Ballgewohnheit

 

Die als Toppspiel angekündigte Fußballbegegnung hatte an diesem Donnerstag viele Menschen ins Provinzstadion gelockt, es ging immerhin um eine Meisterschaft oder einen Pokal, es ging letztlich auch um viel Geld und den Einzug in einen weiteren Pokalwettbewerb, der dann sogar im Radio und Fernsehen gesendet würde. Also längten sich die Schlangen vor der Kassenzone. Man wollte schließlich noch vor Anpfiff im Stadion sein. Provinz hin oder her. Ungeduldig wartend standen also die letzten noch dort, während drinnen schon die Namen der Spieler verlesen wurden. Spannung. Viel mehr noch Anspannung und Nerven. Dann kam der Mittvierziger endlich dran, war mit seiner Frau, seiner Tochter und einem Neffen angereist, wollte den Torwart, dessen Mannschaft, unter- stützen. Seine Tochter, blonde studierende Spielerfrau (so nennt man übrigens auch die Freundinnen der Fußballspieler in Fachkreisen, habe ich mir sagen lassen), der Neffe als einzig echter Fußballfan. Gleichberechtigung oder aktuelle Zeitläufigkeit ist im Provinzfußball noch nicht angekommen, grundsätzlich gilt, dass Fußballspieler immer Heteros sind, geht ja auch nicht anders, („Wo würden wir denn da hin kommen.“) und Frauen sind keine Fans, sondern primär Frauen, klar.

„Vier Karten bitte.“ Der Mann in der Kassenkabine schaut heraus, taxiert die Gruppe. Hat wohl jeder schon erlebt, dass je- mand völlig Unbedeutendes plötzlich durch solch eine Kassen- oder Wärterfunktion, auch gerne als Uniformierte, als Wach- dienstler auf Festivitäten, eine ungeahnte und vor allem von anderen ungewollte Macht erhalten, sich wie Hagestolze um die eigene Achse drehen und plötzlich Manieren an den Tag legen, die eigentlich nur peinlich sind. Auf diesem Prinzip der Machtspendung an einfaches Volk mit Hilfe einer Uniform oder aber Schlüsselfunktion im wahrsten Sinne des Wortes haben es die Diktaturen immer geschafft, sich länger zu halten, als es wirtschaftlich und ethisch vertretbar war.

„Vier Karten bitte.“ Der wartende Mann bleibt fordernd freundlich. Er verachtet Menschen grundsätzlich, die sich auf zufällig zugefallene Macht ohne Eigenleistung etwas einbilden. Der Kassierer lehnt sich zurück, trocken: „Der Kleine geht so rein, ansonsten ein Erwachsener, zwei Frauen. Macht einmal 7, zweimal 5 Euro, siebzehn dann.“

 

***

Die Angst perfekter Schwiegersöhne, von Herrn Nipp, Edition Das Labor 2011

Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. – Ein Sammlerstück ist die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421