Gleichnis von den Gleichnissen

 

Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: »Gehe hinüber«, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.

Darauf sagte einer: »Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.«

Ein anderer sagte: »Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.« Der erste sagte: »Du hast gewonnen.«

Der zweite sagte: »Aber leider nur im Gleichnis.«

Der erste sagte: »Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.«

 

 

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Kafka schrieb den Text ohne Titel. Max Brod trifft mit seinem Titel zwar den Kern, aber „Gleichnis von den Gleichnissen“ träfe noch genauer die gewollte Abundanz und Tautologie.

Der Text ist ein Meta-Gleichnis mit der Behauptung: Alle Gleichnisse sagen, dass das Unfassbare (die Wirklichkeit) unfassbar ist und daher auch keine praktische Bedeutung haben können.

Das gilt auch für Kafkas Meta-Gleichnis selbst, wie überhaupt für alle Literatur. Die dialogisch diskutierte Hoffnung, dass die Erkenntnis dieser Unfassbarkeit befreit, wird enttäuscht. Denn das Gewinnen in der Wirklichkeit ist kein Gewinn, wenn man im Gleichnis (in der Deutung der Wirklichkeit) verliert. Anders gesagt: Die Einsicht in die Unfassbarkeit der Wirklichkeit kann nicht befreien.

Das „Aber“ im letzten Satz des Erzählers vor dem Gespräch konstruiert einen Gegensatz zwischen Wirklichkeit (Leben) und Deutung (Handeln). Der Dialog zeigt die tautologische Einheit von Wirklichkeit und Deutung.

Und die ebenfalls nur konstruierte Hoffnung (werdet selbst zum Gleichnis!) wird durch die folgende Antwort völlig entwertet: Wie kann das Gleichnis eines Gleichnisses wirklich werden? So steckt die Wirklichkeit in einer unendlichen Schachtelung von Gleichnissen – oder was sind Gleichnisse in einer unendlichen Schachtelung von Wirklichkeiten? Das „Drüben“ ist genauso unfassbar wie die alltägliche Wirklichkeit. Das „Drüben“ ist mitten unter uns. Auch das Sich-nicht-Wehren gegen die Unfassbarkeit ist kein Gewinn. Das Deuten wiederholt sich in Kafkas Meta-Gleichnis, es dreht sich im Kreis. Die Deutung kommt über das Gedeutete nicht hinaus – die Wirklichkeit erreicht immer nur die Bedeutung, die wir ihr geben. 

Ulrich Bergmann

 

Weiterführend → Bereits zum zehnten Todestag erkannte Walter Benjamin die Bedeutung dieses Autors.