Annäherungen an Liechtenstein: ein Blick aus Russland

 

Das literarische Liechtenstein ist für Russland eine wahre Terra incognita und dies nicht zu Unrecht. Insbesondere wenn man dem “Dostojewski” aus Liechtenstein, Stefan Sprenger, glaubt, dass die heutige Literaturszene im Fürstentum “beinahe aus einem Nichts”[1] entstanden sei und als eigenständiger Teil innerhalb des deutschsprachigen Raumes erst vor ein paar Jahrzehnten begonnen habe, sich zu konstituieren.

Ich bin auf die liechtensteiner Literatur rein zufällig gekommen und verdanke dies dem großen “Vermittler”  und “all around artist”, wie er sich selbst nennt, Vlado Franjević. Anfang der 2000er Jahre war er rein zufällig auf meinen an Lyriker aus Deutschland adressierten Fragebogen gestoßen, der unter anderem, wenn ich mich recht erinnere, auf dem Tisch der IGdA (Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren) gelandet war. Ich war zwar damals mit meiner Habilitationsarbeit auf dem deutschsprachigen lyrischen Gefilde Deutschlands, Österreichs und der Schweiz unterwegs, doch den von Vlado ausgefüllten Fragebogen habe ich nicht ignoriert, und ein reger literarischer Schriftwechsel zwischen “Liechtenstein und Moskau” begann. Vlado stand nicht lange allein auf meiner “Liste”, aber immer an der Spitze. Im Laufe von Wochen und Monaten wurde sie mit Hilfe eines gebürtigen Kroaten schon ziemlich repräsentativ und viele Namen bekannter Liechtensteiner Literaten und Kunst- bzw. Kulturschaffender waren für mich schließlich schon ein Begriff.

Erste Quelle für meine Idee, eine kleine Literaturgeschichte Liechtensteins zu schreiben, war der schon erwähnte Beitrag von Stefan Sprenger, den ich ein paar Monate später auch persönlich kennenlernen durfte. Als zweite Dokumentation sei die Sonderausgabe der Zeitschrift “Allmende” von 1998 angeführt. Laut Untertitel war die Nummer 58 /59 der “neuen Literatur aus Liechtenstein und Vorarlberg” gewidmet. Für mich war sie eine Art Fibel, woraus ich das ABC der Liechtensteiner Literaturszene lernen konnte. Sowohl die literarischen Texte als auch der Beitrag von Loretta Federspiel-Kieber und Klaus Isele «“Wo Dein Himmel, ist Dein Vaduz”. Über die Literatur und das literarische Leben in Liechtenstein» haben mich in ihren Bann gezogen, weil die regionale Welt der Alpen, in Worte gefasst, vom innigsten Heimatgefühl erfüllt war, was einerseits für einen Russen ganz selbstverständlich ist und deswegen wohl etwas Vertrautes und in der Zeit der globalen ethnokuturellen Nivellierungspolitik substantiell etwas Wichtiges darstellt.

Das Ergebnis meiner ersten Kontakte mit dem literarischen Liechtenstein waren einige Vorträge  zu diesem Thema, die ich in Russland und in der Ukraine auf wissenschaftlichen Konferenzen gehalten habe[2]. Ein krasses Beispiel dafür, dass das literarische Liechtenstein für russische Germanisten bis jetzt so gut wie nicht existiert, ist ein kurioser Zwischenfall, den ich erlebt habe. Mein Vortrag “Zum nationalen Literaturparadigma: Kasus Liechtenstein”, auf der 7. Tagung des Russischen Germanistenverbands im Jahre 2009 in Tambow gehalten, wurde in die Sektion “Lyrik” eingereiht, weil die Organisatoren keinen Zweifel daran hatten, das gleichlautende Wort `Liechtenstein` sei nur mit dem Namen des auch in Russland bekannt gewordenen Expressionisten Alfred Lichtenstein zu verbinden, nicht zuletzt dank des Lexikons des Expressionismus, das 2008 im Verlag des Gorki-Instituts für Weltliteratur erschienen ist.

Kompetent und interessiert zeigten sich dagegen meine Kollegen, die russischen Volksdichtungsforscher. Kein Wunder, denn ihre Aufgabe ist es, nach Ursprüngen und Wurzeln der Völkergeschichte zu suchen und so noch zahlreiche Lücken auf diesem Gebiet zu schließen.

Ins Auge springt natürlich die österreichische Sage vom lichten Stein, die für gebürtige Liechtensteiner zwar nicht so wichtig ist wie andere volkskundlichen Themen, doch gerade sie soll als eine Brücke zum Beispiel zum Kaukasus dienen, wo die indoeuropäische Grundlage zahlreicher Sujets über die vom Himmel fallenden Steine auch eine Rolle spielt. Deswegen ist mein Vortrag über die Sage vom lichten Stein 2013 in Tscherkessk auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Alpen und der Kaukasus – zwei parallele Welten, so weit voneinander entfernt und doch so nah, dass man die Natur leicht verwechseln kann, wie auf dem folgenden Bild.

Diesen Herbst, so sagt Klaus Biedermann, Redaktor des Jahrbuchs des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, soll mein bescheidener Beitrag zur Volksdichtungsforschung erscheinen, und zwar als Versuch die Geschichte des Sujets vom lichten Stein zu verfolgen, das, wenn auch nicht autochthon, doch als Name des Fürstentums und somit seiner Literatur zum Erbgut der Liechtensteiner Kultur geworden ist.

Einer der ältesten Vertreter der russischen Folkloreforschung, der sich intensiv mit der Geschichte der Slawenwanderung durch Zeiten und Länder beschäftigt, Juri Smirnow, hat mich eigentlich dazu angeregt, die Liechtensteinnische Volksdichtung näher kennenzulernen, damit unsere Folkloristen das liechtensteinische Material in ihren komparativen Untersuchungen berücksichtigen könnten. Unter den vielen Sujets, die in zahlreichen Texten der Sammler aus Liechtenstein vorkommen, ist in dieser Hinsicht das Wurm- bzw. Schlangensujet von großer Bedeutung. Als Beispiel dafür, wie russische Volksdichtungsforscher mit diesem Kulturerbe arbeiten, sei folgende Anweisung für die Sammler angeführt, die Juri Smirnow auch gerne an liechtensteiner Sammler schickt:

Die Schlange (Der Wurm)

Die Schlange ist eines der wenigen mythischen Wesen, deren Herkunft sich in der Tiefe der vergangenen Jahrtausende verliert. Im Unterschied zu anderen Wesen, die in der Regel viel jünger sind, bewohnt die Schlange verschiedene Bereiche unserer irdischen Welt. Man kann ihr auf dem Feld, im Wald, im Wasser und in einer Höhle begegnen. Sie kann fliegen, indem sie Flamme oder Funken um sich herum verbreitet. Nur die Schlange kann ins Haus durch einen Schornstein und einen Ofen geraten, – andere nichtchristliche Wesen dürfen, laut verschiedener Glauben, den Ofen (bzw. Herd) als die heiligste Stätte im Haus nicht einmal berühren. In alten Zeiten hielten die Slawen die Schlange für einen Schutzpatron oder Wohltäter. Die Spuren ähnlicher Vorstellungen sind hier und da bis heute erhalten. Folgende Fragen könnten es erleichtern, solche Spuren zu entdecken.

1

– Wo wohnt die Schlange (auf einer Insel, in einer Höhle, in einem Wasserterrain usw.)?

–      Wie sieht die Schlange aus (ist es eine mythische Schlange, eine grosse Schlange, ein Mensch, ein Feuerknäuel usw.)?

Wenn es eine mythische Schlange ist, wie kann sie beschrieben werden: hat sie eine glatte Haut oder Schuppen? wie ist ihre Farbe? Wie viele Pfoten, Schwänze, Köpfe hat sie? Was für ein Kopf ist es (der eines Hundes, eines Pferdes, eines Menschen, einer Schlange)? Hat die Schlange Flügel, wie sind sie, wie viele sind es, wo befinden sie sich (unter dem Arm, auf dem Rücken)? Nach der Beschreibung des Informanten kann der Sammler eine Zeichnung machen.

–      Woher kommt die Flamme?

–      Wie ist ihr Atmen (was geschieht nach dem Ein- bzw. Ausatmen: die Bäume werden ausgerissen, die Menschen, Tiere fallen nieder?

–      Welches Geschlecht hat die Schlange? Wenn es beides gibt, wie sind dann die Beziehungen zwischen den Geschlechtern? Ist es immer  so, dass das männliche Wesen nur das weibliche liebt und umgekehrt?

–      Kann sich die Schlange in andere Wesen verwandeln, wenn ja, dann in welche (in einen Menschen, einen gehenden Toten, einen Wirbel usw.)?

–      Wie lange lebt sie, ist sie unsterblich, kennt sie das Geheimnis des Todes (der Kraft einer Pflanze, eines Menschen)?

Wenn es um eine Hausschlange geht, dann: wie sieht sie aus, wo hält sie sich auf (unter der Schwelle, hinter bzw. unter dem Ofen)? wie sind ihre Beziehungen zu den Hausbewohnern, wie oft wird sie gefüttert und womit, ob es verboten ist sie zu töten und warum?

2

Was erzählt man über Naturkräfte und Naturerscheinungen: Blitz und Donner, Brand, Himmelskörper (Meteore, Sternschnuppen, Feuerbälle, Kometen), Regenbogen, Donner- bzw. Hagelwolke, Finsternis (Nebel), Wirbelwind? Ist das vielleicht die Schlange in ihren Modifikationen? Werden sie vielleicht von der Schlange hervorgerufen?

Ist vielleicht die Sonnen- bzw. Mondfinsternis nichts anderes als das Verschlingen des Himmelskörpers durch die Schlange?

Wozu muss man die getötete Schlange (Otter) in der Sonne aushängen?

Verwendet man die Holzsplitter eines vom Blitz getroffenen Baumes? Wird damit der Ofen geheizt?

Hat man in der Erde etwas Hartes gefunden, was man für den Rest eines Blitzes oder für einen versteinerten Blitz hält? Wie nennt man es? Wofür verwendet man es?

3

Wenn eine Frau in Wehen liegt (oder: das Brautpaar lässt sich trauen; das junge Ehepaar ist am Pflügen und Säen), und in dem Augenblick beginnt ein Gewitter; es beginnt zu schneien; ein stiller warmer Regen ist da; es ist nebelig, trübe oder umgekehrt sonnig geworden), was bedeutet dieses oder jenes Wetter für einen Säugling (für das junge Ehepaar; für den Ackersmann, Sämann)?

Wenn man Wehen im Traum erlebt usw., und draußen Unwetter ist usw., was soll das für die Person bedeuten, die den Traum gesehen hat, oder für die Leute, die diese Person im Traum gesehen hatte bei diesem oder jenem Wetter?

Was bedeutet eine Begegnung mit einer Schlange (Otter): in Wirklichkeit, im Traum?

4

Wie kann man sich gegen Gewitter, Hagel, Dürrenzeit, Seuche, Massensterben schützen?

In welchen Fällen verfertigte man innerhalb einer Nacht oder eines Tages ein Handtuch (ein Leinentuch, ein Kreuz, eine Kirche)? Wer beschäftigte sich damit, unter welchen Umständen?

5

Vor welchen Pflanzen hat eine Schlange (der Teufel) Angst? Hat sie Angst vor Inula, Wermut, Brennessel, Knoblauch, Heu?

Kann man mit Hilfe einer Haselnussrute Schlangen verjagen, eine Donner-bzw. Hagelwolke wegjagen?

Warum beginnt der Haselnussbaum früh zu blühen? Mag die Schlange die Haselnussblüten?

6

Welche Mittel helfen gegen Fieber, Angst, Fallsucht, Kinderschrei, Schockzustände, Tollwut?

Welche Mittel schützen: einen Säugling, eine Braut (ein Brautpaar), alle Menschen in der Wasserjungferwoche nach Pfingsten, alle Menschen jederzeit?

7

In welchen Fällen verwendet man als Heilmittel Teile der Schlange: Schuppen, Haut, Kopf, Fleisch? Wie verwendet man es: isst man es roh, kocht man es, macht man einen Aufguss, trocknet man und beräuchert man es, trägt man es am Körper?

Dasselbe für die Pflanzen mit Schlangennamen.

Ist es wahr, dass für die Kur die Schlange nur bis zum ersten Kuckuckschrei wirksam ist?

8

Hat jemand Geschichten in Erinnerung über die Beerdigung einer Schlange?

Woher stammen Kriebelmücken (Bremsen) und Mücken, Mäuse und Kriechtiere — vielleicht von einer einst getöteten Schlange?

Hat sich mal der Erdboden geöffnet, um das Blut einer Schlange zu fressen?

9

Das Verhältnis zwischen einer Frau und einem Wurm (einem Toten, Teufel, Waldgeist, Wassermann usw.).

Wird die Frau von einer Schlange entführt, wohin wird sie gebracht, wie ist ihr weiteres Schicksal?

Der Wurm (usw.) kommt ins Haus einer Frau geflogen. Wovon ist es bedingt? Was bedeutet — sie “austrocknen lassen”? Saugt der Wurm an ihren Brüsten?

Als Folge der Liaison einer Frau mit einem Wurm kann ein Kind geboren werden. Wie sieht es aus? Wie heißt es (Wurmsohn, Teufelskind usw.)? Wird so ein Kind getötet? Wenn nicht, dann wohin mit ihm? Wird für es ein Hemd genäht?

Welche Bedeutung wird “dem Hemd” (“der Haube”), in der das Kind geboren wurde, zugeschrieben? Muss es sie ständig oder in gewissen Fällen tragen, wozu?

Ist eine Empfängnis durch Donner- bzw. Gewitterwasser (ein Hageltropfen) möglich?

Was sind die Schutz- bzw. Entzauberungsmittel gegen eine Schlange? Sind es Mohn, Distel, Wermut, andere Kräuter, Heu, Flachs – bzw. Hanfsamen? Wie werden sie verwendet?

Versuchen Sie ein Märchen aufzuschreiben: ein Mädchen heiratet wider seinen Willen eine Ringelnatter (männlich) oder einen Krebs, bringt Kinder zur Welt, lebt glücklich, aber seine Verwandten vernichten den Nattergatten.

10

Ein Verhältnis zwischen einem Mann und einer Schlange (Nixe, Wasserfrau usw.) — Umfrage laut Punkt 9.

Versuchen Sie ein Märchen aufzuschreiben: Ein Mann begegnet einer Schlange, die sich in ein Mädchen verwandelt; der Mann heiratet sie unter der Bedingung, dass er sie nie eine Schlange (Ekelfrau) nenne; zusammen mit der Frau kommt der Reichtum ins Haus; eines Tages hat der Mann seine Frau beschimpft – sie hat sich sofort in eine Schlange verwandelt und war verschwunden.

Versuchen Sie auszufragen, ob man Märchen (Geschichten, Lieder) folgenden Inhalts kennt, wenn es der Fall ist, schreiben Sie sie auf:

a)    Ein Jüngling rettet ein Mädchen, das von einem Wurm gefressen werden muss.

b)   Ein Jüngling schmiedet die Schlange in ein Pferd um.

c)    Ein Jüngling spannt den Wurm vor den Hakenpflug und pflügt den Acker.

d)   Ein Jüngling vernichtet den Wurm und befreit die von ihm entführte Mutter (Schwestern).

e)    Die Schlange lädt einen Jüngling ein sie zu “lieben”.

f)    Der Jüngling rettet die Schlange aus dem Feuer – sie schlingt sich um seinen Hals.

g)   Die Schlange bringt einem Jüngling Gräser (Blätter), mit deren Hilfe er seine Frau wiederbelebt”[3].

Der Sinn dieser Anweisung ist es, slawische, oft gemeinsam für unsere urslawisch-baltisch-germanischen Vorväter ethnokulturelle Wurzeln zu entdecken, hier am Beispiel eines verbreiteten Sujets, das zwar auch in anderen Teilen des Erdballs bekannt ist, dort aber mit anderen Attributen zu versehen ist. Der Fragenkatalog könnte die heutigen Sammler dazu anregen um danach zu forschen, ob einige slawische Elemente dieses Sujets in liechtensteinischen Wurmsagen und anderen Volksdichtungen angetroffen worden sind.

Das tiefe Heimatgefühl, das auch für die junge Generation in Liechtenstein als ein Charakteristikum des Nationalcharakters typisch ist, hat mich nicht nur in literarischen Texten, sondern auch in der sorgfältigen Pflege kulturgeschichtlichen Erbes stark beeindruckt. Es würde hoch und pathetisch für einen Russen klingen, wenn z. B. jemand heutzutage ein Gedicht mit “Mein Russland” betitelte. “Mein Land” von Iren Nigg empfindet man dagegen als etwas ganz Intimes. Seelenwarm und liebevoll sind die richtigen Worte für das ursprüngliche Empfinden einer untrennbaren Verbindung mit dem kleinen Mutter- bzw. Vaterland Liechtenstein, das sich auf eine überraschende Weise  mit dem weiten Russland trifft. “Der Reiher ist gekommen! Der Reiher, der immer nur in Russland war – in Ruggell und Balzers bin ich ihm begegnet <…> Das bedeutet, dass auch der Kranich kommen muss <…>”[4].

Als ein symbolischer Kranich sei hier ein gleichnamiges Gedicht des russischen Dichters Nikolai Rubcov (1936–1971) angeführt, welcher in Liechtenstein zwar unbekannt, doch auf eine eigene Art dort präsent ist:

Меж болотных стволов красовался восток огнеликий…

Вот наступит октябрь — и покажутся вдруг журавли!

И разбудят меня, позовут журавлиные крики

Над моим чердаком, над болотом, забытым вдали…

Широко по Руси предназначенный срок увяданья

Возвещают они, как сказание древних страниц.

Всё, что есть на душе, до конца выражает рыданье

И высокий полёт этих гордых прославленных птиц.

Широко на Руси машут птицам согласные руки.

И забытость болот, и утраты знобящих полей —

Это выразят всё, как сказанье, небесные звуки,

Далеко разгласит улетающий плач журавлей…

Вот летят, вот летят… Отворите скорее ворота!

Выходите скорей, чтоб взглянуть на любимцев своих!

Вот замолкли — и вновь сиротеет душа и природа

Оттого, что — молчи! — так никто уж не выразит их…[5]

Während meines kurzen Aufenthalts in Liechtenstein vor ein paar Jahren habe ich eine deutsche Ausgabe der ausgewählten Gedichte von Rubcov der Landesbibliothek geschenkt[6]. Das oben angeführte Gedicht ist darin nicht erhalten und es ist auch noch nicht ins Deutsche übertragen worden. Vielleicht warten «Die Kraniche» von Rubcov gerade auf einen Nachdichter aus Liechtenstein? Doch es gibt etwas anderes dafür. Geplant ist ein Kinderbuch mit Gedichten von Rubcov in deutscher Sprache. Leider hat es sich erwiesen, dass Kindergedichte schwer zu übersetzten sind. Deswegen sind erst wenige in Arbeit. Aber eine Illustration zu dem geplanten Bändchen, und zwar zum Gedicht “Die Ziege”, ist bereits fertig gestellt. Die Künstlerin lebt in Liechtenstein und heißt Helena Becker.

Die Ziege

In Richtung Obstgarten lief die Ziege

Dort standen Leute am Lattenzaun

– Willst du etwa uns`re Äpfel klau`n?

Nun sah man die Ziege zu Boden schau`n

Doch kaum machten die Leute die Biege

Lief sie wieder zum Garten hin, die Ziege[7]

P.S. Selbstverständlich sei dieser Text, in der gegenwärtigen Form sehr anekdotisch und sprunghaft und zu wenig analytisch und straff, nur als eine Idee zu betrachten, deren Verwirklichung in Form einer Diskussion der gegenseitigen Einflüsse oder zumindest Ähnlichkeiten der beiden Nationalliteraturen aufschlussreich wäre.

 

Prof. Dr. habil Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie.


[1] Sprenger S. Beregneter Acker. Steine. Zur Literatur in Liechtenstein. 2001. Zit. nach dem Manuskript.

[2] Unter anderem: «Литература    Лихтенштейна: к динамике немецкоязычного литературного пространства». Пятая международная научная конференция «Язык, культура, общество» РАН 24-27 сентября 2009; 7 съезд российских германистов (Тамбов, ноябрь 2009) «Национальная литературная парадигма: casus Лихтенштейн»;  «Проблема эволюции государственного самосознания в литературе Лихтенштейна: жанровые приоритеты». XXII Пуришевские чтения. МПГУ, Москва. 7–9 апреля  2010; Зарубежная литература XIX века. Актуальные проблемы изучения. XXIII Пуришевские чтения. Международная конференция 6-8 апреля 2011г. «Власть мифа или мифология власти: предание о светлом камне»; Международная конференция РОПРЯЛ «Язык, литература, культура на рубеже XX-XXI веков». – Н.Новгород, ННГУ . 13-15 октября 2011. «В контексте глобализации: литература Лихтенштейна»; Международная научная конференция «Стержневые страны — коронованные страны — пограничные страны» «KERNLÄNDER – KRONLÄNDER – GRENZLÄNDER». Институт литературы им. Т. Шевченко Украинская Национальная Академия наук, Свободный Берлинский университет 30 –2 октября 2011. «Die Literatur von Liechtenstein im deutschsprachigen Kulturraum»;  Федеральное государственное бюджетное учреждение Институт мировой литературы им. А.М. Горького РАН, НОУ ВПО Московский финансово-промышленный университет «Синергия», Карачаево-Черкесский филиал, Министерство Карачаево-Черкесской республики по делам национальностей, массовым коммуникациям и печати, Общественная палата Карачаево-Черкесской республики. ЭТОС И ЭТНОС В ДИНАМИКЕ КУЛЬТУРНЫХ ПРОЦЕССОВ. (г. Черкесск, 17-18 октября 2013 года). Доклад: «”Предание о светлом камне“: к проблеме создания национально-идеологических мифов (на примере княжества Лихтенштейн)»

[3] Смирнов Ю.И.  Змей // Русская народная культура и ее этнические истоки. М., 1999. С. 125–129.

[4] Nigg I. Mein Land. Triesen, 2002. S. 7. Ich bedanke mich herzlich für diese Ausgabe  bei Helen Bargetze, die mir das Buch geschenkt hat.

[5] Zwischen den feuchtgen Stämmen im Moor prangte der feurrote Osten …/ Wenn der Oktober kommt — sind da plötzlich die Kraniche da! / Und ihre Stimmen über meiner Dachkammer, über dem verschollenen Sumpf / werden mich aufwecken…/ Weit in Russland verkünden sie, als ob einer alten Sage abgehört, die dem Lande bestimmte Frist des Welkens. / Und alles, was die Seele birgt, wird ausgeweint / von diesen  hoch fliegenden stolzen Vögeln. / Von weither winken ihnen unzählige Hände entgegen. /Und verlorene Sümpfe, und verlustfröstelnd hadernde Felder / — finden Trost in den sagenhaft himmlischen Klängen, / im fernhin  fliegenden Weinen der Kraniche… / Seht, sie fliegen, nun macht ihnen das Tor auf! / Und begrüßt eure Lieblinge! / Sie verstummen, und die Seele und die Natur sind sofort verwaist. / Denn niemand ist mehr imstande sie auszudrücken… (Рубцов Н. Журавли // Рубцов Н. В горнице моей светло… Стихотворения. М., 2007. С. 19).

[6] Rubcov N. Komm, Erde. Schweinfurt, 2004.

[7] Ins Deutsche übertragen von Stan Lafleur.