Der Zugbegleiter – über das Schaffen von Freiräumen

 

Man kennt die Situation, sitzt im Zug, mit einem anderen Menschen, den man wirklich mag. Die Unterhaltung plätschert fröhlich vor sich hin, nichts Aufregendes, einfach nur nett. Natürlich hat man sich den größten Platz (Vierersitz) ausgesucht, weil man die Beine ausstrecken kann. Man richtet sich ein, fühlt im Reden ein Behagen heraufsteigen, das die Sicherheit in sich trägt, dass die nächsten zwei Stunden bis zum Heimatbahnhof ganz angenehm verlaufen werden.

Soviel zur Grundsituation.

„Mal machten wir auch Redepausen, schauten aus dem Fenster, ließen uns von der Landschaft inspirieren, wohl wissend, dass unsere Wahrnehmung von Landschaft in einer Zeit ständiger Bewegung nie wieder unverbraucht sein würde. Die Ruhe einer romantischen Friedrich-Idylle steckt uns zwar immer noch im Hinterkopf, aber das hat nichts mit Gegenwart zu tun. Schon damals wohl ein Wunschtraum. Nicht umsonst hat er seine Bilder nicht in der Natur, sondern im Atelier gemalt. Die Seele baumelte uns, ein Zustand, den buddhistische Mönche wohl nur nach Jahren langer Intensivmeditation erreichen können. Wir brauchen dazu nur uns und dahinschießende Landschaftsfragmente.“

Der Vordergrund nicht differenzierbar, lediglich grüne, graue oder braune Streifen, manchmal unterbrochen, wenn eine Straße die Geleise quert. Der Mittelgrund relativ schnell veränderlich, erst der Hintergrund scheint zur Ruhe zu kommen, doch nach wenigen Augenblicken wissen wir auch hier, dass dem nicht so ist. Heute hält es niemand mehr aus, mehr als eine Minute einfach heraus zu schauen. In dieses heimliche Paradies dringt nun ein weiterer Fahrgast ein, lässt uns die Füße einziehen und die Gelassenheit weicht unangenehmer Anspannung. Bevor er uns ansprechen kann, vertiefen wir das Gespräch, Intensivunterhaltung.

Der Mann wird aufdringlich, beugt sich nach vorne und hört zu. Das geht wirklich gar nicht und wird von uns nicht geduldet. Wie abgesprochen (manchmal entstehen die Dinge einfach) fließen jetzt völlig zusammenhanglose Sätze mit ein. Das fordert hohe Konzentration und einen guten Sprechrhythmus, sonst fällt es auf.

„Nun habe ich nur noch eine Stunde zu fahren und bin dann end- lich zu Hause. Amseln ziehen zwitschernd durch das Land.“

„Ich brauche wohl noch eine halbe Stunde länger und muss dann mit dem Bus fahren. Michael Jackson soll ja auch gerne gegessen haben.“

„Nein, am Bahnhof steht mein Auto. Karl Marx ist schon einige Zeit tot.“

„Was fährst du eigentlich für ein Auto? Zwei mal drei macht sechs.“

„Habe einen alten Golf im Internet ersteigert. Die Trikolore hat übrigens drei Farben.“

Man muss diese Strategie nur lange genug weiterführen. Der Mann lehnte sich schon nach kurzer Zeit an, guckte vom Einem zum Anderen, ein Anflug leichter Verwirrung. Spätestens nach drei Minuten stand er kopfschüttelnd auf und wir hatten wieder unseren Freiraum.

 

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Seit 1994 veröffentlich Herr Nipp auf KUNO unerhörte Geschichten mit dem Titel Das Mittelmaß der Welt. In 2011 ist es soweit, sein erstes Buch mit dem Titel Die Angst perfekter Schwiegersöhne erscheint in der Edition Das Labor.

Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. – Ein Sammlerstück ist die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421