

über das Küssen

die Kluppe = Wäscheklammer sagt sie, für Puppenwäsche für kl. aus-
geschnittene Schemen von Tiermodellen sagt sie, Puppenwäsche zum
Aufhängen auf bunten Fäden durchs Kabinett gespannt usw., und auf
der Kluppe=Wäscheklammer die 1. 3 Buchstaben seines Namens (»bri.«)
im Seitenfach der Umhängetasche in meinen Lungenflügeln dasz ich
raschelnd fliege mit meinen Papierflügeln rauschend berauscht von
der Fahle des Morgens, aber mit jedem Tritt in den Abgrund der Geistes-
existenz stürzend / Schneewächten während das Unheil einer (famosen)
Person nämlich Zwitter des Lichts, als verblüffen

10.1.2010

Friederike Mayröckers 2009 erschienenes dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif gehört für mich neben Ernst Jandls Letzte Gedichte (2001), Thomas Klings Auswertung der Flugdaten (2005) und Ulf Stolterfohts holzrauch über heslach (2007) zu den exzellentesten deutschsprachigen Lyrikbänden, die nach der Jahrtausendwende veröffentlicht worden  sind. Mit Von den Umarmungen hat sie nun ihrem  großen Gedichtbuch ein wunderbares poetisches Kleinod folgen lassen. Wir warten gespannt auf weitere Werke.

 

 

 

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Von den Umarmungen, Gedichte von Friederike Mayröcker, mit drei Zeichnungen der Autorin, 48 Seiten, Insel Verlag, Berlin 2012.

Weiterführend  Friederike Mayröcker ist nun doch keine 200 Jahre alt geworden, ein Rezensionsessay von Holger Benkel. Über allem liegt die Melancholie des Erinnerns, Andre Schinkel erinnert an den Band ich sitze nur GRAUSAM da. Axel Kutsch über die Verhaltensweisen und Wahrnehmungen, aus denen die dichterische Kraft erwächst, das poetische Kleinod „Von den Umarmungen“. Friederike Mayröcker verknüpfte ihr Schreiben mit einer Dimension, die über die Wirklichkeit, die sie vorfindet, hinausgeht: „Im atmenden Alphabet“, eine Hommage von Theo Breuer. A.J. Weigoni beschreibt ein Stück Mediengeschichte.

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