Höhenlinien

 

Bernard Herrmanns Oper WUTHERING HEIGHTS hat mich zu Emily Brontë zurückgeführt, deren berühmter Roman gleichen Namens als Vorlage für das Libretto diente. Ich sah vor Jahrzehnten einen sehr guten Film über die Schwestern. Ich lerne die „Sturmhöhen“ jetzt erst kennen, über diese sehr schön komponierte Oper. Die Art, wie die Musik so melodramatisch dahinfließt, erinnert mich an Débussys PELLEAS ET MELISANDE. Auch Herrmann ist noch, wenn auch nur schwach, von Wagner beeinflusst (Instrumentierung und Annäherung an die Idee der ewigen Melodie). Die Filmmusik in Hollywood verdankt überhaupt Wagner einen großen Teil ihrer Wirkung, denke ich. Herrmann gelingt aber mit dieser Oper, soweit ich das heraushöre, eine wunderbare Verschmelzung mehrerer Tendenzen und Stile zu einem ganz eigenen Kosmos:

Er profitiert von seinem Filmmusik-Schaffen und integriert es in die europäische Operntradition. Es gibt sanfte Verismo-Effekte. Arien/Lieder/Nummern sind noch komponiert, aber auch monodischer Gesang. Ich finde, es gelingt Herrmann die Erzeugung einer großartigen Stimmung seelendramatischer Tönung, die von Anfang an unheilvoll erscheint, und obwohl die Musik nie das Tonale verlässt und nur wenig dissonant formuliert ist, entsteht eine verführerische Aura von erotischer Gewalt, Melancholie und Trauer, die ihresgleichen sucht. Zusätzlich schuf Herrmann einige sehr schöne Lieder und Arien, die den prosodischen Fluss der Singstimmen und die orchestralen Kommentare großartig unterbrechen bzw. entlasten. Immer baut die Musik Spannungen auf bis zum Zerreißen. Natürlich passt das zu Hitchcock-Filmen, aber genauso auch zur Oper auf der Bühne, wo die optischen Bilder anders sind. Herrmanns Genialität sehe ich darin, dass er in seiner Oper seinen eigenen ‚Film’ erzeugte, wo die Musik die eigentlichen Bilder in den Ohren des Hörers malt.

Von Arno Schmidt gibt es ein Nachtprogramm über die Brontë-Geschwister, Wuthering Heights ist mehrfach verfilmt, auch von Buñuel, bei dem zur Musik von Tristan und Isolde gestorben wird. Bernard Herrmann verwendet in seiner Filmmusik ungewöhnliche Instrumente wie Serpent, mal nimmt er nur Streicher, mal keine Streicher. Illustriert er mit seiner Musik den Film, verdoppelt er also nur? Adorno/Eisler (Komposition für den Film) kritisieren derlei. In den Filmen schafft Bernard Herrmann erst die Stimmung zu den Bildern, erst mit seiner Musik gewinnen sie ihre Bedeutung. In Journey to the Center of the Earth benutzt er Bläser, Schlagzeug, Orgel, elektronische Orgeln und Serpent. Ohne Streicher erzeugt er da einen Sonnenaufgang ähnlich der Alpensinfonie Richard Strauss’. In Vertigo – Höhenangst, Höhenschwindel – enthält die Musik eine erotische Unterströmung, in einer Liebesszene (fall in love) spielt chromatische Musik à la Tristan. In Hitchcocks Man Who Knew Too Muchsieht man, wie Herrmann in der Royal Albert Hall neun Minuten lang die gesamte Cantata – The Storm Clouds des australischen Komponisten Arthur Benjamin dirigiert – beim Beckenschlag am Ende der Kantate soll ein Diplomat erschossen werden. Die Musik zu Psycho, nur mit Streichern in dissonanter Hochlage, spitze Schreie wie scharfe Messerstiche …

WUTHERING HEIGHTS ist eine wirklich große Oper! Sie verdient es, in voller Länge aufgeführt zu werden. Sie zeigt mir, dass Herrmann die Oper genauso begriffen hat wie den Film. Ein großes Erlebnis für mich! Ja, ich sehe – ich weiß, das ist etwas zu kühn – in Philip Glass’ Oper THE PERFECT AMERICAN eine ähnliche, weiterentwickelte Prosodie der Singstimme, nun allerdings auf dem orchestralen Fundament der minimal music, die eine ähnliche Spannung aufzubauen vermag.

Erstaunlich, dass WUTHERING HEIGHTS nicht im Repertoire der Opernhäuser Europas ist. Die Handlung, eine Schnulze von höchstem Rang, ist grandios operngerecht, und die Musik überbietet das Erzählniveau der Emily Brontë mit musikalischen Mitteln – ein Vergnügen für Hirn und Ohren!

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine essayistischen Alltagsbetrachtungen ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.