„Mein Blut sei der Straße ein Labsal“

 

Eine schockierende Inszenierung von Selbsterhöhung, Selbsterniedrigung und Selbstbeweinung nennt Nyota Thun die „Tragödie Wladimir Majakowski“ in ihrer Monographie Ich – so groß und so überflüssig über den Futuristen und Revolutionssänger Majakowski. Mit dem Poem „Ich“ hatte er sich im Mai 1913 in einem selbst gestalteten Poesiebändchen (Auflage 300) seinem Publikum präsentiert. Ohne literarischen Erfolg freilich. Erst die „Tragödie“ hinterließ einige nennenswerte Eindrücke. Roman Jakobson, renommierter Literaturwissenschaftler, bezeichnete den Auftritt des skandalumwitterten Wolodja als Szenarium, nachdem er den Film seines Lebens abspult. In ihm gäbe es einen Hauptdarsteller und „einige übrige Darsteller, die unmittelbar während der Handlung angeworben werden“. In der Tat, wer die erste Seite der „Tragödie“ aufschlägt, findet ihn als Hauptdarsteller, während die Nebenrollen in skurrile Männer und fragwürdige Frauen aufgeteilt sind. Und am Ende der zwei Akte? Majakowski im Epilog: „Ihr seid es, die ich hier / beschrieb, / arme Rattenviecher…“, die er gerne ernähren würde, wenn er einen Busen hätte.

Das Jahr 1913, in dem der Zweiakter entstand, war auch in der russischen Literaturszene von Umbrüchen, Skandalen und Mythenbildungen geprägt. Vom italienischen Futurismus mit der Zentralfigur Marinetti beeinflußt, hatte das bereits 1912 verkündete Manifest der russischen Futuristen dem Dichter eine Funktion zugewiesen. Er war es, der die kulturellen Traditionen über den Dampfer der Geschichte werfen wollte, der sein Kunst-Ich stilisierte, sich an dem Schock der braven Bürger ergötzte. Majakowski, wie Burljuk und Krucenych damals noch Futurist, inszenierte in seiner „Tragödie“ nunmehr den Bruch mit der futuristischen Losung, in der das Dichter-Ich zur persona non grata erklärt wurde. Dichtung entfaltete sich jetzt in ihm als Widerspruch zwischen dem selbst-erfundenen Mythos von der Dichter-Vita und der Verbindung von Biographie mit Wortkunst. In der „Tragödie“, heißt es:

Als Dichter
radierte ich aus
die Grenzen von ,und‘ und ,euch‘.
Suchte Schwestern im Leichenschauhaus
küßte solche, die scheckig verseucht.

Zweifellos ist hier der Dichter selbst das Thema seiner Poesie. In ihr entwirft er für sich alle Rollen, ist er selbst real, im Gegensatz zu den symbolgeladenen Gedichten von Aleksandr Blok, bei dem die Menschen Schachfiguren sind. Doch das poetisierte Leben, das Majakowski inszeniert, treibt er nicht bis an den Rand der Selbstzerstörung. Das gelingt ihm erst am Ende der 1920er Jahre.
In den ersten Monaten des Jahres 1914 begann Majakowski mit der Arbeit an dem Poem „Wolke in Hosen“ („Oblako w stanach“), das Aleksander Nitzberg (im Gegensatz zu den bisherigen Nachdichtungen von v. Guenther, Huppert, Toss und Dedecius) in ein „Wölkchen in Hosen“ verwandelt. Mit einer beinahe einleuchtenden Erklärung. Das Russische kenne zwei verschiedene Ausdrücke für ,Wolke‘: tuča und oblako, der zweite bedeute zartes Wölkchen (Obwohl eher die Diminutivform ,oblatschko‘ zutreffend ist).
Doch Majakowski liefert nach Nitzberg in seinem Essay„ Wie macht man Verse“ einen klärenden Beweis. Er, Majakowski, habe einer Nachbarin im Zug von Saratow nach Moskau erklärt, er sei ein Wölkchen, um ihr seine Loyalität zu demonstrieren. Quod demonstrandum est: Im Prolog des Poems donnert der Dichter:

Wollt Ihr,
ich werde vom Fleisch ganz wild sein.
himmlisch wechselnd die Farbnuance,
wollt Ihr,
ich werde tadellos mild sein,
ein Wölkchen in Hosen, statt eines Manns.

Das Poem ist, nach Ansicht des amerikanischen Russisten Brown, „das erste Gedicht, in dem das Leiden des lyrischen Helden die konventionelle urbane Bühnenszenerie transzendiert, hinübergeht in das Universum auf der Suche nach einem Vater und einem Urgrund.“ Es entsteht zwischen dem Sommer 1914 und dem Frühjahr 1915. Sein Inhalt bezieht sich auf eine katastrophale Erfahrung, die in vier Aufschreien (das Poem wurde auch als Tetraptychon bezeichnet!) erzählt wird. Nitzberg charakterisierte sie als „eine triviale Liebesgeschichte mit unglücklichem Ausgang“, die der Dichter zum kompletten Scheitern, „zu einer totalen Ich-Verbrennung hyperbolisiert“.
Der Hauptschuldige in dieser Katastrophe ist ein alttestamentarischer Gott, der das Ich zerstört, die Sprache der Menschen verwirrt, den Traum von der Revolution zerschlägt und schließlich auch die Ursache für das Scheitern der Liebe, die zu Beginn des Poems thematisiert wird. Das lyrische Ich begehe deshalb den Gottesmord und bleibe, so Nitzberg, wie in der Tragödie allein zurück.
Die Anerkennung als Dichter war ihm nach seinen fulminanten Auftritten in Moskau und Petersburg sicher. Ossip Brik steuerte nach der Drucklegung des Poems eine begeisternde Rezension bei, in der er aus der Perspektive des Lesers schrieb:

Wir Gefangene Leprosoriens haben endlich unseren Dichter-Propheten bekommen.

Es war ein Dichter, der sein Publikum endlich wieder mit Brot, und nicht mit scheußlichem Süßgebäck versorgte.
In der Zwischenzeit wissen wir, daß es nicht nur die „prophetischen“ Aussagen waren, die die Bewunderung hervorriefen, sondern eine Reimtechnik, die Nitzberg in seinem Nachwort ausführlich als Stammreim (als klanglicher Kern eines Wortes) bezeichnet. Dieser neue Reim lasse die Wörter in ihrer Totalität miteinander verschmelzen.
Die von Nitzberg in vieler Hinsicht zu Recht kritisierte Übertragung des Majakowskischen Poems durch Huppert gewinnt in der hier vorgelegten Version nunmehr an Dynamik. Sie wird auf Grund der strafferen Rhythmisierung der Verse und der genaueren Semantisierung erreicht. Trotzdem neigt der Übersetzer noch zu einer Stilisierung, die stellenweise komisch wirkt. So heißt es im 4. Aufschrei:

Mein Blut sei der Straße ein Labsal mehr,
Blumen klebt sie dem Staub der Sultane an.
Und die Sonne umhüpft als Salome
die Erde
das Haupt des Iokonaan

Aber solche Konstrukte entstehen immer dann, wenn Nitzberg Endreime bewahren will, und sie auf Kosten der narrativen Klarheit opfert. Doch solche kleineren Mängel können den überzeugenden Gesamteindruck nicht schmälern. Eine gelungene Ausgabe, die auch durch das typographische Design von Urs Engeler markiert wird.

 

 

 

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Wölkchen in Hosen, Gedichte von Wladimir Majakowski. Hg. Urs Engeler

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.