die Entscheidung, wohin ich die Schritte lenken will

 

Wenn ich aus dem Hause trete, um spazieren zu gehen, und die Entscheidung, wohin ich die Schritte lenken will, meinem inneren Trieb überlasse, so finde ich – es mag absonderlich und grillenhaft erscheinen –, daß ich schließlich unfehlbar gegen Südwest aufbreche, nach einem Wald oder einer Wiese, nach einer verlassenen Halde oder einem Hügel, die in dieser Richtung liegen. Meine Nadel schwankt wohl eine Weile hin und her, weicht auch um etliche Grade ab und zeigt nicht immer rein nach Südwesten, aber zwischen West und Südsüdwest setzt sie sich sicherlich fest. Dortzu liegt für mich die Zukunft, dort erscheint mir die Erde weniger erschöpft und noch reicher. Nach Osten gehe ich nur gezwungen, nach Westen freiwillig.

Ich würde diese Tatsache nicht weiter betonen, wenn ich nicht glaubte, daß eine ähnliche Tendenz bei meinen Landsleuten vorherrscht. Meine Wanderung führt mich nach Oregon, nicht nach Europa, und denselben Weg wandert die Nation; ja, es läßt sich sogar behaupten, daß die Menschheit von Osten nach Westen fortschreitet. – Ostwärts gehen wir den zurückgelegten Weg der Rasse nach, um uns die Geschichte zu vergegenwärtigen und um die Werke der Kunst und Literatur zu studieren; westwärts gehen wir gleichsam in die Zukunft hinein, belebt von Unternehmungsgeist und Abenteuerlust.

 

 

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Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Eine Einführung in Leben und Werk von Gerhard Gutherz findet sich hier. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.