Rudnikows erste Reise

 

 Holger Benkel zugedacht

Rudnikow, der Unerhörte, machte sich auf den weiten Weg von Leninogorsk im Altai über Semipalatinsk nach Peking. Nachts hatte er immer wieder von chinesischen Puppen mit so hellen Stimmen geträumt, dass er dachte, es scheine hinter dieser höchsten Künstlichkeit die wahre Natur des Menschen reiner auf als in dem blanken Realismus der abendländischen Oper. Die abendländische Oper will das Leben erlösen und strebt deswegen zum Kunsthimmel empor, dachte Rudnikow, als der Zug gerade in Semipalatinsk hielt, die Pekingoper steigt vom Himmel herab und erlöst die Kunst vom Leben. Und so kam es. In Peking ging Rudnikow ein einziges Mal in die Oper und erlebte seinen Traum, er wusste, sein altes Leben war unwiderruflich vorbei, ein neues Leben begann.

Auf dem Rückweg lobte er die Pekingoper in den höchsten Tönen, und alle, die ihn im Zug singen sahen, freuten sich mit ihm über das Leben, wie schön es sein kann wegen der Kunst. Nur die Zöllner der öffentlichen Moral an der einst sowjetischen Grenze sahen das anders. Sie schnitten Rudnikow, der nichts sagte, weil seine Seele sang, die Kehle ab und ließen ihn dann schweigend weiterreisen. Als aber der Zug wieder in Semipalatinsk hielt, da geschah das Wunder, das bei genauerer Betrachtung gar kein Wunder war. Rudnikow stand auf, holte tief Luft, und der starke helle Ton schnitt aus allen Fenstern die Scheiben, wuchs in die Kälte des eisernen Bahnhofs von Semipalatinsk, von Semipalatinsk bis Peking und von Peking bis Leninogorsk.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.