Der Garten der Geschwister

 

Es lag eine trügerische Stimmung über diesem Nachmittag, unscharf und überdeutlich zugleich. Die Szenerie kam Gloria unwirklich vor, der verwilderte Garten  mit dem alten Landhaus, dem für die Jahreszeit viel zu mildem Wetter und dem Mädchen, das wie eine verwunschene Prinzessin unermüdlich seine Abfolge von Figuren lief. Gloria hatte keine Lust ihr dabei zusehen, es deprimierte sie. Und doch konnte sie nicht anders, konnte ihre Augen nicht lassen von dem Körper des Mädchens, der träumerisch mit der Choreographie ihres Laufes verschmolz. Sie wusste wie sich das anfühlte. Sie selbst hatte wettkampfmäßig Sport betrieben, nicht das Laufen auf Rollschuhen, das Laufen auf roten Sandbahnen, das Weitspringen in Sandkästen, das Hochspringen über quergesteckte Stangen. Sie hatte einige gute Platzierungen und sogar einige Pokale bei verschiedenen Leichtathletik-Jugendmeisterschaften errungen. Körperliche Bewegung, egal wie anstrengend sie auch gewesen war, hatte sie immer als Befreiung empfunden. Es war ihr immer so vorgekommen, als würde sie eine dunkle, verborgene Kraft aus sich herausarbeiten und in etwas Lichtes, Fassbares hineinarbeiten, Tempo, Weite, Höhe. Selbst die Mühen und Anstrengungen des Trainings hatte sie kaum als Belastung empfunden. Kein Vergleich zu den verbissenen, freudlosen Anstrengungen, die sie später aufgewendet hatte, um ihrem Körper die allersimpelsten Fähigkeiten wieder abzuringen. Gloria seufzte. Das Sitzen und Warten ermüdete sie und gleichzeitig machte es sie nervös. Die dünne Schale guten Willens, hinter der sich ihre Ungeduld verbarg, bekam allmählich Sprünge. Nur die Wärme und das helle Licht der Sonne hielt sie noch zusammen. Sie rückte mit dem Liegestuhl den Lichtinseln nach, die durch den flachen Winkel der Nachmittagswintersonne davonzuschwimmen begannen. 
- Möchtest du Kaffee? 
Das Mädchen stand mit durchgestreckten Beinen in ihren Skaters vor ihr und blickte auf sie hinab. Ihr Gesicht war rosig erhitzt, ihr Körper dampfte Feuchtigkeit und Hitze aus, wie ein feuchter, heißer Stein. Sie hob die Arme und zupfte das Band aus ihrem Haar. Ihre Achseln waren rasiert, nasse Schweißflecken bildeten darunter dunkle Seen auf ihrem T-Shirt. Sie verströmte einen Duft nach reifen, gedünsteten Himbeeren. Wahrscheinlich benutzte sie wie die meisten Mädchen ihres Alters ein nach Früchten riechendes Deodorant. Das Mädchen brauchte eine Dusche, dachte Gloria, aber sie selbst brauchte noch viel dringender Wasser und Seife. Ihr Geruch erinnerte an Himbeeren, die in Essig eingelegt waren. 
- Ja gerne, antwortete Gloria, kann ich dir dabei helfen.
- Wenn du willst.
Gloria erhob sich. Das Mädchen ging voran, an der Tür stützte sie sich gegen den Pfosten, klappte schnalzend die Schnallen ihrer Schuhe auf und zog sie aus. Glorias Glieder waren steif und schwer, das rechte Bein fühlte sich taub an und gab unter der Belastung ihres Gewichtes nach, so dass sie es beim Gehen ein wenig nachzog. Das Mädchen bemerkte ihr Hinken.
 – Was ist mit deinem Bein?
- Oh, nichts Schlimmes. Eine alte Verletzung.
Das Mädchen nickte verständnisvoll, aber stellte keine weiteren Fragen. Sie ging mit leichten, wippenden Schritten ein Stück durch den dunklen Flur und bog an der ersten Tür rechts in die Küche ab. Gloria folgte ihr. Die Küche war geräumig und düster, trotz der zwei großen Doppelflügelfenster, die in den Garten blickten. Jahrzehntelang hatten Küchendünste auf dem Mobiliar eine glanzlose Patina hinterlassen. Selbst die zwei Spülbecken aus weißem Email wiesen dicke gelbbraune Verfärbungen auf. Spüle und Herd waren eingebaut in einer Zeile aus Unterschränken aus dunklem, abgegriffenem Holz. In der Mitte des Raumes stand ein langer, nussbrauner Tisch. Die Tischplatte war fleckig und klebrig. Unter dem Sammelsurium an benutzten Tellern, Tassen und Essensresten waren schwarze Spuren von Mäusekot verstreut. Gloria fand den Anblick unappetitlich. Es ekelte sie bei dem Gedanken hier Kaffee zu trinken. Sie hoffte nur, dass es wenigstens ein paar saubere Tassen gab. Das Mädchen stand mit dem Rücken zu Gloria, goss Wasser in die Kaffeemaschine und holte einen Papierfilter und eine Packung gemahlenen Kaffee aus dem Schrank. 
- Wenn dich die Unordnung stört, kannst du den Tisch sauber machen, sagte sie ohne sich umzuwenden.
- Nein, sie stört mich nicht, log Gloria.     
Sie dachte nicht im Traum daran, hier aufzuräumen, sie hatte mit diesem Haus nichts zu schaffen.
- Du siehst aber nicht so aus, als ob es dir egal wäre, sagte das Mädchen anzüglich.
- Stimmt, bei mir zu Hause wäre es mir auch nicht egal. Aber hier…
- Hier bist zu Gast und du bist ein höflicher Gast. 
Das Mädchen lächelte breit und machte sich daran zwei Tassen abzuspülen. 
- Aber du brauchst in diesem Haus nicht so förmlich sein. Du kannst ruhig sagen, was du dir denkst.
- Würde das etwas ändern?
- Nein, wahrscheinlich nicht.     
Sie lachte, wischte sich mit dem Handrücken eine feine Haarsträhne aus dem Gesicht und stellte die tropfnassen Tassen auf den Tisch.
- Aber es ist weniger anstrengend, wenn man sich nicht zu verstellen braucht. Nimmst du Milch oder Zucker zum Kaffee?
- Beides bitte.
Gloria ging zum Fenster. Der Garten lag nun in Schatten getaucht, wie unter Wasser. Sie konnte Richard nirgendwo entdecken.
- Ich heiße Clarissa, hörte sie das Mädchen sagen.
- Und du?
Die Stimme des Mädchens erschien ihr mit einem Mal weich und vertraulich. Gloria drehte sich um.
- Gloria.
Sie sahen einander an, überrascht und beinahe ein wenig verlegen, als wäre durch die Preisgabe ihres Namens jene Distanz, die ohne Wohlwollen und ohne Abneigung auskam, verrückt. Das Mädchen schüttelte als erste die Befangenheit dieses Momentes ab.
- Da ist dein Kaffee, sagte sie.
Auf dem Tisch standen die Tassen, in die sie den Kaffee eingeschenkt hatte und eine angebrochene Milchpackung. Die Schale mit Zucker stellte sie dazu. Auch Clarissa hatte darauf verzichtet, den Tisch sauber zu machen, hatte lediglich die Unordnung ein wenig zur Seite geschoben. Gloria setzte sich zu ihr. Der Kaffee schmeckte gut. Er war stark und aromatisch. Sie mochte Kaffee.
- Du bist eine sehr gute Rollschuhläuferin, sagte Gloria anerkennend.
Sie hatte das Bedürfnis etwas Nettes zu sagen, als Gegenleistung für den Kaffee. Schließlich konnte Clarissa nichts dafür, dass Gloria hier festsaß und dass ein Aufruhr in ihrem Kopf tobte. Das war Richards Schuld, einzig und allein seine Schuld. Clarissa war ein hübsches Mädchen mit einem trainierten Körper und einer, für ihr Alter, sehr weiblichen Figur, schmale Taille, große, feste Brüste, muskulöse Beine. Ihr Gesicht war kindlich rund und ihre Augen, die ein wenig hervortraten, hatten eine Farbe, die Gloria nicht genau einordnen konnte, so ein irisierendes Flirren von Grün zwischen Tönen von hellem Braun und klarem Grau. Vielleicht war sie sogar ein nettes Mädchen. Gloria hatte nicht vor, es herauszufinden. Aber da es ohnehin nicht von Bedeutung war, war sie gewillt, fürs erste so zu tun als ob. 
- Ich trainiere für die nächste Landesmeisterschaft.
- So etwas ähnliches habe ich mir gedacht. 
Erstaunt hob Clarissa den Blick.
- Kennst du dich da aus?
- Oh nein. Nicht im Rollschuhlaufen. Ich wusste nicht einmal, dass es ein zugelassener Bewerb ist.
- Skaten, verbesserte Clarissa, das heißt Skaten.
- Meinetwegen Skaten, egal wie man es auch nennt,  ich sehe, wenn jemand etwas gut macht.
- Na ja. Da kann man sich auch täuschen.
Clarissa lächelte ein wenig herablassend und unbeeindruckt von dem Lob. 
- Ich weiß wovon ich spreche. Ich habe selbst einmal Sport betrieben, entgegnete Gloria.
 – Wirklich! 
Der Zweifel stand Clarissa ins Gesicht geschrieben. 
- Für richtiges Training fehlen hier die Voraussetzungen. Was du gesehen hast ist nichts als eine kleine Übung für die Beweglichkeit, die Konzentration, um die Form und das Gefühl nicht zu verlieren. Für mehr taugt es nicht.
- Bedeutet dir der Sport sehr viel?
Clarissa zuckte mit den Schulter, nippte an der Tasse.
- Nein, nicht so sehr. Es ist eine Art von Unterhaltung, eine Beschäftigung. Hier gibt es sonst ja nicht viel anderes zu tun. 
Sie trank ihren Kaffee aus und erhob sich, stellte die Tasse in die Spüle.
- Mir ist kalt. Ich zieh mir etwas anderes an.
Gloria sah auf ihre Armbanduhr. Es war vier Uhr.
- Wann glaubst du wird dein Bruder kommen? 
- War er noch nicht da? 
- Nein.
- Ich dachte, er wäre in der Zwischenzeit mit deinem Mann losgegangen, das Benzin zu besorgen.
- Er war noch nicht da. Wir warten immer noch.
- Und wo ist dann dein Mann?
- Ich weiß es nicht. Irgendwo im Garten, nehme ich an.
Clarissa runzelte argwöhnisch die Stirn. Gloria konnte nicht deuten, ob es sie störte, dass Richard sich auf eigene Faust, ohne zu fragen auf fremdem Besitz herumtrieb, oder ob sie sich fragte wo der Junge blieb. 
- Ich werde einmal nach oben gehen und nach meinem Bruder sehen.

 

***

Auszug aus dem Roman Garten der Geschwister. Roman von Patricia Brooks, Molden 2006

Weiterführend

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.